Michael Janoschka: Konstruktion europäischer Identitäten in räumlich-politischen Konflikten. Stuttgart 2009. 247 S.
Ob es um den EU-Beitritt der Türkei geht, die Etablierung grenzüberschreitender Zusammenarbeit innerhalb und entlang der Ränder eines "Europas der Regionen" oder die Frage nach einer postnationalen, europäischen Bürgerschaft - das Thema Identität, der politische und gesellschaftliche Konstruktionsprozess einer europäischen Identität, die kritische Hinterfragung dieser Prozesse und der Rekurs auf sogenannte europäische Werte durchziehen in den letzten Jahren immer häufiger den öffentlichen, politischen wie auch medialen Diskurs.
In seiner Dissertationsschrift setzt sich Michael Janoschka mit der sozialen Konstruktion und der diskursiven Relevanz europäischer Identität(en) auseinander. Ausgehend von Pierre Bourdieus "Theorie der Praxis" und der bisherigen Rezeption von Bourdieu in der deutschsprachigen Humangeographie trägt Janoschka in der theoretisch-konzeptionellen Grundlegung seiner Arbeit (Kapitel 1 bis 3) zunächst in einer sehr gelungenen Weise zu einer theoretisch-perspektivischen Erweiterung der Geographischen Konfliktforschung bei. Im Anschluss erarbeitet er ein geeignetes methodisches Instrumentarium (Kapitel 4), um sich mit Hilfe verschiedener Forschungsmethoden dann der empirischen Analyse eines sehr paradigmatischen (aber zugleich auch sehr seltsam anmutenden) Fallbeispiels europäischer Identitätskonstruktion von politisch motivierten und kollektiv geteilten (Selbst-)Zuschreibungen in einem vermeintlich lokal und regional begrenzten Raumkonflikt zu widmen. Die von Michael Janoschka durchgeführte Konfliktstudie zur Erschließung, Nutzung und oft zwangsweise und willkürlich erfolgenden Umwidmung von Privatgrundstücken an der spanischen Mittelmeerküste führt zu mehreren interessanten empirischen Ergebnissen (Kapitel 5 und 6). Diese erlauben zum Schluss, mittels eines sehr gelungenen Brückenschlages zwischen Theorie, Methodik und Empirie, in den Kapiteln 6 und 7 empirisch fundierte Rückbezüge auf den theoretisch-konzeptionellen Teil der Dissertation.
Ein wesentliches Merkmal der Dissertation von Janoschka liegt darin, dass sie sich der Konstruktion europäischer Identität(en) ausgehend von dem "alltäglichen Geographie-Machen" von Individuen (Werlen), den alltagsweltlichen Erfahrungen der Bürger und Bewohner Europas, den Aushandlungsprozessen auf dem "grass root level" und den eben dort erfolgenden Zuschreibungsprozessen und Rekursen zuwendet. Sie unterscheidet sich somit von all jenen Arbeiten, die sich dem Konstruktionsprozess europäischer Identitäten ausschließlich aus einer "top-down"-Perspektive annehmen und Europäisierung respektive EU-ropäisierung vornehmlich als einen elitären Prozess verstehen, der heute, vermeintlich, vor allem durch undurchsichtige und übermächtige EU-Institutionen vorangetrieben wird. Michael Janoschka verfolgt, wie er gleich zu Beginn (Kapitel 1) deutlich macht, das Ziel, zu einer politisch wie genauso auch wissenschaftlich geführten Diskussion beizutragen, die sich um die Bedeutung Europas für das "alltägliche Geographie-Machen" im tatsächlich "gelebten" Europa "der Bürger" bzw. "der Bewohner" dreht.
Die theoretisch-konzeptionelle wie auch empirische Annäherung leitet sich aus insgesamt vier Aufhängern ab, die eingangs (Kapitel 1) in etwas zu verdichteter Art und Weise umrissen, im folgenden zweiten und dritten Kapitel ausführlicher vorgestellt und diskutiert werden. Mit Hilfe dieser vier Aufhänger möchte Michael Janoschka an eine Diskussion anknüpfen, die sich in den letzten Jahren überwiegend entlang der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialtheorie, der soziologischen Forschung zu Europa sowie der Kulturanthropologie entwickelt und vor allem von dort aus geführt worden ist - und sich eben mit europäischen Identitäten als Produkten sozialer Konstruktionsprozesse und deren Relevanz im Sozialen und Politischen beschäftigt.
