Raul Zelik u. Elmar Altvater: Vermessung der Utopie: Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. München 2009. 206 S.
»Es herrscht Klassenkampf, und meine Klasse gewinnt.« (65) Dieser Satz des us-amerikanischen Investors Warren Buffet beschreibt die neoliberale Umgestaltung ab Mitte der 1970er Jahre. Als Resultat sehen Verf. eine vierfache Krise – Finanzkrise, Überproduktionskrise, Armutskrise, Klimawandel – des Kapitalismus, die das Gesamtsystem in Frage stellt. Verf. haben in zwei Monaten 20 Stunden über diese Situation diskutiert und eine Bestandsaufnahme vorgelegt: zum Begriff »Ökonomie«, zu den Krisen und ihrem Management, zum gescheiterten Sozialismus sowie der kommenden Gesellschaft.
Die dabei vorgenommene »Vermessung der Utopie« ist »ein einigermaßen sonderbares Unterfangen«, doch zeige die gegenwärtige Krise die Notwendigkeit für die Richtungsbestimmung einer linken Politik (7). Altvaters Forderung nach einer staatlichen Konversionspolitik, der Schaffung von Arbeitsplätzen, die die Befreiung von Arbeit, mehr arbeitsfreie Zeit und soziale Sicherheit ermöglichen, »entsetzt« den 30 Jahre jüngeren Zelik, der eher radikalemanzipatorische Ansätze vertritt. Gemeinsam ist Verf. die Kritik an den »Zwangsgesetzen« der neoliberalen Marktideologie und ihres Umgangs mit gesellschaftlichen Krisen. So tritt z.B. in der Logik des Marktes Verschmutzung nur als externer Effekt auf, der internalisiert, also als Preis sichtbar gemacht werden muss. CO2-Zertifikate geben Informationen, der Marktmechanismus greift und rationale Entscheidungen sind möglich. Doch solange die entstehenden Kosten bezahlt werden, gibt es keinen Grund, sie zu verringern: »Man kann die Natur nicht dadurch retten, dass man das Recht sie zu verschmutzen in eine an der Leipziger Strombörse handelbare Ware verwandelt.« (46) Der Emissionshandel erlaubt Reichen die Verschmutzung und verwandelt Menschen mit prinzipiellen Rechten auf Luft, Wasser und Nahrung in Konsumenten, deren Teilhabe durch die ihnen zur Verfügung stehende Geldmenge bestimmt wird. Gleichzeitig wurden bei seiner Einführung die Obergrenzen so hoch festgelegt, dass kein Energieversorger gezwungen ist Rechte hinzuzukaufen, daher fielen die Preise der Zertifi kate, der erhoffte ökonomische Anreiz zur Emissionsreduktion verpufft. In der BRD ist ihr unterstellter Preis jedoch im Strompreis bereits einkalkuliert: Die Haushalte zahlen für einen Klimaschutz, den es auf Betreiben der Konzerne nicht gibt (48).
