Perry Anderson: Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa. Berlin 2009. 184 S.

Nach jahrzehntelangem kemalistischem »Korsett« sei nun »die Mehrheit an der Peripherie Anatoliens aufgebrochen«, schreibt der langjährige FAZ-Korrespondent Rainer Hermann und sieht in der Türkei einen erbitterten »Kulturkampf« toben. Zeit-Redakteur Michael Thumann schwärmt von der revoltierenden »anatolischen Versuchung«. Von den zahlreichen, seit Amtsantritt der regierenden AKP erschienenen Publikationen über die Auseinandersetzungen zwischen den ›alten‹ und ›neuen‹ Eliten, häufig auf kulturelle Identitäten verkürzt oder mit dichotomisierenden Klischees belegt (›zwischen Orient und Okzident‹; ›zwischen Tradition und Moderne‹; ›zwischen Rückbesinnung und Aufbruch‹ etc.), hebt sich die vorliegende Studie ab.

Sie legt die Notwendigkeit einer »strukturellen Interpretation« (60) dar, um die aktuellen Entwicklungen des auf Distanz gehaltenen EU-Beitrittskandidaten zu verstehen. Verf. analysiert mit hegemonietheoretischem Instrumentarium den Aufstieg einer sich als anatolisch verstehenden, explizit nicht-kemalistischen Bourgeoisie, ihre ebenso erfolgreiche wie prekäre Herrschaft in Gestalt der AKP-Regierung und die sie tragenden zivilgesellschaftlichen Kräfte, und verortet die damit einhergehenden Umbrüche in einem vielschichtigen historischen Kontext.
Im Zentrum steht die Frage, welche Kräfte in Staat und Gesellschaft seit Gründung der Republik die großen Erzählungen der türkischen Nation im Sinne einer »ideologischen Hegemonie« (83) von Dauer prägten und vorantrieben. Ausgehend von der Radikalität der kemalistischen Revolution betont Verf., dass dem der Bevölkerung oktroyierten Projekt Atatürks entsprechende Klassenkämpfe weder vorausgegangen sind noch anschließend sich entfalten konnten. Die fehlende soziale Basis der Republikgründung machte einen »ideologischen Appell« (19) an die zu modernen türkischen Staatsbürgern umerzogene Bevölkerung Anatoliens notwendig: die überhöhte türkische Nation, republikanisch-säkular verfasst und zugleich tief verschränkt mit dem sunnitischen Islam. Doch sei der türkische Säkularismus »auch in den Augenblicken fieberhaftester Erhitzung niemals wahrhaft säkular« gewesen: »Das rührt einerseits daher, dass der Kemalismus die Religion weniger vom Staat getrennt hat als sie ihm unterzuordnen« (40). Religion war zu einer »unausgesprochenen Definition des Nationalen« (ebd.) geworden. Daher bezeichnet Verf. den staatlich kontrollierten Islam treffend als »jene heimliche Identität« der türkischen Nation, »übriggeblieben, nachdem jegliche positive Bestimmung im Namen der Homogenität eliminiert worden war« (43). Paradoxerweise ist der türkische Säkularismus somit immer von dem abhängig geblieben, was er offiziell unterdrückt hat.
Die Unterdrückungsgeschichte der türkischen Republik hatte neben der religiösen auch eine ethnische Dimension: entgegen landläufiger Darstellungen ist bereits das osmanische Reich kein auf friedliche Koexistenz ausgerichtetes multiethnisches Gemeinwesen gewesen, sondern ein auf kriegerische Eroberung, starke Hierarchien und Ungleichheiten gegründeter Staat. Die Kontinuitätslinien, die nach den brutalen ethnischen Säuberungen Anatoliens im Vorfeld des Unabhängigkeitskrieges vom kemalistischen Gründungsmythos bis zum moderaten Islamismus der AKP wirkmächtig sind, fasst Anderson unter dem Begriff des »integralen Nationalismus« (99/114) zusammen, dem Herrschaftsprojekt für ein homogen türkisch-muslimisches Anatolien. Inwiefern dieser Nationalismus von Beginn an auf der »Komplizenschaft des Schweigens zwischen Herrschern und Beherrschten« (44) beruhte, zeigt Verf. exemplarisch an der in die offizielle Geschichte der türkischen Republik tief eingeschriebenen »Kasuistik der Genozidleugnung« (104). Lohnend sind hier auch der historische Exkurs zum Exil der (für den armenischen Völkermord verantwortlichen) Jungtürken in Deutschland sowie die Schilderungen der Rolle der Türkei im Zweiten Weltkrieg, in denen Verf. die offizielle türkische Geschichtsschreibung mit interessanten Dokumenten z.B. über die gut gepfl egten Kontakte der jungen Republik zur deutschen NS-Elite konfrontiert.
Andersons spannende Zeitreise durch die Türkei reicht von den Anfängen des Jahrhunderts bis ins Jahr 2008. Mit kritischem Blick auf die europäische Vorstellung von einem türkischen Partner, der in eine als multikulturell vorgestellte Union aufgenommen wird, analysiert er die Gründe für den mobilisierenden Erfolg dieser Erzählung auf türkischer Seite: der ökonomisch, juristisch und politisch vorangetriebene EU-Beitritt bildet den »ideologischen Zement« (84) der AKP, die »magische Formel« (84) ihrer errungenen gesellschaftlichen Hegemonie. Ökonomisch wurde die seit dem Militärputsch 1980 initiierte Stoßrichtung (zu deren vorangegangenem Paradigmenwechsel vom Staatskapitalismus hin zum Privatisierungsprimus man sich eine vertiefende Analyse gewünscht hätte) konsequent fortgeführt: die AKP übernahm die neoliberale Strategie »mit dem Eifer des Konvertiten. Budgetdisziplin wurde zum Zauberwort, Privatisierung zum heiligen Gral« (85). Folgerichtig sucht Verf. nach den Gründen für die Attraktivität des »zunehmend trockeneren Brots des Neoliberalismus« (87), fragt, was den Erfolg der neuen Eliten ausmacht und wie es ihnen gelingt, auch und gerade die Interessen des ländlichen Mittelstandes sowie der ›Unterschichten‹ an der städtischen Peripherie aufzunehmen und in das Projekt eines weltmarktorientierten Neoliberalismus mit islamischem Antlitz einzubinden. Die AKP steht als religiöse Massenpartei in der islamischen Tradition der öffentlich inszenierten Mildtätigkeit, die sich in gut organisierten »Großzügigkeiten auf Gemeindeebene« (86) zeigt. Ihre demonstrative EU-Orientierung weiß sie mit der gleichzeitigen Rehabilitierung islamisch-konservativer Identität als volksnaher Lebensweise zu verknüpfen. Premier Erdoğan, »Figur mit starkem heimischem Charisma« (88) und »Trumpfkarte der Partei« (89), verkörpert in der EU-Frage zugleich die Hoffnung auf bessere Arbeitsplätze. Für die linken Kräfte in der Türkei ist die EU indes »gleichbedeutend mit der   Hoffnung auf ein Entrinnen aus dem Doppelkultus Kemals und des Korans« (115).

