Ulrich Eisel: Landschaft und Gesellschaft. Räumliches Denken im Visier. Münster 2009. 309 S.
Zur Notwendigkeit eines nachholenden Theoriediskurses
Dieser Sammelband enthält unterschiedliche erkenntnistheoretische Beiträge von U. Eisel zur Paradigmenentwicklung in der Geographie. Drei zentrale Kapitel seiner wegweisenden Dissertation, die als Band 17/1980 in Urbs et Regio – Kasseler Schriften zur Geographie und Planung erschien, werden ergänzt durch fünf, an unterschiedlichen Orten publizierte Aufsätze aus den 80er Jahren, weiterhin durch einen Beitrag aus dem Jahr 1993 und durch zwei weitere zeitnahe Beiträge aus den Jahren 2003 und 2009.
Der einführende Artikel aus dem Jahr 2009 akzentuiert das erkenntnistheoretische Interesse von U. Eisel, das letztlich auf die Rekonstruktion der paradigmatischen Denktraditionen der Kultur- und Anthropogeographie abzielt. Konkret fragt er nach den Bedingungen „einer ideologiekritischen Rekonstruktion des disziplinären Fortschritts". Zugleich erläutert er einleitend das Zustandekommen seines Rekonstruktionsprogramms und das grundlegende Verhältnis von Paradigmen zu ihrem gesellschaftlichen Entstehungshintergrund. Er zeigt im Einzelnen, wie das idiographische Weltbild der klassischen Geographie und ihre Idee von der Einheit der Natur Denktraditionen begründet und wie über die Differenzierung nach Schlüsselbegriffen, z.B. nach konkreter(m) und abstrakter(m) Natur bzw. Raum oder jene nach konkreter, naturgebundener und abstrakter Subjektivität ein „Sinnspender" für das Verständnis der geographischen Paradigmenentwicklung (oder besser: Paradigmenkontinuität) gewonnen werden kann. Durch den parallel laufenden und konsequenten Rückbezug auf die jeweils wirksamen politischen Leitbilder und die Philosophie des Fortschritts werden von U. Eisel die Selbstreflexionen der Geographen quasi gesellschaftstheoretisch gespiegelt und in ihren Kontinuitäten und (z.T. scheinbaren) Brüchen sichtbar gemacht. Immer geht es ihm dabei um die Herausarbeitung eines Strukturkerns des geographischen Paradigmas und um das Verbindende in den heterogenen Ansätzen.
Die erkenntnistheoretischen Überlegungen U. Eisels gründen auf einer politisch-philosophischen Reflexionstheorie, die – ohne dass ein politischer Standpunkt eingenommen wird – eine völlig neue Sicht auf die Paradigmenentwicklung in der Geographie freigibt. Leider haben die Erkenntnisse von U. Eisel in der bislang veröffentlichten Disziplingeschichte kaum Beachtung gefunden. Eine Ausnahme bildet hier mit vielen Bezugnahmen Gerhard Hard, der mit seinen kritisch-reflexiven Einlassungen die geographische Theoriedebatte der letzten über 40 Jahre wesentlich mitgeprägt hat. Jüngst stellte Heiner Dürr ( in: Rundbrief Geographie H. 221, 2009, S.10) heraus, dass das Werk von U. Eisel bisher „zum Schaden des Faches Geographie übersehen (oder stigmatisiert?) worden" sei. Dieser Einschätzung schließt sich der Rezensent uneingeschränkt an.
Es versteht sich von selbst, dass die hochtheoretischen und anspruchsvollen Texte dieses Sammelbandes nicht immer leicht zu lesen sind. Wer sich aber auf die Gedankenführungen sowie systematischen und stringenten Rekonstruktionen von U. Eisel ohne „Knoten" im Vorverständnis einlässt wird sie mit großem Gewinn im Theoriediskurs der Geographie zu nutzen wissen. Wenn sich bisher auch offensichtlich viele Fachtheoretiker und Fachwissenschaftler dieser Methodologie einer geographischen Paradigmenrekonstruktion verschlossen haben, so könnten sich viele doch – wenn auch verspätet – durch diese kritischen Ausführungen zu traditionellen theoretischen Denkfiguren produktiv verunsichern lassen.
