Klaus C. Ewald, Gregor Klaus (Hg.): Die ausgewechselte Landschaft – Vom Umgang der Schweiz mit ihrer wichtigsten natürlichen Ressource. Bern, Stuttgart, Wien 2010. 2. Auflage. 752 S.

Nie zuvor ist in Buchform eine so umfangreich differenzierte und konsistente Kompilation über die geschichtlichen, gesellschaftlichen, wahrnehmungsspezifischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge über die Wechselfälle zwischen natürlicher Landschaft und Kulturlandschaft entfaltet worden.

Nicht nur in Umfang und Gewicht, sondern von der phänomenalen Fülle vergleichender, meist hervorragender Abbildungen und Graphiken, überragt diese Publikation vermutlich alles, was bisher buchgeschichtlich auf den Gebieten von Zusammenhangvermittlung über «Landschaft» angestrebt wurde. Zum Wesen solcher Meilensteine können Momente einer Überforderung in konventionellen Lese- und Rezeptionsweisen gehören. Die physische Materialfülle erstreckt sich über 752 Seiten, rund 1000 Abbildungen, einem Gewicht von fast 5 kg und dem Schuberdurchmesser von 10 cm.

Dies betrifft die erste bereits vergriffene Auflage von 2009 mit einer zusätzlichen Kartensammlung zur topographischen Kartierungsgeschichte, Sanierung und Melioration im Schweizer Reusstal. Die 2. Auflage von 2010 musste aus Kostengründen auf diese Beilage im Schuber sowie den zugehörenden Text von 90 Seiten verzichten.

Eine der Tugenden des Werks liegt darin, dass sich über alle seine 15 Kapitel ein spontaner Leseeinstieg anbietet, ohne eine kontinuierliche Lektüre von Anfang bis Schluss vorauszusetzen. Wo immer man das Buch aufschlägt, tritt man in überschaubare, faszinierende und hervorragend dokumentierte Themenstellungen ein. Diese gliedern sich über 16 Kapitel mit jeweils wieder vier bis 21 Unterkapiteln. In der aktuellen 2. Auflage musste wie erwähnt ein Kapitel wegfallen.

Mit Ausnahme sehr weniger besorgter Stimmen äusserten bisher publizierte Reaktionen durchgängig sehr positive Einschätzungen, wenngleich kaum eine Beschreibung der überwältigenden Dichte dieser multifaktoriellen Landschafts-Geschichtsschreibung wirklich gerecht werden konnte.

Weniger resonanzfreudig scheinen sich die bisherigen Zugänge seitens wahlverwandter Disziplinen, wie Raumplanung und Urbanistik, zu verhalten. Moniert wurden etwa die klagende bis anklagende Grundierung einzelner Textpassagen oder das vielleicht zu konventionelle Layoutkonzept. Doch die kritisierte Emotionalität oder Larmoyanz hält sich im Ganzen gesehen in Grenzen, wobei sich deren jeweilige Positionen als Ausgangspunkte für interessante Debatten in der heutigen Bild- und Wahrnehmungstheorie anböten.

Einige wenige von über 800 Bildlegenden lassen jedoch Zweifel darüber aufkommen, ob das nötige Bewusstsein für kulturgeschichtliche und sozioökonomische Entwicklungen genügend differenziert in Betracht genommen oder aus Empathie für die Sache vernachlässigt wurden.

Wenn auch viele sprachliche Ausarbeitungen nicht immer mit der Dichte und den Aussagemöglichkeiten des photographischen Materials Schritt halten, so bezeichnet dies wohl weniger ein Defizit der Autoren, zumal dies heute zwangsläufig vielen Publikationen anhaftet, deren Schwerpunkte Photographien zu gesellschaftlichen Wertedebatten vorlegen.

Als an Landschaftsgeschichte interessierter Nichtakademiker machte mir die disP-Redaktion den Vorschlag eines Besprechungsversuches des «schweren Brockens», dem hiermit kein Anspruch auf «gerecht werden» vorangeht. Nur fragmentarisch sollen einige Punkte des visuellen Erzählens und seiner Möglichkeiten angesprochen werden. Eines der herausragenden Buchkonzepte liegt in der chronologischen Nebeneinanderstellung von Bildfolgen gleicher Landschafts- oder Kulturlandschaftsmotive, die Inhalte dokumentieren, welche häufig Anlass heftiger und meist auf abstrahierter Ebene ausgetragener Interessenskonflikte bilden. Also Photographie als mögliche Grundlage und als Wissensobjekt, ohne sich im Illustrativen oder Parteilichen zu erschöpfen. Hinter den Spannungen / Bewegungen zwischen jeweils subjektiven Realitätsbezügen, Aufmerksamkeiten, formalen Vorhaben oder Wünschen zu der jeweils «objektiven Faktizität» erscheint dies eine besonders interessante Methode. Deren grössere Wertschätzung auch in vielen benachbarten Disziplinen eigentlich fehlt und etwa in Form der Institution «Documenta Natura» selbst seitens staatlicher Behörden fallengelassen wurde.

So stellt die vergleichende Luftbild- oder Standortphotographie, die sich über grössere zeitliche Abstände von Jahren oder Jahrzehnten erstreckt, jedoch aus identischen Kameraperspektiven arbeitet, die unbestechlichste und objektivste Grundform der Dokumentierung landschaftlicher Veränderung dar.