Der Zypern-Artikel schildert eindringlich die polarisierenden Ereignisse auf der ehemaligen britischen Kolonie, lange Zeit als attraktiver Militärstützpunkt im Mittelmeer umkämpftes Territorium und Schauplatz postkolonialer Besitzansprüche. Ginge es hierbei nicht um eine das Lebens- und Überlebensschicksal der zypriotischen Bevölkerung so grundlegend betreffende Geschichte, ließe sich dieser Essay als packendes Lehrstück in imperialer Herrschaftsdiplomatie oder als nervenaufreibender Polit-Thriller verschlingen. – Der mit reichlich Wortwitz und bissiger Ironie angereicherte Stil aller drei Aufsätze ist der Analyse dabei keineswegs abträglich – im Gegenteil. Einziger formaler Wermutstropfen: an manchen Stellen kippt das Essayistische in einen Erzählstil um, der auf den Spuren der »großen Männer« der Geschichtsschreibung einen befremdlich staatsmännischen Blick einnimmt. Wenn bspw. der Erzbischof und spätere Präsident Zyperns Makarios beinahe ehrfürchtig als »charismatischer Führer von großer Würde« (135) beschrieben wird oder über mehrere Seiten vom einsamen Alkoholismus Atatürks die Rede ist, wirkt die Darstellung weniger differenziert als die kontextuell eingebetteten Passagen über den Personenkult des »magnetisch attraktiven Führers« (89) der AKP. – Die Literaturverweise bestechen (neben dem Verweis auf bekannte Klassiker) durch ihre sorgfältige Auswahl und die weiterführenden Quellenangaben. Für die kommentierte Schilderung der innertürkischen und internationalen Debatte um den Völkermord an den Armeniern und die Minderheitenfrage allgemein vergleicht der Verfasser bspw. die inhaltlich voneinander abweichenden Auflagen ein und desselben Buches, um die subtilen Verschiebungen im akademischen Diskurs zu verdeutlichen (103). Diese Präzisionsfreude steht in eigentümlichem Gegensatz zu den fehlenden Quellenangaben in manch anderen
Passagen.
Anne Steckner

Quelle: Das Argument, 51. Jahrgang, 2009, Heft 4, S. 998-999