U. Eisel arbeitet vor allem in seiner Dissertation sowie ergänzend und vertiefend in den weiteren Beiträgen heraus, dass seit dem späten 18. bzw. dem frühen 19. Jahrhundert ein Kernparadigma entstand, das man verkürzt umschreiben kann mit „der konkrete, territorial gebundene Mensch im Gleichgewicht bzw. im Konflikt mit konkreter regionalökonomischer Natur". Es lässt sich nachweisen, dass dieses Paradigma der klassischen Geographie bis in die jüngste Paradigmenentwicklung des Faches wirksam ist und dass dessen Kern alle Umbrüche z.B. zum spatial bzw. behavioral approach überdauert hat.
Das geographische Kernparadigma entsteht, wie U. Eisel verdeutlicht, im Kontext der explorativen Reisebeschreibungen, vornehmlich der kolonialen Entdeckerreisen. Es ist verbunden mit der Philosophie Herders und verarbeitet dessen Vorstellung von einer „Einheit der Welt" als organische Anpassungsprozesse in konkreter Natur, die „als humanistische Kosmologie oder als christliche und organizistische Mensch-Natur-Theorie" entworfen wird. Diese teleologische Kernvorstellung „der organischen Anpassung von Gesellschaften an konkrete Natur in der Perspektive und Verpflichtung der Bestandsaufnahme der Erde" konstituiert Geographie als konservatives, gegen die aufgeklärte Philosophie des Fortschritts gerichtetes Reduktionsprinzip. Mensch und Gesellschaft werden folgerichtig in diesem Theoriekern in idiographischer Sicht als regional bzw. territorial verortete Lebensformen interpretiert, und zwar auch noch dann, als dieses antimoderne und antiindustrielle Interpretationsmodell bereits nachhaltig obsolet geworden war.
Landschaft und Land bzw. Landschaftskunde und idiographische Länderbeschreibung sind die geographischen Konstrukte, die die Anpassungsleistungen von Mensch/Gesellschaft an konkrete Natur sichtbar machen. Im inhaltlichen Fokus stehen harmonische Landschaft und harmonisches landschaftsgebundenes Leben auf dem Land, die den Handlungsrahmen für die Verwirklichung von subjektiver Freiheit und Autonomie abgeben. In diesem Kontext konstituiert sich die Geographie als eine idiographische Einheit von Natur- und Kulturlandschaftskunde. Dabei wird die Vorstellung befördert, dass sich die Gesellschaft durch ihre fortwährende Auseinandersetzung mit dieser Natur zugleich von dieser emanzipiert.
Die klassische Geographie analysierte ihr materielles Objekt in diesem Zusammenhang nicht naturwissenschaftlich, sondern im Prinzip hermeneutisch als „Wohn- und Erziehungshaus konkreter regionaler Lebensformen". Heute ist man geneigt zu sagen, dass sie eine Art teleologisch inspiriertes „Spurenlesen in der Landschaft" war. Dieses auf konkreter ökologischer Natur und einem naturgebundenen" Subjekt beruhende Interpretationsmodell war nicht in der Lage, gesellschaftlich-industrielle Veränderungsprozesse adäquat einzuarbeiten. Das galt auch für die raumwissenschaftlichen und verhaltenswissenschaftlichen Ansätze in der Phase des Paradigmenumbruchs der 60er und 70er Jahre, in denen gesellschaftliche Prozesse auch noch stets im Rahmen ihres Naturbezuges gesehen wurden und dabei die Vorstellung einer „natürlichen Gesellschaftlichkeit" bzw. einer „Naturalisierung von Gesellschaft" vermittelt wurde. Selbst die frühe Sozialgeographie ist „im Schoße der Kulturlandschaftskunde" entstanden. Fortan ergibt sich eine Vermischung der Perspektiven und Weltbilder des klassischen und modernen Paradigmas, wobei idiographische, natur-/raumgebundene und subjektorientierte Denkweisen eine je unterschiedlich starke Rolle spielen.