Der Aussage, dass die deutschsprachige Humangeographie diesen Themenbereich lange Zeit vernachlässigt hat, ist sicherlich zuzustimmen. Den ersten Aufhänger der Arbeit von Janoschka bildet eben dieses Argument. Ausgehend von ihm möchte Janoschka die jüngere Diskussion in der kritischen angelsächsischen Humangeographie dazu nutzen, um mit ihren Anregungen die Beziehung zwischen Identitäten und der Repräsentation von politischen Interessen analytisch zu ergründen. Der zweite Punkt, an dem die folgende theoretische und empirische Erschließung des Themas aufgehängt ist, besteht in dem Anliegen von Janoschka, mit seiner Arbeit zu einer Weiterentwicklung (oder sogar, in seinen eigenen Worten, zu einer "Reformulierung"!) der Geographischen Konfliktforschung beizutragen. Es geht ihm unter anderem darum, europäische Identität(en) als weitere mögliche Ressource im Zuge räumlicher Nutzungskonflikte herauszustellen. Außerdem soll eine Forschungslinie gestärkt werden, die sich, einst unter anderem durch Soyez angelegt, im Rahmen der Geographischen Konfliktforschung mit der Untersuchung transnationaler politischer und sozialer (Protest-)Bewegungen beschäftigt.
Neben dem Setzen dieser neuen und teilweise wieder neu aufgenommenen Impulse für die deutschsprachige Humangeographie und die Geographische Konfliktforschung besteht der dritte Aufhänger in dem Interesse, dazu beizutragen, die "Theorie der Praxis" von Bourdieu stärker in die deutschsprachige Geographie hineinzutragen und ihre theoretischen Angebote und Anschlussmöglichkeiten für die Geographie deutlich(er) zu machen. Die Überlegungen von Bourdieu können, wie Janoschka belegen will, gerade auch in dynamischen und durch rasche Veränderungen gekennzeichneten modernen Gesellschaften durchaus für die Erklärung relevanter sozialgeographischer Fragen herangezogen werden.
Schließlich soll die Dissertationsschrift von Michael Janoschka neben der Stärkung und Weiterentwicklung (bzw. Reformulierung) der Geographischen Konfliktforschung auch zu einem differenzierte(re)n Verständnis des Phänomens der freizeit-, lebensstil- und ruhestandsorientierten Migration und Mobilität von Nord- nach Südeuropa beitragen (vierter Aufhänger der Arbeit). Wie Janoschka im empirischen Teil später überzeugend belegt, stehen diese Mobilitäts- und Migrationsformen in einem engen Zusammenhang mit der Konstruktion und der Artikulation europäischer Identität(en) im Zuge eines eigentlich lokal und regional begrenzten Raumkonfliktes. Das konkrete Fallbeispiel (Nutzungskonflikte entlang der spanischen Mittelmeerküste) steht dabei zum einen für das Zusammenkommen von sehr unterschiedlichen Mobilitäts- und Migrationsprozessen. Diese Wanderungen und Mobilitäten stehen als Beleg für die praktische Erfahrung und Erfahrbarkeit neuer Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheiten innerhalb eines grenzenlosen EU-Europas. Zum anderen lässt der exemplarisch ausgewählte Konflikt um spanische Nutzungsordnungen, die im Widerspruch zu europäischen Maßstäben und Leitlinien stehen, aber auch die beiden Fragen akut werden, ob und wie soziale Grenzziehungen und Ein- und Ausschließungsprozesse entlang bestimmter kultureller, sozialer und politischer Symboliken und Referenzpunkte (hier unter anderem unter dem Einfluss eines direkten Rekurses auf sogenannte europäische Werte, Maßstäbe und Richtlinien) permanent produziert, reproduziert und interpretiert werden und welche erfahrbaren politischen und sozialen Folgen dies alles hat.
