Rainer Kilb: Jugendgewalt im städtischen Raum. Strategien und Ansätze im Umgang mit Gewalt. Wiesbaden 2009. 192 S.

Die Stadt steht seit der Moderne für Abweichung, Kriminalität und Gewalt. Dieser Zusammenhang stand Pate beim Aufkommen der Stadtforschung im 19. Jahrhundert, wurde als wesentlich gesalbt durch die Sozialökologie der Chicagoer Schule und erlebt in den letzten Dekaden unter Titeln wie Environmental Criminology oder Broken Windows eine Wiederauferstehung. Zahlreich sind die wissenschaftlichen Beiträge aus Soziologie, Kriminologie und Geographie, in denen die Grundlagen dieses Zusammenhangs theoretisch und empirisch durchleuchtet und z. T. für die Anwendung durch staatliche Apparate oder soziale Bewegungen aufgearbeitet werden.

Im Bereich der Sozialen Arbeit hat im deutschsprachigen Kontext zudem seit gut zehn Jahren der Begriff des „Sozialraums" eine steile Karriere hingelegt. Das Buch von Rainer Kilb, Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mannheim, ist an der Kreuzung beider Literaturstränge angesiedelt, indem es das Ziel verfolgt „Jugendgewalt im städtischen Raum […] systematisiert mit theoriegestützten Erkenntnissen aus Stadtforschung und Architektur in Beziehung zu setzten" (S. 10). Der Autor spannt einen Bogen von einer allgemeinen Bestimmung und Erklärung von „Gewalt" über den Zusammenhang von Stadt, Baustruktur und Jugendgewalt hin zu sozialraumorientierten und anderen Strategien zum Umgang mit Gewaltphänomenen. Im Stile eines Überblickswerkes referiert Kilb zu den verschiedenen angeschnittenen Themen unterschiedliche Ansätze, Debatten und Autoren und Autorinnen. Nicht immer werden dabei die gewählte Schwerpunktsetzung oder die Gründe der getroffenen Literaturauswahl (oft Lehrbücher) deutlich, Abwägungen verschiedener Positionen gegeneinander oder Syntheseversuche finden kaum statt. Letzteres dürfte in der mehrfach geäußerten Überzeugung begründet sein, nach der „an der Entwicklung von gewalttätigem Verhalten eine ganze Reihe von Ursachen bzw. Entstehungsbedingungen beteiligt sind" (S. 21).


    Für Leser/innen aus Geographie und Stadtforschung ist das Buch – neben der Thematik selbst – insbesondere wegen seiner zentralen theoretischen These von Interesse, nach der der städtische Raum „nicht als Ursache sozialer Probleme [fungiert], sondern als (Ver-)Mittler, in dem sich soziale Strukturen räumlich ausformen und abbilden können" (S. 10). Dementsprechend sollen im Buch „die Auswirkungen bestimmt werden, die verschiedene Typen städtebaulicher und architektonisch gestalteter Strukturen und Bauweisen im Zusammenspiel mit anderen fördernden Faktoren auf die Entstehung und die Formen des Gewaltphänomens bei Jugendlichen besitzen" (S. 52).


