Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hg.): Grundriss der Raumordnung und Raumentwicklung. Hannover 2011. 877 S.
Nun liegt das zentrale Grundlagenwerk der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) vor: «Grundriss der Raumordnung und Raumentwicklung» (Hannover 2011).
Es fasst die bewährten Opera aus früheren Jahren «Grundriss der Raumordnung», «Stadtplanung» und «Landes- und Regionalplanung» in einer umfassenden Darstellung zusammen, aber nicht als banale Aufdatierung, sondern als bewusst angestrebte Neudarstellung, beflügelt durch eine grosse Zahl neuer und jüngerer Autoren. Im Hintergrund schwebt wohl die Verantwortung mit, die Möglichkeiten, Grenzen und die aufkeimenden Chancen der Raumplanung, vor allem auf überörtliche Ebene, für Deutschland neu zu positionieren. Der durch die Akademie und ihre Mitglieder gewonnene Erkenntniszugewinn soll auf diesem Weg in die anlaufende Praxis der morgigen Raumplanung einfliessen. Das unvermeidliche Spannungsfeld von Politik, die ihrerseits gefordert ist, und Raumplanung, die sich immer wieder neu exponieren muss, wird denn auch betont angegangen. Ihm wird nicht ausgewichen. Von Herausforderung mitten im Wandel ist die Rede. Das ist der grosse Pluspunkt der neuen Publikation.
Dem schon äusserlich beeindruckenden soeben publizierten «Grundriss» steht das zweite breit angelegte, bedeutende Werk der Akademie «Handwörterbuch der Raumordnung» (4. Aufl., Hannover 2005) zur Seite. Daran darf erinnert werden. Denn, die beiden Bände müssen vereint betrachtet werden; sie bilden gleichsam die tragenden Säulen des Gebäudes der Raumplanung als öffentliche Aufgabe und als Wissenschaft. Nur die äusseren Zutritte zu den beiden Welten des Hintergrundes, der Fundamente und der Ausrichtung bis hin zu den Schritten der praktischen Realisierung sind verschieden. Der Geist ist derselbe. Allerdings ist der Grundriss neueren Datums und vermag den einen oder andern Akzent noch deutlicher zu setzen, als dies dem Handwörterbuch eigen ist.
Der neue Grundriss präsentiert sich als systematisches Werk mit dem weiten Spektrum einer Darstellung von der Funktion über die Geschichte der Raumplanung hin zu den Methoden, den Instrumenten, ja bis zur Verwirklichung, verbunden mit Seitenblicken zu den materiellen und politischen Spannungsfeldern wie auch zu den europäischen Nachbarländern, vor allem auch hin zum Recht. Das Theoretische schwingt mit, wenn auch stets rückbezogen auf das Praktische. Das bereits vertraute Handwörterbuch, lexikonartig gestaltet, erlaubt das Einschwenken auf spezifische Fragen an die Lehre und den Erfahrungsschatz der Raumplanung, nämlich durch Ansprechen der prägenden Stichworte, verbunden mit dem Gewinn, gleich unter einem singulären Stichwort in die Tiefe der Materie und zur Literatur vorzustossen. Also: Hier das grundlegend Weiterführende aus dem Systematischen heraus, dort das Spezifische und Spezielle schnell erreichbar dank dem Aufreihen nach vertrauten Begriffen. Beide Werke, entstanden aus dem Fundus von Praxis und Theorie, inspirieren, beide Zugänge sind legitim.
Während das «Handwörterbuch» bereits bekannt ist, gilt es nun, sich mit dem «Grundriss» vertraut zu machen. Das ist nicht einfach, allein schon deshalb, weil es sich beim zu besprechenden Werk um einen Sammelband eines Autorenkollektivs handelt. Was für ein «Lexikon» der speziellen Raumplanung gegeben war, ist für einen Grundriss nicht zwingend. Homogenität in der Sache, die einem eher systematischen Werk ansteht, könnte durch einen einzigen Autor oder dann durch eine sehr schmale Autorschaft eher erreicht werden. Es verbleibt, angesichts der Breite der engagierten Autoren, die Gefahr einer gewissen Unausgewogenheit. Die direkte Antwort kann aber offen bleiben, weil noch Fragen grundsätzlicher Art anstehen: Haben wir es mit einer «Einführung», mit «Allgemeinen Lehren» oder gar mit einer «Theorie» resp. mit «Theorien» der Raumplanung zu tun? Mit einer Kombination? Oder liegt gar eine Literaturgattung sui generis vor? Ich meine: Ein Ja auf die letzte Fragen ist angezeigt.