Von keinem Interessensstandpunkt her lassen sich diesen unbearbeiteten Bildmedien vermeintliche Voreingenommenheiten oder andere interessengelenkte Einseitigkeiten vorhalten. Also eine der wertvollsten Grundlagen zur Ermöglichung von Objektivität und als Ausgangslage vielseitigster Anknüpfungspunkte.

Für die Vielzahl aktueller Debatten um nachhaltige Umgangs-, Bezugs- und Nutzungsformen mit Landschafts- oder Siedlungsentwicklungen offeriert dieses Buch trotz aller kleiner Schwachstellen eines der differenziertesten Potentiale zur Vermittlung und Bereicherung klügerer öffentlicher Debatten um das, was als Frage und Herausforderung schon als «Finanzplatz Landschaft» bezeichnet wurde.

Es bieten sich unerschöpfliche Ansätze zu wirklich vertiefter Interdisziplinarität, wie etwa mit der Soziologie zum Eigentumsbegriff, oder mit der Sozialpsychologie zu den mannigfach klärungsbedürftigen Verhältnissen des sog. Imaginären, oder zu den Historikern bezüglich der ambivalenten Prozesse einer scheinbaren Entgeschichtlichung unserer Gesellschaft.

Trotz der vielen Erfolge des Landschaftsschutzes – von Avenir Suisse bis zur Zürcher Hochschule der Künste – beschäftigen sich alle möglichen Einrichtungen mit den konzeptionellen Defiziten nachhaltiger Siedlungsentwicklung, dem Schicksal von  Kulturlandschaften oder mit den Unzulänglichkeiten der Umsetzungsvorgaben zur Raumplanung. In vielen einschlägigen Fachgremien und Behörden gärt seit Jahren der Überdruss um ewiggleiche Wehklagen über vergangene Passivität, kaum zu bremsende Automatismen der Zersiedelung oder die mangelnden Anreize für überregionale  Planungskonzepte. Gesucht werden Theorien und Wege heraus aus Konventionen und verwaltungsinternen Formalismen, die Nährböden der «strukturierten Verantwortungslosigkeiten» im Umgang mit Landschaft bildeten.

Behörden möchten wegkommen von der Risikoscheu, die nur noch ratlos auf grosse Namen setzt. Es fehle am Mut zu grossen Vorwärtsgesten, an neuen Konzepten zur wirksameren Demokratisierung von Entscheidfindungen und die Sensibilisierung des öffentlichen Problembewussteins der grossen Mehrheit. Es gelte, die internen Rivalitäten innerhalb von Forschung und Lehre zu überwinden, um durchlässigere Grenzen zwischen den Institutionen ermöglichen.

Merkwürdig erscheint in der Öffentlichkeitssuche z.B. auch die Abwesenheit langfristiger und mit ruhigem Atem angelegter Fernsehdokumentationen für breitere Diskussionen, über die jeweils besonderen oder parzellierten Einzel- und Glücksfälle hinaus – schauen statt zeigen. (vgl. z.B. «Planungskulturwandel», in: TEC 21, Nr. 21, Mai 2010, S.28 f., u.a.a.O.)

Wo also können sich die nachhaltigen Vernetzungen mit der besagten «wichtigsten natürlichen Ressource» entwickeln? Sind zusammenhängende «Bildererzählungen» zu riskant und soll es vornehmlich bei Begriffsmutationen der Raumplanungssprache bleiben, wie etwa dem Wechsel von «marktwirtschaftlich» zu «anreizorientiert» usw.? Wird genaueres Schauen und Erzählen komplexitätsreduziert zum «Zählen» und «Berechnen»?

Wird es mit den um die Landschaftskultur gruppierbaren Disziplinen so weitergehen wie mit der Disziplin Städtebau?

... Der moderne Städtebau suchte anfänglich nach Wegen, die Beziehungen zwischen sich und den gesellschaftlichen Veränderungen neu zu deuten. Da solche reflexiven Ansätze aber nicht kontinuierlich und entschieden genug verfolgt wurden, kamen sie bald zu einem Stillstand. Während sich die Gesellschaftswissenschaften zunehmend komplizierten, fielen sie der Disziplin Städtebau als wahlverwandte Disziplin zunehmend aus dem Blickfeld, und so werden die Sozialwissenschaften seither als quasi folgenlose Privatangelegenheit erachtet.

So blieben bis heute die Relationen zwischen Architektur und Gesellschaftswissenschaften punktuell und labil, beidseits von starkem Argwohn, bescheidener Kenntnis der Gegenseite und sich zurückbildenden Überschneidungen begleitet – zum Nachteil aller Seiten. Nicht zuletzt durch ihren Rückzug aus den Debatten um gesellschaftliche Zukunft fehlt heute der Disziplin Städtebau die Zuversicht, das Objekt ihrer eigentlichen Beschäftigung noch verbindlich fixieren zu können. (Sinngemäss zusammengefasst nach Angelus Eisinger; «Die Stadt der Architekten», S.156–160 ff., Birkhäuser – Bauwelt Fundamente, 2006).

30 Jahre dauerten die Recherchen zu den Rohstoffen des Buches und 3 Jahre seine Zusammenstellung, bis es heute fast wie ein Geschenk vorliegt. Seine weitere Rezeptionsgeschichte scheint verheissungsvoll und verhängnisvoll zugleich ...
André Abel

Quelle: disP 183,4/2010, S. 125-126