In der Rückbesinnung auf keynesianische Konzepte sehen Verf. eine Sackgasse (66f). In der Periode der Blockkonfrontation war den westlichen Staaten ein sozialer Kompromiss eingeschrieben, der auf die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und die damit einhergehende Attraktivität der Sowjetunion zurückging. Mit der keynesianischen Politik sollte die Integrationskraft des Westens unter Beweis gestellt werden. Bis vor ein paar Jahren ein Steckenpferd der Linken, ist der neokeynesianische Diskurs mittlerweile als oligarchisches Machtinstrument in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Die Staatsintervention dient dazu, die bestehenden Verteilungs- und Produktionsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Die Hinwendung der Neoliberalen zu staatlichen Eingriffen stellte ein ideologisches Problem für die Linke dar: »Da sie unerwartet einen staatsgetriebenen Neoliberalismus erfunden haben, scheint sich eine gewisse Nähe zum alten Keynesianismus zu ergeben, also auch zu linken Positionen. Und die Linke wiederum hat die größten Schwierigkeiten, das zu begreifen.« (72) Ähnlich verhält es sich mit ehemals linken Positionen eines »Green New Deal«, die in einer Mischung aus Staatsintervention und Marktinstrumenten behaupten, ökologische Erneuerung und kapitalistisches Wachstum versöhnen zu können. Laut Altvater müsse die Linke zwar innerhalb des Kapitalismus handeln und Chancen zur Verbesserung der Lage nutzen, dabei jedoch die längerfristige Perspektive nicht aus den Augen verlieren: Den Übergang zu einer Ökonomie der Zeit, zu freier Zeit als Maß des Reichtums, die den Menschen statt der Kapitalverwertung in den Mittelpunkt stellt (32). Ursache für das Scheitern des Staatssozialismus sehen Verf. in der grundlegenden Orientierung auf Wachstum, die sich vom kapitalistischen Widerpart nicht qualitativ unterschied. Sie konstatieren einen Mangel an gesellschaftlicher Emanzipationsbewegung und die Entwicklung eines »halben Fordismus« mit mangelnder Dynamik des Konsumgütersektors. Die strukturelle Krise ab den 1960er Jahren war zwar mit intensiven Reformdebatten verbunden, führte jedoch im Gegensatz zum Westen nicht in eine gesellschaftliche Modernisierung.
Anknüpfungspunkte bietet Verf. Lenins voluntaristische Strategie, in politischen Aktivitäten, die über das »objektiv Gegebene« hinauszielen (136). In Verbindung mit Basisbewegungen können derartige Strategien Reformprozesse einleiten, die in dauerhafte Strukturen münden. Ziele sehen Verf. in einer gesicherten Grundversorgung mit Gesundheit, Bildung, Trinkwasser und Energie in Gemeineigentum, einer Bekämpfung gesellschaftlicher Ungleichheiten durch konsequente Anwendung der progressiven Einkommenssteuer, der Unternehmens- und Vermögensbesteuerung, einer Vergesellschaftung von Großunternehmen und die Veränderung der Produktion nach sozialen und ökologischen Kriterien. Zur Förderung von Demokratie und Kooperation sollen Initiativen unterstützt werden, in denen Arbeit demokratisch-solidarisch organisiert ist. Als Beispiel gilt Verf. die Herstellung digitaler Gemeingüter (commons) (154f). Konsequenterweise ist ihr Buch im Internet als kostenloser Download erhältlich. Ein über unmittelbare Forderungen hinausgehendes gesellschaftliches Projekt ist nicht erkennbar. Zwar werden wichtige Punkte wie die Eigentumsordnung und Fragen der Wirtschaftsplanung angesprochen, bleiben jedoch in ihrer konkreten Form unbestimmt.
Ansätze für eine Transformation sehen Verf. in sozialen Milieus, in denen Solidar- statt Äquivalenzprinzipien vorherrschen, in denen Menschen also kooperieren, ohne dafür eine unmittelbare Gegenleistung zu erwarten, im Genossenschaftswesen oder in Betriebsbesetzungen in Lateinamerika (148f). Für die Herstellung eines Ordnungsrahmens ist dabei eine »›Politik von oben‹« unverzichtbar, »um die Rahmenbedingungen für eine gesellschaftliche Transformation zu schaffen« (153). Emanzipatorische Bewegungen müssen daher »zwar gegen den Staat antreten, dies irgendwann aber auch im Staat tun« (168). Notwendig dazu ist eine Dialektik von »Analyse und voluntaristischer Utopie« (141); denn die von Verf. angestrebte Transformation erfordert sowohl das Aufgreifen des gesellschaftlich Vorhandenen als auch den Willen zum Konfl ikt und zum Bruch mit dem Bestehenden: »So wie Hefe das Brot auftreibt, müssen voluntaristische Aktionen und strategische Analysen im selben Teig wirksam sein und ihn über die Ränder treiben.« (Ebd.)
Jan Köstner