Die ARL unterbreitet nämlich einen Grundriss mit einem primären Blick auf die «Raumplanung als öffentliche Aufgabe» und also für eine praktische Tätigkeit, verbunden gleichzeitig mit unerlässlichen «Seitenblicken» auf die Raumplanung als Gegenstand von Lehre und Forschung, aber letztlich bedacht als Quelle für die Praxis. Sie fokussiert sodann eindeutig die überörtliche Ebene, unter einer gewissen Vernachlässigung der 1 : 1-Welt. Anders formuliert – beim vorliegenden Werk handelt es sich – cum grano salis und vom Aufbau her – um ein systematisches Werk, reich an Informationen für ausgebildete und auf gehörigem Niveau tätige Praktiker, die aus den grundlegenden Zusammenhängen heraus befähigt sein sollen, die Hintergründe und die Ziele/Konzepte, Instrumente,
Massnahmen und Wirkungen der Raumplanung, eingebracht unter komplexen Bedingungen, zu verstehen, zu generieren, zu evaluieren, die Umsetzung anzugehen und die abweichenden Dritteinwirkungen sach- und zeitgerecht zu erfassen. Dieser Zielsetzung dient der Grundriss in herausragender Art, gleichsam mit einer Fülle von Reflexionen, die zusätzlich auch der Lehre und Forschung positiv zudienen, sogar dem politischen und wissenschaftlichen Ansehen der Raumplanung.
Betrachtet man nun den grossen Bogen, so fällt auf, dass einleitend von einer Raumplanung unter veränderten Verhältnissen die Rede ist. Der wirtschaftliche, gesellschaftliche, der ökologische Wandel, auch jener von Politik und Verwaltung, sie werden unterstrichen. Von einer Raumplanung unter veränderten Verhältnissen ist expressis verbis die Rede, wohl im Vergleich zu den Zeiten um 1970 herum, als Planung eher überschätzt wurde. Die geschichtlichen Bezüge weisen ebenfalls auf die entsprechenden Veränderungen hin. Im Kapitel über Konzepte und Inhalte der Raumordnung (Ziff. 3) wird dieses Gespür für die Kräfte der Veränderung aktiviert und deren Tragweite inhaltlich und konzeptionell gekonnt erfasst. Interessant auf alle Fälle die Ausführungen über die Kerninhalte und die zentralen Planelemente und Raumordnungspläne (Ziff. 3.2.). Ob dieses Kapitel aber insgesamt hinreichend klärend wirkt? Oder ob erst das nachfolgende Kapitel über die Methoden (Ziff. 4) die Grundlagen für das Meistern des gross angekündigten Wandels schafft? Für den Autor dieser Besprechung bleibt irgendwie die Frage an die Autoren offen, wie es mit den umfassenden methodischen Hinweisen gelingen soll, das Erkennen und das Meistern des monierten intensiven, vielseitigen, tatsächlichen Wandels zu «gewährleisten». Ob da nicht neben der Problemanalyse konzentrierter und konkreter auf das verfügbare «Massnahmenspektrum» zugegangen werden müsste? Und die weitere Frage? Könnte es nicht sogar sein, dass die Methoden im Umgang mit dem Ungewissen und dem Zukünftigen nicht nur als Gegenstand der Raumplanung diskutiert werden, sondern allenthalben, wo es um die Auseinandersetzung mit dem Künftigen geht? Bedarf es in allen Nuancen einer disziplineigenen Raumplanungsmethodik?
