Jeremy Black: Geopolitics. London 2009. 236 S.
Seit den frühen 1990er Jahren haben namenhafte Geographen wie John Agnew, Simon Dalby und Gearóid Ó Tuathail der Politischen Geographie eine klar konstruktivistische Ausrichtung gegeben. Der physiokratische Ansatz von Halford Mackinder, der einst das Fundament der Geopolitik bildete, wird heute wie auch die geopolitischen Beiträge amerikanischer Politikberater wie Henry Kissinger von Geographen nicht mehr aufgegriffen.
Mit diesem konstruktivistischen Bias zu brechen, hat sich der Britische Historiker Jeremy Black für seine Monographie Geopolitics zum Ziel gesetzt: Es gebe „objektive Faktoren" wie Raum, Entfernung und Ressourcen, deren Auswirkungen nicht ignoriert und weggewünscht werden könnten. Geopolitik definiert Black als Beziehung von machtorientierter Politik und Geographie, wobei in Bezug auf letztgenannte Lage und Entfernung im Vordergrund stünden. Mit Hinblick auf außenpolitische Strategien ginge es bei Geopolitik darum, geographische Zwänge und Möglichkeiten aus der Sicht der entscheidenden Akteure zu verstehen.
In sieben Kapiteln zeichnet Black die Entwicklung geopolitischen Denkens vom Altertum bis zur Gegenwart nach. Dass sich Kapitel 2 um die diskursiv geschaffene Bedeutung von Grenzen dreht, verwundert angesichts der zuvor erfolgten Fundamentalkritik an der Kritischen Geopolitik. Ähnlich wie Vertreter der Kritischen Geopolitik erläutert Black, dass Grenzen und Territorialität im Mittelalter eine völlig andere Bedeutung als in der Moderne hatten: Grenzen waren eher Übergangsräume als fixe Linien; Herrschaftsterritorien dementsprechend ungenau an den Raum gebunden und u.a. durch überlappende Gerichtsbarkeit gekennzeichnet. Im Übergang zum modernen Verständnis von Grenzen und Territorialität, verbunden mit dem staatlichen Gewaltmonopol, sieht Black den wesentlichen Faktor für den Aufstieg der Geopolitik als politikberatender Wissenschaft. Sie ist ein Nebenprodukt des Nationalstaates und somit ganz im Sinne der Kritischen Geopolitik an eine sozial konstruierte Ordnung der Welt gebunden, die als quasi natürlich gegeben gilt. Doch für Black geht es bei Geopolitik nicht um derart grundsätzliche Fragen. Als Politikberatung dient Geopolitik dazu, räumliche Unterschiede zwischen Staaten von der Ressourcenausstattung bis zur Bevölkerungsdichte zu erfassen, um daraus die Entwicklung des internationalen Systems, beispielsweise die Expansion einiger Staaten, zu erklären. In diesem Sinne sind zunächst Karten ihr entscheidendes Produkt. Nur auf der Grundlage möglichst exakter Karten waren die Staaten der Frühen Neuzeit in der Lage, ihre Expansion militärisch und wirtschaftlich erfolgreich zu planen. Insbesondere in Bezug auf taktische und strategische Erwägungen der Kriegsführung weist Black in Kapitel 3 nach, wie bedeutend der kartographische Input von Geographen bzw. Geopolitikern war. Erneut macht Black – wohl gegen seine eigenen Intentionen – deutlich, worin die Berechtigung der Kritischen Geopolitik liegt: Nicht Geographie wie sie objektiv vorhanden ist, sondern das subjektive, beispielsweise durch Karten vermittelte Wissen über Geographie erklärt menschliches Handeln. An der imperialistischen Projektion europäischer Vorstellungen von territorialer Staatlichkeit verdeutlicht Black, dass Ideen Räume formen. Politisch-geographische Phänomene sind sozial konstruiert. Spätestens an diesem Punkt hat es Black geschafft, das eingangs formulierte Anliegen in sein Gegenteil umzuwandeln: Er legt ein Plädoyer für Re- und Dekonstruktion als Zweck der Politischen Geographie vor.
