Ilker Ataç, Bülent Küçük, Ulaþ Sener(Hg.): Perspektiven auf die Türkei. Ökonomische und gesellschaftliche (Dis)Kontinuitäten im Kontext der Europäisierung. Münster 2008. 363 S.
Thematisch kommt in dieser Sammlung von Aufsätzen politökonomischen Fragen, der Transformation von Staatlichkeit und dem türkischen Nationalismus besonderes Gewicht zu. In ihrer informativen Einleitung gehen die Herausgeber auf Entwicklungen seit den 1980er Jahren bis in die jüngste Zeit ein. Es folgt das Kapitel „Türkische Modernität und Projektionen auf den Westen“. Meltem Ahýska analysiert im Rückgriff auf Walter Benjamin und postkoloniale Theoriebildung den „Okzidentalismus“ als historische Fantasie innerhalb des politischen Gefüges der Türkei.
Ihr zufolge verstellt die im türkischen Modernisierungsdiskurs unhinterfragbare Zielsetzung, an den Westen anzuschließen, den Blick auf gesellschaftliche Probleme und bindet Energien zu deren Lösung.
In historischer Sicht analysiert Tanýl Boras Beitrag den nationalkonservativen iskurs über den Westen und stellt u.a. heraus, wie v.a. nach 1980 aus der islamistischen Bewegung hervorgegangene Deutungen innerhalb des breiteren konservativen Lagers dominant wurden. Ideologische Schnittstellen zum Kemalismus ergäben sich aus dessen „nur rumpfartig“ (52) formuliertem antiimperialistischen Anspruch, der eine mit antiwestlichen Äußerungen zu füllende legitimatorische Lücke hinterlasse.
Mit den türkischen Fantasmen in der EU-Beitrittsdebatte befasst sich Bülent Küçük auf Basis einer Diskursanalyse von Tageszeitungen. Er zeigt, wie sich die Subjektivität des türkischen „Anderen“ (80) in dieser Debatte dialogisch und in einem umfassenden „Okzidentalismus“ im Sinne der Begriffsbildung Ahiskas konstituiert. Im Kapitel „Staat, Ökonomie und Arbeitsverhältnisse“ beschreibt zunächst Pýnar Bedirhanoðlu die Restrukturierung des türkischen Staates im Kontext neoliberaler Globalisierung und nimmt hierbei vordringlich die Stärkung der Exekutive und eine veränderte Sicherheitspolitik in den Blick. Der Staat ziehe sich im Zuge einer „Verwilderung der Alltagspraktiken“ (103) aus der direkten Konfrontation mit den „verlorenen“ Schichten der Gesellschaft zurück (119). Ihre Ausführungen will die Autorin auch im Hinblick auf Konfl ikte und Handlungsfähigkeit der Linken in der Türkei verstanden wissen, da eine verkürzte Staatsanalyse die Entwicklung von Gegenstrategien behindere. Um Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Markt im Kontext des Europäisierungsprozesses der Türkei geht es in Galip L. Yalmans Beitrag. In Abgrenzung von Ansätzen, die den türkischen Staat als „zentrale explanatorische Variable“ (129) und Entwicklungshemmnis begreifen, versteht Yalman die türkische Entwicklung als Beispiel für eine „Transnationalisierung des Formierungsprozesses von Klassen und Staaten“ (127). EU und Bretton-Woods-Institutionen bildeten darin einen „Knotenpunkt der Organisierung des institutionellen Rahmens“ (128).
Özlem Onaran setzt sich mit dem Status der Türkei in der globalen Ökonomie auseinander und stellt fest, dass Profi tsteigerungen und Weltmarktintegration seit 1980 weniger durch Investition und technologischem Fortschritt als durch intensivere Nutzung der „in der Planwirtschaftsära in den 1960er und 1970er Jahren aufgebauten Produktionskapazitäten“ (159) erzielt wurden. Die Krisen von 1994 und 2001 seien durch „Umverteilungsschocks“ (146) auf Kosten der Lohnabhängigen bewältigt worden.
Umstrukturierungen und Arbeitsbedingungen im Wachstumssektor Schiffsbau und die darin einkalkulierte Logik tödlicher Unfälle sind Gegenstand von Aslý Odmans Beitrag. In diesem „Laboratorium der Informalität“ (165) beschränken sich arbeitsrechtliche Änderungen oft auf den legalisierenden Nachvollzug des Status quo. Gewerkschaftliche Einfl ussnahme gestalte sich, auch aufgrund der Fragmentierung linker Gruppen, äußerst schwierig.
Der Artikel von Ulaþ Þener refl ektiert die Neoliberalisierung der Geldpolitik in der Türkei seit der Krise von 2001. Unter dem Druck des „IWF-Weltbank-EU-Nexus“ (191) werde Fiskalpolitik auf die Anforderung von „Glaubwürdigkeit“ gegenüber den Finanzmärkten (198) reduziert. Þener zeigt, dass die in der Türkei im Geiste des neoklassischen wirtschaftstheoretischen mainstreams verfolgten politischen Rezepte zur Infl ationssenkung auf Kosten der Reallöhne und fortgesetzter Schuldenakkumulation führten; die Abhängigkeit von internationalen volatilen Kapitalflüssen blieb hingegen unvermindert.
Im Kapitel „Kemalismus, Nationalismus und die kurdische Frage“ untersucht zunächst Esra Özyürek die seit den 1990er Jahren einsetzende Kommerzialisierung und Miniaturisierung von Abbildungen Atatürks. Waren diese früher staatlich verordnete Insignien der Bindung an den republikanischen Modernismus, so gehen inzwischen in Reaktion auf die Popularisierung islamischer Symbolik auch die kemalistisch orientierten Mittelschichten zur Verteidigung ihres Lebensstils und des republikanischen Erbes mittels kommerzieller Strategien über. Der Staatsgründer erscheine in dieser Neuinterpretation oft als stilsicherer Weltmann, an dem sich bewusste KonsumentInnen heute orientieren könnten.
