Harald Bodenschatz, Jörn Düwel, Niels Gutschow, Hans Stimmann, Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (Hg.): Berlin und seine Bauten. Teil 1: Städtebau. 472 S. und über 500 Abb.
Berlin 2009.

„Berlin war nie der Zustand des Abgeschlossenen vergönnt." So charakterisiert Hans Stimmann – einer der vier Autoren des fast 500 Seiten umfassenden Teilbandes „Städtebau" des insgesamt 24-bändigen Werkes „Berlin und seine Bauten" – die städtebauliche Geschichte der heutigen Hauptstadt Deutschlands. Damit trifft er einen wesentlichen roten Faden dieser aufwändig gestalteten und außerordentlich detailreichen Dokumentation der Berliner Städtebaugeschichte zwischen 1890 und der Gegenwart: Die Stadtstruktur und das Stadtbild Berlins waren in ständiger Veränderung. Die Autoren haben sich auf diesen Zeitraum der letzten 120 Jahre beschränkt, da es sich bei dem Werk um die Fortsetzung der Berliner älteren Städtebaugeschichte handelt, die der Architekten-Verein zu Berlin bereits in den Jahren 1877 bzw. 1896 in früheren Ausgaben abgehandelt hat.

 

Um es vorweg zu nehmen – jedem an Berlin Interessierten kann ich dieses opulente Werk außerordentlich ans Herz legen. Dazu tragen besonders die zahlreichen Pläne und Karten sowie die vielen auch historischen Aufnahmen und weiteren Illustrationen bei, die den Leser zunächst staunend zum bloßen Durchblättern des großformatigen und damit auch gewichtigen Werks verleiten. Beim zweiten Durchgang sind es die ausgesprochen informativen und lesenswerten Texte, die ein ausführlicheres Studium dieses Buches lohnenswert machen.

Die zahlreichen Veränderungen, die der Berliner Städtebau in den letzten mehr als 100 Jahren erfahren hat, werden von den vier Autoren in drei zeitlichen Perioden dargestellt. Dabei sind es bewusst nicht die großen politischen Ereignisse wie etwa die Wiedervereinigung oder der Zweite Weltkrieg, durch die diese drei Perioden abgegrenzt werden. Dies überrascht, denn die Auflösung eines DDR-Städtebaus nach dem Fall der Mauer oder der Wiederaufbau nach den heftigen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hätten gerade für die Berliner Stadtentwicklung eine durchaus plausible Begründung für eine „klassische" Periodenbildung geboten. Vielmehr unterscheiden die vier Autoren stattdessen eine erste Periode bis zum Ersten Weltkrieg, die durch das rapide Wachstum Berlins in der Kaiserzeit geprägt ist, eine zweite Periode des Fortschrittglaubens bis in die Mitte der 1970er Jahre und eine letzte Periode, die seit dieser Zeit durch eine Abkehr vom modernen Städtebau gekennzeichnet ist. Begründet wird gerade diese
letzte Periode mit dem „Wechsel der Leitbilder von der offenen Stadt der Moderne zur traditionellen europäischen Stadt", für die seit Mitte der 1970er Jahre in Berlin der Gedanke der „kritischen Rekonstruktion" steht.

Die erste Periode von 1890 bis 1918 behandelt auf rund 80 Seiten der Stadtsoziologe Harald Bodenschatz, der durch zahlreiche auch umfangreiche Publikationen zur Städtebaugeschichte Berlins bekannt ist. Für diese Periode werden die besonderen Rollen der privaten Terraingesellschaften für den Wohnungsbau und der privaten Verkehrsbetriebe für den öffentlichen Nahverkehr deutlich. Dies war eine Zeit, in der zumindest bis zur Gründung des Zweckverbands Groß-Berlin die städtebauliche Entwicklung eher ungeordnet verlief und in der die aufkommenden städtebaulichen Debatten noch einen geringen Einfluss auf die reale städtebauliche Entwicklung hatten. Und so zeigen die zahlreichen Beispiele des privaten Städtebaus der späten Kaiserzeit mit eindrucksvollen historischen Plänen und Fotos die Vielfalt an Bau- und Siedlungsformen, die zwischen der Zeit der „Mietkasernenstadt" und dem Ersten Weltkrieg in Berlin entstanden. 