Was für eine realistische Perspektive bleibt, ist lediglich das Rekurrieren auf Geopolitik als Politikberatung. In Kapitel 4 führt Black dies näher am Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht aus: Im Sinne des Descartes'schen Rationalismus verstanden geopolitische Politikberater dieser Zeit das internationale System als Maschine, deren Räder, sprich Staaten, ineinander greifen und sich auf diese Weise gegenseitig beeinflussen. Geopolitik wurde zur Wissenschaft über zwischenstaatliche Allianzen und Machtgleichgewichte. Sie lieferte Informationen darüber, wo und wie strategische Lagenachteile anderer Staaten ausgenutzt werden konnten. Gleichzeitig trat geopolitisches Denken als innerstaatlicher Machtdiskurs auf. Über ihn suchte jeder Staat ein gemeinsames Nationalinteresse zu konstruieren, das die koloniale Expansion rechtfertigte. Die Verbindung von Diskurs und materiellen Faktoren gelingt Black hier besser als zuvor: Die Amerikanische Revolution lasse sich auch auf eine geopolitische, also räumliche Veränderung zurückführen. So seien die englischen Kolonien an der Ostküste Nordamerikas nach und nach von einer transatlantischen Orientierung zu einer kontinental-amerikanischen Ausrichtung umgeschwenkt. Die britischen Händler, die einst die Kolonien gegründet hatten, verloren erst wirtschaftlich, dann politisch die Kontrolle über eine in den schier endlosen amerikanischen Kontinent hinein expandierende Siedlergesellschaft – räumliche Prozesse prägen Politik.
Während in Kapitel 2 bis 4 Zeitepochen angesprochen werden, auf die Geographen, die sich mit der Wissenschaftsgeschichte der Geopolitik befassen, in aller Regel keinen Bezug nehmen, bietet Kapitel 5 eine Einbettung der klassischen Geopolitik in ihren zeitlichen Kontext. Black führt aus, wie die zwischenstaatliche Rivalität des Hochimperialismus Phänomene hervorrief, welche Geopolitiker wie Friedrich Ratzel und Mackinder mit ihrer realistisch-räumlichen Perspektive auf die internationalen Beziehungen erklären konnten. Ratzel und nach ihm der schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén konzipierten Staaten als organische Lebensformen, die miteinander um „Lebensraum" kämpfen. Ihre Stärke und Expansion ergebe sich aus ihrer geographischen Verwurzelung bzw. ihrer Bodenständigkeit. Ebenfalls politikberatend, jedoch – wie Black leider nur implizit herausarbeitet – nicht sozialdarwinistisch argumentierte der Brite Mackinder. Er brachte physio-geographische Argumente, beispielsweise das Vorkommen von Rohstoffen, mit einem Lagedeterminismus, u.a. Zugang zu den Weltmeeren, und technologischen Erwägungen zusammen. Zeitgleich zum Geodeterminismus der klassischen Geopolitik entwickelte sich mit dem französischen Possibilismus ein völlig anderer Ansatz. Paul Vidal de la Blache zufolge waren die menschlichen Einflussmöglichkeiten auf die Natur nahezu unbegrenzt. Geographie sei nichts natürlich Gegebenes, das Politik determiniere. Geographie sei von Menschen entlang vorgefundener natürlicher Parameter gemacht. Hierauf aufbauend untersuchte Lucien Febvre sodann „Lebensstile", die unterschiedliche Arten der Mensch-Umwelt-Interaktion bedingten und Staaten bzw. „Zivilisationen" charakterisierten.