Wenn die eben gesetzten Fragezeichen begründet sind, dann gilt: Die Massnahme kommt im gesamten Werk vergleichsweise eher zu kurz, gilt doch der Satz, dass sich die Raumplanung nicht aus sich heraus allein zu verwirklichen vermag. Die Raumordnungspolitik muss bekanntlich mittun, von der Finanzpolitik über den Landschaftsschutz und den Verkehr bis zur Wohnbauförderung. Der Beitrag der Wirtschaft darf nicht vergessen werden, direkte Massnahmen sind und bleiben zwar knapp, günstige Voraussetzungen gilt es dennoch zu schaffen. Neben dem nominalen muss das funktionale Raumplanungsrecht im Rahmen sach- und planadäquater Anwendung zur räumlichen Entwicklung beitragen. Davon ist im Kapitel «Ausgewählte Spannungsfelder der Raumentwicklung» (Ziff. 9) dann doch noch die Rede: Wirtschaft und Raumentwicklung, Finanzen und Raumentwicklung, Umwelt und Raumentwicklung, Verkehr und Raumentwicklung. Auf der tatsächlichen Seite geht es beispielsweise beim Verkehr um Störfaktoren bis und mit der fatalen Begünstigung von räumlichen Fehlentwicklungen, dann aber raumplanerisch-normativ um die substantielle, planerisch unterlegte Zielanvisierung und den entsprechenden Einsatz von konkreten Massnahmen, bis und mit Lenkungsabgaben. Dieses so wichtige Kapitel, übrigens souverän angegangen, hätte deutlich zulegen können und müssen.
Dass im Kapitel über die Nachbarländer zu Deutschland die Schweiz faktisch nicht vorkommt, sei am Rande vermerkt. Mindestens eine Fussnote hätte sie verdient, allein schon deshalb, weil die Schweiz mitten in Europa liegt und mit der Nord- Süd-Verbindung durch die Alpen auf Schiene und Strasse raumplanerische Akzente setzt, weil sie mit einer nicht unerheblichen Zuwanderung unter Siedlungsdruck gerät, weil sie neuartige Urbanisierungseffekte und weil sie samt sich überschneidenden Agglomerationen sogar Metropolitanräume erkennen lässt, weil die massive Nachfrage nach Bauland Druck auf die Bodennutzung (was die räumliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung belastet) und das neu anzugehende Bodenrecht ausübt, weil die Infrastrukturen, ausgelegt für eine kleinere Bevölkerung mit schmaleren Ansprüchen, unter grossem Aufwand auf den neusten Stand gebracht werden müssen, weil die eidgenössische Gesetzgebung mit der kantonalen «Richtplanung» ein relativ flexibles Planungsinstrument geschaffen hat und weil die helvetische Raumplanung – überraschend – einen vergleichsweise hohen, wenn auch nicht sachlich angemessenen Stellenwert im Rahmen der öffentlichen Aufgaben geniesst.
Die Frage, ob der Grundriss das Zeug zu einem Standardwerk hat, darf positiv beantwortet werden. Allein schon die einleitenden Beiträge von Dietrich Fürst und Heinrich Mäding zur Raumplanung unter veränderten Verhältnissen geben eine Stossrichtung vor, die beachtenswert ist. Auch Hans H. Blotevogels klärende Aussagen zur Geschichte der Raumplanung lassen aufhorchen. Vor allem ist die Gesamtdarstellung als solche in sich rund und informationsdicht, gerade auch was die Literaturhinweise angeht. Wenn es kleinere Vorbehalte gibt, dann solche, die nicht auf den Gesamteindruck durchschlagen, aber wenigstens mit einem Stichwort angesprochen sein müssen: Das Vertrauen auf die Verlässlichkeit zugewandter Disziplinen, also auf die Komponente der Interdisziplinarität, scheint mir etwas knapp. Isoliert sich die Raumplanung im Konzert der öffentlichen Aufgaben und der Wissenschaften nicht gerade dadurch, dass sie vermeint, alles aus sich selbst heraus leisten zu müssen, so mit eigenen Kompetenzen im Bereich der Methodik? Gut aber ist es, dass die ARL über Autoren aus Wissenschaft und Praxis sowie aus diversen Disziplinen verfügt, die sich auf die Aufgabe der Raumplanung zu konzentrieren verstehen.
Martin Lendi
Quelle: disP 185, 2/2011, S. 89-90
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