Um Kontinuitäten in der Paradigmenentwicklung der Geographie zu verdeutlichen führt U. Eisel u.a. die erkenntnistheoretisch weiterführenden Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Natur ein sowie eine Differenzierung zwischen konkreter und abstrakter Subjektivität. Bestimmten anfangs die konkrete Natur und die konkrete, naturgebundene Subjektivität den Interpretationsrahmen der klassischen Geographie, so steht später, z.B. in den raumwissenschaftlichen und verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen der Rekurs auf abstrakte Natur, auf Raum und Raumfunktionen im Vordergrund im Sinne der Erfassung und Erklärung räumlicher Muster und Bewegungsvorgänge. Parallel dazu wird die konkrete ökologische Natur in der sich etablierenden Physischen Geographie als szientifische abstrakte Natur dargestellt. Grundsätzlich erhält dabei Raum als Abgrenzungskategorie seinen Stellenwert, er verkörpert jetzt jedoch die „Idee der Einheit in abstrakter Natur". Auf Seiten der Akteure verwandeln sich naturbestimmte, „regionale" Subjekte in rational handelnde, naturbeherrschende Subjekte, die allerdings nicht gesellschaftstheoretisch bestimmt werden. Sie werden eher im Sinne regional sozialisierter Menschen verstanden. Interessant sind in diesem Zusammenhang U. Eisels Ausführungen zu den modernen Ökophilosophien bzw. zu den dort verwendeten Begriffen „ökologisch" oder „natürlich", in denen die Idee der Einheit von Gesellschaft und Natur als Ressourcen für moderne Sinnbedürfnisse wieder neuen Aufschwung erfahren. Sie taugen jedoch in diesem Verständnis nicht als wissenschaftliche Leitbegriffe.
Demgegenüber sollte nach U. Eisel ein zukunftsfähiges sozialgeographisches Paradigma Räume in der sozialen Welt suchen und diese in kritischer Sicht gesellschaftstheoretisch bearbeiten. Eine wünschbare sozialwissenschaftlich fundierte Sozialgeographie sollte statt des klassischen Paradigmas „Regionen der Erde" die „Regionen in der Weltgesellschaft" als analytische Basiseinheiten behandeln.
Der vorliegende Sammelband liefert über die hier vorgestellten paradigmenbegründenden Reflexionen und Erkenntnisse hinaus eine Reihe weiterer interessanter Einsichten, z.B. in die Kontexte der Entstehung der Geographie als explorative Reisebeschreibung oder in die akademische Etablierung der Geographie als Lehrerausbildungs- und Schulfach, die ihr das Überleben als Universitätswissenschaft sicherte. Darüber hinaus behandelt U. Eisel in eigenen Beiträgen viele in die Paradigmenentwicklung hineinreichende Probleme wie „Regionalismus und Industrie", Landschaftskunde als materialistische Theologie" oder „Orte als Individuen". All diese Reflexionen und Erkenntnisse tragen dazu bei, die Geschichte der Geographie und ihres Theoriekerns in ihren Sinnzusammenhängen aufzuschlüsseln und die Eigenlogik ihrer Paradigmenkontinuität zu rekonstruieren.
Nicht nur allen theoretisch interessierten Geographen sondern auch Theoretikern aus Nachbarwissenschaften sei dieser Band von U. Eisel über „Landschaft und Gesellschaft" wärmstens zum Studium empfohlen. Jeder, der sich von U. Eisel auf diese bisher wenig ausgetretenen Pfade der theoretischen Diskussion entführen lässt, wird vielfältige Anregungen (und Verunsicherungen?!) erfahren im Hinblick auf die Paradigmenentwicklung allgemein und speziell in der Geographie und im Hinblick auf die Struktur des wissenschaftlichen Fortschritts.
Hans-Joachim Wenzel
Quelle: Erdkunde, 64. Jahrgang, 2010, Heft 2
zurück zu Rezensionen
zurück zu raumnachrichten.de