Auf der lokalen (Stadt Alicante) und regionalen Ebene (Gemeinschaft von Valencia) gibt es seit 1994 einen Konflikt um Regelungen des Baugesetzbuches. Bei diesem geht es, wie Janoschka berichtet, unverhohlen auch um den Vorwurf der Verletzung universeller und europaweit (durch die Institutionen der EU) garantierter Eigentumsrechte. Trotz einer in den letzten Jahren vorgenommenen Reform des Baugesetzbuches ist auf der lokalen und regionalen Ebene weiterhin von einem ausgeprägten Spannungsverhältnis zwischen privaten Grundeigentümern, der Bauindustrie und den zuständigen Stadtverwaltungen zu sprechen. Dieses entzündet sich an der Regelung, dass auf allen Flächen eine städtebauliche Erschließung und Entwicklung auch gegen den Willen der jeweiligen Grundstücksbesitzer möglich ist. Bei einer beträchtlichen Zahl dieser Eigentümer handelt es sich um zugewanderte EU-Bürger, darunter vor allem Rentner und Pensionäre. Wie Janoschka beschreibt, hat sich im Verlauf des Konfliktes eine Entwicklung vollzogen, bei der das ökonomisch angelegte Spannungsverhältnis nach und nach auch in ein identitätspolitisches "Terrain" übertragen wurde. Die von zwangsweise und willkürlicher Enteignung bzw. Umwidmung ihrer Grundstücke betroffenen zugewanderten EU-Bürger haben den Konflikt erfolgreich von der lokalen und regionalen auf die europäische Ebene getragen und den Konflikt dadurch teilweise "de-lokalisiert". Dies geschah durch das Knüpfen von Kontakten mit den Botschaftern der jeweiligen Herkunftsländer, dem Stellen von Petitionen beim Europäischen Parlament und schließlich auch durch Klageschriften, die von den aufgebrachten Grundstücksbesitzern beim Europäischen Gerichtshof eingereicht wurden.
Zur Analyse des lokal, regional und nun sogar auch europäisch-transnational angelegten und ausgetragenen Konfliktes entwickelt Janoschka die "Theorie der Praxis" (Bourdieu) weiter, indem er die ihm wichtig erscheinenden identitätspolitischen Aspekte sozialtheoretisch verknüpft und Anschlüsse und Schnittstellen mit der human- bzw. politisch-geographischen Theoriediskussion herstellt bzw. deutlich macht. Er zeigt in einem ersten Schritt dabei zunächst den Nutzen einer praxeologischen Perspektive für die Geographie auf. In einem zweiten Schritt geht es ihm dann darum, unter Zuhilfenahme von ergänzenden theoretischen Angeboten (unter anderem der angelsächsischen Politischen Geographie, wie beispielsweise der Debatte um scales und politics of scale/place) eine Perspektive auf den strategischen Einsatz politischer Identitäten (doing identity) im Zuge eines Konfliktes zu entwickeln und damit eine neue Theorie zur Untersuchung räumlicher Nutzungskonflikte vorzuschlagen.
Im Anschluss an die Entwicklung dieser Theorieperspektive legt Janoschka in Kapitel 4 in sehr ausführlicher Weise seine methodischen Überlegungen und Herangehensweisen offen. Im Rahmen von mehrmonatigen Forschungsaufenthalten in Spanien, die unter anderem durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst und ein Marie Curie Stipendium der Europäischen Kommission ermöglicht worden sind, hat der Autor insgesamt 90 narrativ-biographische Interviews und 15 problemzentrierte Interviews geführt. Ergänzend arbeitete Janoschka mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung, der Dokumenten- und der Medienanalyse sowie der Interpretation statistisch-quantitativer Datensätze. Die auf Basis eines wohlüberlegten Methodenmixes gesammelten Daten fließen ein in die Darstellungen, Interpretationen und theoretischen Rückbezüge der Kapitel 5, 6 und 7, in denen der Autor zahlreiche Interview- und Textaussagen direkt zur Sprache bringt, um damit seine Aussagen zu stützen.