Obwohl Black viel bereits Bekanntes und breit Diskutiertes wiederholt, liefert sein Buch in einigen Punkten doch neue Ansätze und Erkenntnisse. Hierzu zählen seine Ausführungen zum Verhältnis von Geopolitik und Nationalsozialismus. Tenor in der Aufarbeitung der Vergangenheit der deutschsprachigen Geographie ist heute, dass Geopolitik nicht nur durch Personen wie Karl Haushofer, sondern auch durch ihr Gedankengut aufs Engste mit dem Nationalsozialismus verwoben war. Diesbezüglich zeigt Black fundamentale Differenzen zwischen den grenzenlosen Expansionsvorstellungen der NS-Ideologie und den rationalen Konzepten der deutschsprachigen Geopolitik auf. Zweifellos waren sich Nationalsozialisten und deutschsprachige Geopolitiker darin einig, dass es galt, den Versailler Vertrag zu revidieren und die „Volksdeutschen" „heim ins Reich" zu bringen. Allerdings war Haushofer ausgesprochener Befürworter des deutsch-sowjetischen Bündnisses. Wenige Monate vor „Operation Barbarossa" veröffentlichte er ein Buch, in dem die anti-maritime Allianz zwischen Deutschem Reich, Japan und der Sowjetunion mit Mackinders Heartland-Theorie begründet wurde. Im Jahr 1940 hatte das Deutsche Reich aus Haushofers Sicht ein geopolitisch sinnvolles Ausmaß erreicht und war zur Status-Quo Macht geworden. Seine außenpolitischen Ziele könne es nur gemeinsam mit der Sowjetunion gegen den amerikanisch-britischen Block verwirklichen.
In Kapitel 6 betrachtet Black Geopolitik im Kalten Krieg. Robert Strausz-Hupé, einer der prominentesten geopolitischen Politikberater, sah in der Suche nach Wegen zur Wahrung des Status Quo den Anknüpfungspunkt zu Mackinder, dem es auch um dem Status Quo gegangen sei, wohingegen die deutschsprachige Geopolitik der Zwischenkriegszeit revisionistische Ziele verfolgt habe. Doch Geopolitik als politikberatende Wissenschaft stand im Kalten Krieg vor einem grundsätzlichen Rechtfertigungszwang: Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen schienen der Welt eine isotrope Oberfläche gegeben zu haben. Auch der ideologische Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus teilte die Welt scheinbar recht simpel in zwei Lager. Geographie verlor dementsprechend in den USA als Studienfach an Bedeutung. Politische Geographen wie Richard Hartshorne, Jean Gottmann und Stephen Jones verfolgten Ansätze, die eher länderkundlich als eine Analyse von Macht und Raum waren. Erst mit Saul Cohen arbeitete ein Geograph erneut heraus, dass die Welt in geopolitischer Hinsicht vielschichtiger war als das Lagerdenken des Kalten Kriegs suggerierte und dass Geostrategie regionale Spezifika berücksichtigen musste. Unter Geographen blieb Cohen jedoch ein Einzelkämpfer. Politikberater, die Black als „Verteidigungsintellektuelle" bezeichnet, prägten Geopolitik. Ihnen ging es um Machtgleichgewichte, Einflusssphären und die Wahrung des Zusammenhalts des Westblocks. Außerdem blieb Geopolitik weiterhin deckungsgleich mit politikwissenschaftlichem Realismus. So war für Kissinger nationale Sicherheit das Hauptinteresse jedes Staates und damit der Kernbestandteil von Geopolitik. Lage, Ressourcenausstattung und geschichtliche Erfahrungen betrachtete Kissinger als entscheidende Faktoren. Ideologie spielte, wie das von Kissinger eingeleitete Zugehen der USA auf die Volksrepublik China zeigte, keine Rolle für geopolitische Praxis.