Den zweiten Teil des Buches haben die beiden renommierten Stadthistoriker Jörn Düwel und Niels Gutschow übernommen. Sie beschäftigen sich auf über 200 Seiten mit dem Städtebau von 1918 bis 1975, der in den ganz verschiedenen Gesellschaftssystemen dieser Periode in Berlin weitgehend durch eine Ablehnung der historischen Stadt gekennzeichnet ist und neue Formen des Städtebaus zulässt. Dabei wird die Abkehr von Block und Straße als ein wesentliches Merkmal herausgearbeitet, das bis zum Zweiten Weltkrieg die Stadterweiterungen der Weimarer Zeit und die Hauptstadtplanungen der Nationalsozialisten sowie nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs den Wiederaufbau der Stadt sowohl im Osten als auch im Westen geprägt hat. In einzelnen Abschnitten werden ausführlich und ausgesprochen detailreich die städtebaulichen Veränderungen in der Berliner Mitte für die verschiedenen politischen Gesellschaftssysteme vorgestellt. Es wird deutlich, dass im geteilten Berlin bis Ende der 1960er Jahre die stadtplanerischen Grundlinien trotz der fundamentalen politischen Gegensätze ähnlich waren. Dem Wohnungsbau sind dann in diesem Teil zwei eigene Abschnitte für die eher innerstädtischen bzw. peripheren Bereiche gewidmet.

Den dritten Teil, der den Städtebau vom „Europäischen Jahr des Denkmalschutzes" bis heute behandelt, hat schließlich Hans Stimmann bearbeitet, der diese Periode über einen längeren Zeitraum als Berliner Senatsbaudirektor entscheidend mit geprägt hat. Stimmann verweist in diesem Teil immer wieder auf die Leitvorstellung der kompakten traditionellen Stadt mit ihrem privaten Haus- und Bodeneigentum, die im diametralen Gegensatz zu dem funktional getrennten und aufgelockerten Städtebau der Moderne steht, der auch im Westen Berlins durch blockübergreifendes Eigentum kommunaler Gesellschaften bestimmt wird. Allerdings kommen hier trotz der Rekonstruktionsbemühungen im Nicolai-Viertel für die letzten 15 Jahre des DDR-Städtebaus Zweifel an der Periodenbildung auf, wenn man sich die Großsiedlungen und die Vernachlässigung der gründerzeitlichen Viertel in dieser Zeit in Erinnerung ruft. Stimmann ordnet auf diese Weise sein eigenes Werk als langjähriger Senatsbaudirektor dieser Stadt in die
Berliner Städtebaugeschichte ein. Dabei profitiert der Leser sicherlich von den vielen Informationen eines Insiders, doch wäre es an einigen Stellen hilfreich gewesen, für die jüngeren Entwicklungen der Berliner Innenstadt noch ausführlicher die anderen Positionen im Berliner Architekturstreit der frühen 1990er Jahre kennen zu lernen.

Trotz der vielen Details werden in dem gesamten Werk die verschiedenen Paradigmen des Berliner Städtebaus als ein wesentlicher roter Faden sehr schön deutlich. So hat es nach dem Bau des „steinernen Berlin" eine lange Phase der Moderne im Berliner Städtebau gegeben, die als eine Antwort auf die Missstände des früheren Städtebaus interpretiert werden kann und in der die Städtebaustrukturen des vormodernen Berlin rigoros abgelehnt wurden. Dies gilt für den sozialistischen Städtebau der DDR ebenso wie für den Wiederaufbau und die Stadtsanierung im westlichen Berlin bis in die 1970er Jahre. In dieser Zeit sollten zunächst in beiden Teilen Berlins die Hinterlassenschaften aus der Wilhelminischen Zeit verschwinden und stattdessen eine zeitgemäße Bebauung jenseits des historischen Stadtgrundrisses erfolgen. Erst mit der Leitvorstellung der „Kritischen Rekonstruktion" hat sich diese Einstellung geändert und zu den jüngeren Entwicklungen geführt. Ihre Umsetzung bedarf jedoch zukünftig einer machtvollen Stadtplanung, die aber keineswegs sicher gestellt ist.

Allen, die sich ausdrücklich für Stadtgeographie und Städtebau interessieren, sei dieses prächtige Werk wärmstens empfohlen. Aber auch allen, die sich nicht aus professionellen Gründen für die Metropole Berlin begeistern, gibt dieses Werk reichlich Anschauungsmaterial und viele Hintergründe, die heutige städtebauliche Form dieser modernen Großstadt zu erkennen und zu verstehen.
Claus-C. Wiegandt

Quelle: Erdkunde, 64. Jahrgang, 2010, Heft 1, S. 91-92

 

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