Günther Bell: »Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist«? Klassenbewusstsein und Klassensolidarität in sozial-räumlichen Milieus. Hamburg 2009. 206 S.
Kalk war ein industriedominierter Stadtteil von Köln. Seit den 1970er Jahren sind die prägenden Industriebetriebe geschlossen oder verlagert worden, was mit existenziell einschneidenden Transformationsprozessen wie Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und neuer Armut einher geht. Im Zentrum der Quartiersstudie stehen die »konkreten Lebensverhältnisse und Einstellungen« (11) der Menschen in Kalk. Geben die gemeinsamen Erfahrungen der Stadtteilbewohner Anlass zu kollektivem Handeln?
Inwiefern leisten sie in Anbetracht der Verschlechterung ihrer Lebenslage bei gleichzeitigem Wachstum des Reichtums einiger Weniger Widerstand in Form von politischen Aktionen und politischem Engagement? Und welchen Stellenwert hat der Stadtraum selbst für die Ausbildung von »Klassenmilieus« und »Klassenbewusstsein«?
Die Untersuchung bedient sich qualitativer Methoden aus der empirischen Sozialforschung (Interviews, teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussionen). Die Stichprobe umfasst 42 (z.T. ehemals) Engagierte aus Gewerkschaften, linken Parteien und Organisationen, die Verf. als Vertreter der »arbeitenden Klassen« bzw. »Klasse für sich« begreift und im Anschluss an E.P. Thompson von der »Arbeiterklasse« als »Klasse an sich« unterscheidet (24).
Gegenüber bekannten klassentheoretischen Arbeiten wird die Perspektive durch raumsoziologische Aspekte ergänzt und erweitert. Verf. verortet den Klassenbildungsprozess sozial- und raumhistorisch. Um zu untersuchen, wie sich der Zusammenhang zwischen Klasse und Klassensolidarität lokal gestaltet, dienen Stationen der De-Industrialisierung von Köln-Kalk als Referenzpunkte. Infolge der Schließung und Standortverlagerung bedeutender Großbetriebe artikulierte sich in unterschiedlicher Intensität Widerstand (89ff). In den Einzel- und Gruppeninterviews werden politische Positionen, Einstellungen zum Stadtteil und zur (Nicht-)Solidarität mit anderen Lohnabhängigen und Ortsansässigen erhoben. Allerdings erfolgt die Wiedergabe der Antworten meist ohne Angabe von Alter, Geschlecht und politischem Hintergrund, so dass Rückschlüsse von sozialer Position auf Klassenbewusstsein kaum möglich sind.
Verf. gelingt es, konkrete Erfahrungswelten von Mitgliedern der arbeitenden Klassen in die Debatte zurückzuholen. Den theoretischen Hintergrund bildet eine Integration des neo-marxistischen Ansatzes von Erik Olin Wright und des kulturtheoretischen Zugangs von Pierre Bourdieu. Die theoretische Ausarbeitung bleibt entgegen der Ankündigung einer mehrdimensionalen Sozialstrukturanalyse jedoch undifferenziert, da im Wesentlichen nur die vertikale Ungleichheitsdimension betrachtet wird. – Als theoriestrategisches Problem erweist sich, dass Klassenhandeln v.a. in Form von Mobilisierungen durch Großorganisationen defi niert wird. Die Befragten gehören dem DGB sowie den »Arbeiterparteien« SPD und DIE LINKE an, so dass vorhersehbare Ergebnisse produziert werden: Die schwindende Organisationsdichte dieser Verbände legt die Schlussfolgerung nahe, dass politische und soziale Solidaritätspraktiken tendenziell abnehmen.
Im Fokus der Untersuchung stehen Manifestationen von Klassensolidarität anhand verschiedener Aktionsformen. Bis Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zeigten sie sich in Protesten gegen Arbeitsplatzabbau und Standortverlagerungen der Kalker Industrie (140ff). Im Gedächtnis geblieben sind den Befragten Mobilisierungen gegen Neonazi-Aufmärsche. Zurückhaltend-abweisende Reaktionen von älteren Gewerkschaftsmitgliedern auf diese antifaschistischen Massenaktionen mit auswärtigen Demonstrationsteilnehmenden zeigen, dass weniger klassensolidarisches Handeln, sondern vielmehr ein politisch motivierter Zusammenschluss jenseits der Stadtteilgrenzen zur Teilnahme motivierte.
Die theoretische Diskussion des Geschlechteraspekts bleibt weitgehend dem Stand marxistischer Debatten der 1980er Jahre verhaftet; feministisch-poststrukturalistische Erkenntnisse zur sozialen Konstruiertheit von Identitäten im Zusammenhang mit Klassensolidarität werden nicht diskutiert. Im empirischen Teil der Analyse wird die Geschlechterfrage nicht gestellt, trotz der Überrepräsentation männlicher Akteure. Im synthetisierenden Kapitel resümiert Verf. zwar, dass die arbeitenden Klassen von verschiedenen Grenzlinien gespalten sind (162). Geschlechtsspezifische Unterschiede können aber aufgrund der konzeptionellen Vernachlässigungen nicht ermittelt werden. – Zuvor betonte Unterschiede zwischen migrantischen und deutschen Arbeitenden werden zurückgestellt,
die Migranten dem Kollektiv Arbeiterklasse zugeordnet. Verf. begründet dies damit, dass eine Abspaltung der Migranten dazu beitrage, »die Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen und ihre Durchsetzungskraft zu schmälern« (38). Ein politisches Postulat, nicht eine wissenschaftliche Argumentation verteidigt hier die Klassenkategorie. Aspekte, die v.a. die migrantischen Bevölkerungsgruppen in dem untersuchten Stadtteil betreffen, werden zwar erwähnt (geringe politische Partizipation, rassistische Tendenzen unter den Aktiven der Organisationen), gehen aber weder in das Konzept des Klassenhandelns, noch in die raumsoziologischen Überlegungen ein.
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Günther Bell: »Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist«?
Um Potenzialen solidarischen Handelns in Arbeitermilieus außerhalb der genannten Organisationen nachzuspüren, wäre es wünschenswert, den Blick auch auf alltagspraktische, sozial-kulturelle Zusammenhänge (lokale Vereine, alltägliche Begegnungen und Kommunikationen) zu richten. Es wäre zu prüfen, inwiefern die arbeitenden Menschen in Köln-Kalk die untersuchten Organisationen tatsächlich als eine Repräsentationsplattform ihrer Interessen erfahren. Aufgrund zunehmender Prekarisierung und Minimierung von Lebenschancen sei es aktuell möglich, »dass sich mehr und mehr Menschen kollektiv gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen zur Wehr« setzen (174). Beispiel für einen solchen Kollektiv-Zusammenschluss sei die Gründung der Partei DIE LINKE, die zur Artikulation gemeinsamer Ungerechtigkeitserfahrungen diene. Dieser verengte Blick auf die Partei macht andere Felder,in denen Klassensolidarität praktisch wird, unsichtbar.
Karin Cudak