Mittels der Gleichsetzung von Geopolitik und Realismus arbeitet Black in Kapitel 7 heraus, dass geopolitisches Denken mit den außenpolitischen Leitideen der amerikanischen Neokonservativen nicht vereinbar ist. Denn neokonservative Außen- und Sicherheitspolitik beruhe auf der Annahme, dass innenpolitische Faktoren, genauer die Herrschaftsform, das außenpolitische Verhalten von Staaten beeinflussen. Neokonservative befürworteten Regimestürze zwecks Demokratisierung aus sicherheitspolitischem Eigeninteresse. Geopolitikern wie Kissinger seien derartige Überlegungen fremd gewesen. Neben dieser Analyse des Neokonservatismus zeigt Black Perspektiven für eine Geopolitik des frühen 21. Jahrhunderts auf: Sie müsse eine regionsspezifische Perspektive einführen, um regionale Prozesse als Triebkräfte der internationalen Beziehungen und entscheidende sicherheitspolitische Herausforderungen begreifbar zu machen. Dies solle mit Fokus auf die beiden derzeit geopolitisch bedeutendsten Faktoren geschehen: Erdöl und Religion. Dass Geopolitik als Untersuchung des Einflusses naturräumlicher Faktoren auf Politik auch heute eine große Relevanz besitzt, führt Black abschließend auf den gegenwärtigen Klimawandel zurück. Dieser schaffe objektive, naturräumliche Gegebenheiten, an die sich Politik anpassen müsse. Hier fehlen allerdings Verweise auf den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu Klimawandel als Konfliktursache, beispielsweise die Analysen des „Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen". Eine Möglichkeit eine derart materialistische Geopolitik mit der Analyse von Diskursen zu verbinden, eröffnet Black, indem er sich im Schlusskapitel dafür ausspricht, Geopolitik als machtorientierte Argumentationen aufzufassen, in denen aus dem Einfluss materieller Strukturen im Raum auf Politik unterschiedliche Handlungsanweisungen gezogen werden können.
Unklar bleibt jedoch über alle Kapitel hinweg, welche Fragestellungen für Black von Geopolitik behandelt und welche Faktoren zu deren Beantwortung herangezogen werden. Die eingangs formulierte rein materialistische Ausrichtung hält der Autor nicht durch. Wie gezeigt befasst er sich zumeist mehr mit Diskursen und subjektiven Sichtweisen als mit naturräumlichen Kategorien. Sein Buch wirkt wie eine äußerst langatmige Chronologie geopolitischen Denkens mit ab und an eingeschobenen Wertungen. Weder bringt Black die wiedergegebenen Beiträge anderer in eine Systematik, noch arbeitet er ein geopolitisches Analyseraster heraus, mit dem Hypothesen zu spezifischen Fragen generiert oder in der Geopolitik zu berücksichtigende unabhängige Variablen erschlossen werden könnten. Trotzdem bietet das vorliegende Buch Informationen, die sich in von Geographen geschriebenen Wissenschaftsgeschichten nicht finden. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Ausführungen in Kapitel 2 bis 4. Auch die Geopolitik des 20. Jahrhunderts ist
zeitgeschichtlich in einer Detailfülle kontextualisiert, die auch Kennern der Materie Neues bietet. Sachliche Fehler tauchen lediglich an einem Punkt auf: Den marxistischen Geographen David Harvey in die Tradition der Kritischen Geopolitik zu stellen, ist schlichtweg falsch.
Darüber hinaus hätte Black auch die Auseinandersetzung mit der Kritischen Geopolitik ausbauen sollen. Er macht deutlich, dass Kritische Geopolitik oft lediglich als scheinbar wissenschaftlicher Rahmen für Kritik an der außenpolitischen Praxis der USA dient. Nun ist es grundsätzlich nicht verwerflich, im wissenschaftlichen Kontext die Außenpolitik irgendeines Staates zu kritisieren. Wie Black durch Zitate aus Werken von Anhängern der Kritischen Geopolitik zeigt, wird diese subjektive Kritik jedoch als objektives Ergebnis der vermeintlich neutralen Analysemethoden der Kritischen Geopolitik präsentiert. Kritische Geopolitik beruht auf der Annahme, dass die gegenwärtige Ordnung der Welt ungerecht sei. Derart politisiert, proklamieren ihre Vertreter die Aufgabe, die gegenwärtige Weltordnung auf dem Wege der Dekonstruktion als illegitim darzustellen und auf eine gerechtere Weltordnung hinzuwirken: „Political geographers", so John Agnew, „must finally choose whether to be agents of an imagination that has imposed manifold disasters on humanity […] It is past time to choose sides" (zitiert bei Black, S. 9). Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Kritischen Geopolitik, die Black einfordert und für die er zahlreiche Ansätze liefert, muss erst noch geschrieben werden. Das vorliegende Buch bietet sie leider nicht.
Sören Scholvin
Zitierweise:
Sören Scholvin 2012: Rezension von Jeremy Black: Geopolitics. London 2009. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1529-jeremy-black-geopolitics
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