In seinem abschließenden Ergebnisteil und Fazit (Kapitel 7) zeigt Janoschka auf der Basis seiner Befunde, dass sich die von ihm aus der "Theorie der Praxis" (Bourdieu) abgeleitete Dialektik von sozialem Feld und Habitus zur Analyse von jenen politischen Konflikten eignet, in denen, wie in dem untersuchten Fallbeispiel, auf unterschiedliche habituelle Dispositionen rekurriert wird. Wie unter anderem in Kapitel 6.1 deutlich wird, lässt sich unter anderem die Gründung einer Bürgerinitiative (als transnational angelegter Protestbewegung gegen die lokalen und regionalen Regeln) durch spezielle habituelle Dispositionen einer transnationalen europäischen "Elite" (so die teilweise etwas seltsam und unzutreffende Bezeichnung Janoschkas für die nord- und mitteleuropäischen Ruhesitzwanderer und "life style migrants") erklären. Herausgearbeitet werden drei verschiedene Gruppen, darunter ein Kollektiv von Individuen, die bereits in ihrer Vergangenheit und in ihren Herkunftsländern (beispielsweise als Vertreter der "68er") praktische Protesterfahrung gesammelt haben und diese nun, an einem anderen Ort, in einem anderen Land und in einem anderen Abschnitt ihres Lebens, erneut und mit Erfolg einsetzen können.
Weil er sich im Rahmen seiner Untersuchung eingehend mit der Konstruktion und Relevanz von Identität(en) und dem doing identity im Zuge von Konflikten beschäftigt, gelingt es Janoschka aufzuzeigen, dass die von ihm befragten Subjekte in ihrem Rekurs auf europäische Identität(en) vornehmlich auf drei Aspekte von "EU-Europa" referieren: Auf das "Europa einer reflexiven Wissensgemeinschaft" (der Rekurs auf die europäische Diskussions- und Kritikfähigkeit und die Art und Weise der Reflexion wird, so Janoschka, dazu verwendet, den politischen Gegnern auf der lokalen und regionalen Ebene Macht entgegenzusetzen), das "Europa als Wertegemeinschaft" (der Bezug auf Demokratie, Menschenrechte, zivilgesellschaftliche Prinzipien wird genutzt, um die lokale und regionale Politik in Misskredit zu bringen) und schließlich auch das "Europa als Kommunikationsgemeinschaft" (dabei dominiert die Vorstellung von Europa als einer einheitlichen Rechtsgemeinschaft).
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Mit seiner Dissertation hat Janoschka, seinen eigenen Worten zufolge, den Versuch unternommen, zu einer sozialtheoretischen Neupositionierung der Debatten zu Identitätskonstruktionen, Identifizierungsprozessen und der Konstruktion politischer Identitäten beizutragen. Zumindest im Hinblick auf die deutschsprachige Geographie ist ihm dieses Unterfangen zweifelsohne schon gelungen, stößt sein Beitrag doch die Tür weit auf, um eine Stärkung der sozial- und politisch-geographischen Diskussion zu diesem Themenkreis zu bewirken. Janoschka unterstreicht mit seiner Arbeit die Notwendigkeit, die Geographische Konfliktforschung in der deutschsprachigen Geographie weiter zu entwickeln - wenn vielleicht auch nicht direkt zu "reformulieren", wie Janoschka an mehreren Stellen mutig anmerkt. Seine Arbeit kann als ein zugleich wohlgemeinter wie auch fordernder Anstoß verstanden werden, da in ihr, wie in anderen aktuellen Forschungsarbeiten, deutlich wird, wie wichtig es ist, transnationale soziale Bewegungen und die Bedeutung europäischer Identitäten in räumlich-politischen Konflikten im Zusammenhang zu betrachten und beide Aspekte eingehender zu beleuchten.
Martin Geiger
Quelle: Geographische Zeitschrift, 98. Jg. 2010, Heft 1, S. 60-62
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