Veränderungen in der Sicht der Modernisierungseliten auf die kurdische Frage behandelt der Text von Mesut Yeðen. Diese reichen von einer Assimilationspolitik, der gemäß KurdInnen als „werdende Türken“ (241) galten, über die völlige Negierung ihrer Existenz bis zu einer in jüngster Zeit von Militärs aufgebrachten Bezeichnung als „Pseudo-Bürger“ (243). In letzterer spiegele sich ein „fundamentaler Bruch in der Wahrnehmung der kurdischen Frage durch den etablierten türkischen Nationalismus“ (244) wider, der nach langem Ringen um eine „mono-linguale politische Gemeinschaft“ zu erkennen genötigt sei, dass KurdInnen in der Türkei eine „zweite Nation“ (247) bildeten. Nazan Üstündag analysiert Zeugnisse vertriebener KurdInnen im Istanbuler Außenbezirk Esenyurt und beschreibt, wie die Präsenz kurdischer Menschen jenseits von Diskursen der Unterentwicklung und regionalen Bedrohung zu einem „Zeichen des Urbanen in der türkischen nationalen Vorstellungswelt wird“ (255).
Thema von Emre Arslans Beitrag ist die ultranationalistische Bewegung. Aufbauend auf eine begriffliche Klärung diskutiert der Autor deren Entwicklung zwischen Verherrlichung eines vorislamischen ethnischen Türkentums und dem Islam als massenwirksamem Bezugsrahmen. Den Abschluss bilden drei aktuelle Auseinandersetzungen mit Geschlechterverhältnissen und feministischer Politik.
Nükhet Sirman analysiert aus anthropologischer Sicht die Familialisierung der Staatsbürgerschaft in der Türkei. Im Unterschied gegenüber der osmanischen Zeit baue die Konstituierung des Nationalen in der Republik kulturell auf das Ideal der Kernfamilie auf und weise Frauen nur eine abgeleitete Form der Staatsbürgerschaft zu; gleichwohl obliege es ihnen, moderne Subjektivität im Nationalstaat erst herauszubilden. Sinn- und strukturgebend für dieses Projekt sei eine „vernünftige und deshalb moderne“ Form von „Liebe“ (315).
Eine differenzierende Sicht auf die Frauenbewegung im Kontext der „neoliberalen Reorganisierung von Staatlichkeit“, die auch ein kulturelles Projekt einschließe, entfaltet Anýl Al-Rebholz (321). Aus der feministischen Subkultur hervorgegangen, bildeten auch heutige Frauen-NGOs eine „Quelle der Legitimität“ (327) von Staatlichkeit. Die Einsicht in diese feministische Beteiligung an governance-Prozessen berge auch das Potential, Veränderungen patriarchaler Herrschaftsformen zu erkennen.
Ausgehend von feministischer Staatstheorie und einer historischen Betrachtung der feministischen Bewegung nimmt Bihter Somersan Formen der Artikulation und Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen innerhalb der „maskulinistischen, rigiden und militärischen politischen Kultur“ (348) der Türkei in den Blick. Sie fragt nach Ansatzpunkten zur Überwindung der Polarisierung von Frauen durch männlich dominierte und codierte diskursive Konstellationen und zum Aufbau „feministischer
Gegenhegemonie“ (357).
Einige Beiträge sind Übersetzungen früherer Publikationen, die anderen wurden eigens für den vorliegenden Band geschrieben. Ziel der Publikation ist es, deutschsprachigen LeserInnen „neuere kritische Ansätze aus den sozialwissenschaftlichen Diskussionen in der Türkei sowie im angelsächsischen Raum“ (15) – gemeint sind Ansätze dort ansässiger türkischstämmiger AutorInnen – zugänglich zu machen. Erfrischend nimmt sich aus, dass insgesamt und gerade bei den „harten“ Themen die Mehrheit der Beiträge von Frauen stammt – sei dies nun Zufall, Widerspiegelung der fachlichen Verteilung oder Absicht der Herausgeber.
Neben im akademischen Bereich bekannten AutorInnen kommen auch NachwuchswissenschaftlerInnen zu Wort. Die Beiträge verbinden anspruchsvolle theoretische Entwürfe mit kenntnis- und detailreichen empirischen und historischen Darstellungen, die sich thematisch und analytisch auf vielfältige Weise ergänzen.
Das Buch vermittelt damit mehr als einen guten Einblick in den state of the art türkeibezogener kritischer Sozialwissenschaft. Allerdings hätte eine fallweise stärker eingreifende Übersetzung bzw. ein konsequenteres Lektorat v.a. der Einleitung dem formulierten Anliegen gut getan. In manchen Fällen erschließt sich die Argumentation durch den Satzbau (Yalman) oder die überreichlich verwendete Fachsprache (Þener) nur mühsam. Der im Untertitel genannte Begriff der „Europäisierung“ ist etwas irreführend, denn die Herausgeber grenzen sich von diesem kritisch ab, und auch die übrigen Aufsätze verbindet eher das analytische Paradigma „neoliberaler Globalisierung“. Jenseits dieser Detailkritik ist den Herausgebern eine äußerst zeitnahe, lesenswerte und zu Diskussionen anregende Publikation gelungen, die ein dringend notwendiges Gegengewicht zum Überhang kulturalistisch oder modernisierungstheoretisch gefärbter Literatur über die Türkei bietet.
Corinna Trogisch