    Als Hauptergebnis des Buches sind verschiedene Differenzierungen bzw. Typisierungen zum Zusammenhang von Raumstruktur und Jugendgewalt festzuhalten, die der Autor basierend vor allem auf eigenen Forschungsprojekten vorschlägt. So unterscheidet er auf der Maßstabsebene unterschiedlicher Städte zwischen „metropolitanen Ballungsräumen", „großstädtischen Verdichtungsräumen", „Einzugsbereichen mittlerer und kleiner Großstädte mit zentralen Raumfunktionen" und „ländlich-provinziell geprägten Regionen" (S. 73), wo je unterschiedliche Ausprägungen von Jugendgewalt zu beobachten seien. Ausführlicher und mit dem Anspruch der Erklärung der „extrem ungleiche[n] Verteilung" (S. 86) von Gewalt innerhalb von Städten referiert Kilb neun Quartierstypen, die im
Hinblick auf „Prozesse sozialer Marginalisierung, sozialer Polarisierung, des sozialen Abstiegs, der mit Deindustrialisierung verbundenen Milieuauflösung, interkultureller Transformation und ethnischer Isolation" differenziert werden. In diesen Quartieren, so der Autor, „lassen sich mehrere Wirkungs- bzw. stadträumliche Vermittlungseffekte gesellschaftlicher Problemkontexte identifizieren" (S. 97), die als „sozialräumliche ‚Transmitter'" (S. 110) fungieren und als „Abspaltungsverstärker" (S. 98f.), „Konfrontationsverstärker" (S. 99), „Verunsicherungsverstärker" (S. 99f.) oder„Desintegrationsverstärker" (S. 100) wirken. Teilweise auf diese Systematisierungen Bezug nehmend werden schließlich sozialräumliche Strategien sozialer Arbeit zum Zweck der Gewaltprävention vorgestellt (S. 123-128, S. 157-179). Nicht immer erscheint dabei der Zusammenhang dieser Handlungsvorschläge mit den theoretisch und empirisch gewonnenen Quartierstypen systematisch hergeleitet, oft wird der Quartiersbezug am Ende der Vorstellung gängiger Ansätze Sozialer Arbeit in wenigen Sätzen angefügt.


    Obschon das Thema des Buches und die vorgeschlagenen Systematisierungen relevant sind, kann das Buch nicht vollständig überzeugen. Zunächst ist mitunter der leider etwas oberflächliche Bezug zur aktuellen Theoriedebatte zu nennen. Dies wird deutlich etwa im Unterkapitel zu „Kriminologisch-stadtsoziologische[n] Ansätze[n]" (S. 48-52), wo mit drei Quellen gearbeitet wird: einem Handbucheintrag eines Stadtsoziologen (aus dem Jahr 2000), einer Studie eines Kriminologen (1997) sowie einem in der Literaturliste fehlenden Titel eines Pädagogen (1998). Mit keinem Wort erwähnt werden führende internationale Autoren wie Loïc Wacquant oder Robert Sampson (von dem an anderer Stelle ein Text von 1989 angeführt wird), und auch nach einschlägigen Autoren aus dem deutschsprachigen Kontext wie Klaus Sessar oder Jan Wehrheim sucht man vergebens.


    Weiterhin sind es zahlreiche Kleinigkeiten, die das Buch nicht unbedingt überzeugender und die Lektüre nicht angenehmer machen. So wird „Stadt" reichlich idealistisch bestimmt, indem als ihr „Zweck" (in einem Buch über Gewalt!) „gedeihliches Zusammenleben" (S. 55) genannt wird; es wird unkritisch von „No-Go-Areas" (S. 14) gesprochen und ein Städteranking nach Gewaltdelikten auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik entworfen (S. 85), und dies unmittelbar nach einem Unterkapitel über „Delinquenz als Zuschreibungs-, Stigmatisierungs- und Projektionsphänomen" (S. 84f.) (das leider ganz ohne Literaturangabe auskommt); es finden sich zum Kulturalismus neigende Formulierungen, nach denen „Ehreverletzung […] insbesondere bei Jugendlichen mit türkischem Kulturhintergrund anzutreffen" (S. 36) seien; es ist mit Bezug auf „Die Unwirtlichkeit unserer Städte", erschienen 1965, von den „70er Jahren Mitscherlichs" (S. 15) die Rede; und es wirkt aufgrund zahlreicher formaler und den Aufbau betreffender Schwächen so, als sei das Buchmanuskript schlicht nicht ganz fertig geworden: die Kapitel und Unterkapitel stehen in einem meist bestenfalls oberflächlichen Verhältnis zueinander; das Buch endet recht abrupt und ohne jedes Fazit mit einem Unterkapitel zu „Praktiken in europäischen Ländern" (S. 179-183), das in keinem rechten Zusammenhang zum Vorherigen steht; schließlich fehlen in der Literaturliste zahlreiche Titel, andere stehen an der falschen Stelle. Positiv festzuhalten sind neben den o. g. Systematisierungsversuchen die zahlreichen empirischen Beispiele aus eigener Forschung.

Bernd Belina

Geographische Zeitschrift, 98. Jg., 2010, Heft 4, S. 239-240

 

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