Rodríguez Encarnación Gutiérrez, Manuela Boatca & Sérgio Costa (Hg.): Decolonizing European Sociology. Transdisciplinary Approaches. Ashgate 2010. 284.

Die Soziologie als akademische Disziplin war und ist ein Produkt der (europäischen) Moderne. Diese Annahme sowie die darauf aufbauende Tradition der Gesellschaftsanalyse zur Disposition zu stellen, ist das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes. Damit liefert der Band einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten innerhalb der westlichen (Sozial-)Wissenschaften. Denn obgleich postkoloniale Kritik auf zentrale soziologische Konzepte – allen voran auf das der Moderne – zielt, lässt eine umfassende Antwort im Sinne einer postkolonialen Soziologie bisher auf sich warten.

Auf diese Leerstelle möchte der Band mit einer Sammlung kritischer Essays aufmerksam machen und Gedankenanstöße geben, wie ein „decolonial turn“ (1) in der europäischen Soziologie aussehen könnte – und zwar aus einer transdisziplinären, aber europäischen Perspektive. Die „Mainstream“-Soziologie soll von ihren disziplinären Rändern her kritisch beleuchtet werden, doch der Ausgangspunkt dieser Kritik bleibt Europa – verstanden als Zentrum, das es von innen heraus zu de-zentrieren gilt. Zu Wort kommen daher ausschließlich Autor_innen, die im europäischen Wissenschaftsbetrieb verortet sind oder aber über Europa schreiben.

Der Band umfasst fünfzehn Beiträge, die in fünf Kapitel gegliedert sind. Während das erste  „Unsettling Foundations“) die epistemologischen Grundlagen einer „Sociology after Postcolonialism“ (33) im Allgemeinen diskutiert, nimmt das zweite („Pluralizing Modernity“) das Konzept der Moderne – verstanden als zu dekonstruierender identitärer Kern der europäischen Soziologie – in den Blick. Anschließend zeigt der Teil „Questioning Politics of Difference“ die Grenzen neuerer soziologischer Ansätze des „Multikulturalismus“ auf, identitäre Aushandlungsprozesse adäquat zu fassen. Unter dem Titel „Border-Thinking“ beleuchtet das vierte Kapitel die Kontinuität kolonialer Denkstrukturen, die sich in einem alltäglichen Rassismus gegenüber den „Anderen“ innerhalb Europas zeigen. Schließlich richten die Autor_innen im letzten Kapitel („Looking South“) ihren Blick auf die globale Peripherie und analysieren dabei die machtverstrickte Kontingenz geographischer Kategorien – außerhalb und innerhalb Europas.

Unter dem Titel „Postcolonial Sociology: A Research Agenda“ skizzieren Manuela Boatca und Sérgio Costa zunächst die Eckpunkte der intendierten Dekonstruktion der europäischen Soziologie, die zugleich den Rahmen des Sammelbandes abstecken. Ihre zentrale These ist, eine postkoloniale Analyse bedeute nicht das Ende der Soziologie, sondern beide Perspektiven seien miteinander vereinbar. Das Ziel einer postkolonialen Soziologie ist für die Autorin und den Autor jedoch nicht, einem weiteren Paradigmenwechsel das Wort zu reden, sondern vor allem eine genealogische Analyse des „colonial turn“ (14), welcher untrennbar mit der Institutionalisierung der Soziologie als Disziplin verknüpft und bis heute wirkmächtig sei. Diese Schlussfolgerung basiert auf einem Forschungsüberblick zu aktuellen soziologischen Ansätzen der Makro-, Meso- und Mikroebene. Gurminder K. Bhambra führt die kritische Diskussion neuerer makrosoziologischer Ansätze fort. Sie behauptet, das Modernitätsparadigma werde im Rahmen von Konzepten der „multiple modernities“ (vgl. 37f) oder des „global cosmopolitanism“ (vgl. 38f) nicht überwunden, sondern – wenn auch ungewollt – sogar reproduziert. Daher spricht sie sich für einen „provincialized cosmopolitanism“ aus, der  unterschiedliche lokale Perspektiven auf Kosmopolitismus dialogisch verknüpfen kann.

Einen „unbequemen“ und daher umso wichtigeren Aspekt greift Encarnación Gutiérrez Rodríguez in ihrem Beitrag „Decolonizing Postcolonial Rhetoric“ auf. Sie fragt darin nach der (Un-)Möglichkeit einer postkolonialen Soziologie innerhalb der bestehenden akademischen (Macht-)Strukturen und warnt vor der „Geiselnahme“ des kritischen Potenzials postkolonialer Ansätze durch den institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb. Der Beitrag schließt mit der Forderung nach einer stärkeren Repräsentation bislang marginalisierter Gruppen an europäischen Universitäten und nach einem Dialog zwischen institutionalisierter und nicht-institutionalisierter Wissenspraxis.

Der Erkenntnisgewinn eines Sammelbandes zeigt sich vor allem dann, wenn Beiträge nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern sich (kritisch) aufeinander beziehen bzw. beziehen lassen. Dies trifft beispielsweise für die Essays von Göran Therborn („Different Roads to Modernity and Their Consequences: A Sketch“) und Jan Nederveen Pieterse („New Modernities: What’s New?“) zu. Letzterer wirft Therborn indirekt vor, mit seinem Konzept nur einer „modernity plus local franchises“ (86) das Wort zu reden, anstatt das Konzept der Moderne grundlegend zu hinterfragen. Kien Nghi Ha und Sandra Gil Araújo sind dagegen nicht über eine Kontroverse miteinander verbunden. Ihre Beiträge zur Integrationspolitik in Deutschland („Integration as Colonial Pedagogy of Postcolonial Immigrants and People of Colour: A German Case Study“) und in Spanien („The Coloniality of Power and Ethnic Affi nity in Migration Policy“) lassen sich vielmehr komplementär lesen. Während Ha die gewaltförmige Dimension verpflichtender Sprach- und Einbürgerungskurse herausarbeitet, deckt Gil Araújo die rassistischen und eurozentrischen Denkstrukturen hinter derartigen Programmen auf.

Der Band zeichnet sich insbesondere dadurch aus, mit Beiträgen unter anderem aus dem Bereich der „Islamic studies“ (Nilüfer Göle: „European Self-Presentations and Narratives Challenged by Islam: Secular Modernity in Question“), der „Beauty Studies“ (Shirley Anne Tate: „Not all the Women Want to be White: Decolonizing Beauty Studies“) oder auch der kritischen Geographie bzw.  regionalwissenschaften (Heriberto Cairo: „Critical Geopolitics and the Decolonization of Area Studies“) die disziplinäre Peripherie der Soziologie einzubeziehen. Die ausschließliche Konzentration auf Europa mag bei einigen Leser_innen Enttäuschung hervorrufen. Dennoch beweist das Buch sein kritisches Potenzial, indem es in verschiedenen Beiträgen die Vorstellung von Europa als homogener Einheit dekonstruiert und damit auf die Instrumentalisierung Osteuropas sowie des Balkans im Kontext des kolonialen Projektes aufmerksam macht. Deutlich wird allerdings auch, wie hoch die Hürden auf dem Weg zu einer postkolonialen Soziologie sind. Dies betrifft vor allem das zentrale Anliegen, hegemoniale Strukturen innerhalb der europäischen Wissenschaften aufzubrechen und Autor_innen außerhalb des akademischen „Establishments“ zu Wort kommen zu lassen. Mutige Schritte in diese Richtung lassen bislang noch auf sich warten – auch der vorliegende Sammelband bietet hier keine Ausnahme.
Verena Namberger


Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 507-509

 

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