Konrad Hummler, Franz Jäger (Hg.): Stadtstaat – Utopie oder realistisches Modell? Zürich 2011. 244 S.

Der Ausgangspunkt und der Anlass sind als These gegeben: Die Schweiz ist eine Stadt, eine durchgrünte; sie ist gleichzeitig ein Staat, ein Kleinstaat zwar, sogar ein föderativer, ein liberaler und sozialer, ein demokratischer, auf alle Fälle ein Rechtsstaat. Und erst noch ein wirtschaftlich insgesamt erfolgreicher. Hinter jede dieser Aussagen lassen sich Fragezeichen setzen: Ist die Schweiz wirklich eine Stadt?

Ist sie ein «souveräner», oder wie ihre Verfassung formuliert, ein «unabhängiger» Staat, der sich in Eigenverantwortung selbst regiert? Ergibt sich daraus für die Zukunft so etwas wie ein «Stadtstaat-CH» mitten in Europa?

Dass der Lebensraum im Mittelland knapp wird, das ist erfahrbar. Die Agglomerationen beginnen sich gar zu überschneiden. Die beiden Metropolitanräume «Genève-Lausanne» und «Basel-Luzern-Zug-Zürich-Winterhur-Schaffhausen-Aarau» treten markant hervor, in der Aussen- und Innenwahrnehmung. Die Schweizerischen Bundesbahnen verkehren, abgesehen vom Nord-Süd-Transitverkehr, landesweit wie ein Tram, mit Taktfahrplan, im Halbstundenrhythmus, auf den Hauptlinien und in den S-Bahn-Bereichen sogar oft darunter. Das Strassennetz verästelt sich nicht minder; es vernetzt sich mit den Städten und Agglomerationen. Wohl folgen die Regierungsstrukturen den tradierten Formen, verhaftet den historischen Gebieten unter der Staatsform des Bundesstaates, doch die faktische Urbanisierung – von der räumlichen Entwicklung bis zu den Lebensstilen, löst sich von den Vorgaben. Der zweite und dritte Wirtschaftssektor sind die Stosskräfte. Die Zuwanderung beschleunigt. Das Städtische beginnt sogar die Tourismusgebiete zu berühren – mit Davos über St. Moritz bis Crans-Montana und Verbier als Beispiele: Urbanität
in der offenen Landschaft.

Und der Staat? Auch er verdient Fragezeichen. Da ist einmal nüchtern festzustellen, dass die Bundesverfassung von 1999, in Kraft seit 1. Januar 2000, an vielen Eckorientierungen der Verfassungen von 1848/1874 (trotz und mit Hilfe ihrer zahllosen Teil-Novellierungen) festgehalten hat, dass aber die Wirklichkeit der sozio-ökonomischen/politischen Vorgänge die tradierte Lesart aus dem historischen Kontext sukzessive überrundet. Sie muss gleichsam unter dem Druck der Realitäten der globalisierten Umwelt, der umgebenden EU/NATO wie auch ihrer wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen neu verstanden werden. Die äussere und innere «Unabhängigkeit» wie auch die strukturierte «Staatsleitung» und deren Organisation bedürfen denn auch spürbar neuer Akzente. Signale der keimenden Prozesse bilden einerseits die vielfältigen neuen Spannungsfelder rund um die Innen- und Aussenpolitik, gar mit Einschluss der Sicherheitspolitik, und anderseits der erhöhte Rhythmus der Veränderungen zulasten des Lebensraumes, der knapp wird und der von den Agglomerationen, Metropolitanräumen und den die Landesgrenzen überschreitenden Regionen (Tessin-Italien, Genève-Frankreich, Basel-Frankreich/Deutschland) bald einmal mehr geprägt wird denn durch die kantonalen und kommunalen Territorien.

Und damit wird klar: Die Schweiz ist tatsächlich nahe am Wandel zu einer Stadt, und dies vor dem Hintergrund eines veränderten internationalen Umfeldes. Es ist das grosse Verdienst des hier angezeigten Werkes, herausgegeben von Konrad Hummler und Franz Jäger, das Thema «Stadtstaat» zu lancieren, sicherlich mit Blick auf die Schweiz, dann aber doch wieder konfrontiert mit universellen Tendenzen, sogar mit dem kühnen intergedanken, neben den grossen Flächenstaaten und den zwischenstaatlichen Weltregionen, eine mit innovativen Kleinstaaten durchsetzte Weltenlandschaft zu skizzieren. Auf alle Fälle sieht sich die Schweiz neuen Herausforderungen gegenüber. Und diese wollen bedacht sein. Der kühne Impuls «Stadtstaat» regt an, erleichtert das Debattieren und das Gewinnen neuer Horizonte, jenseits der einst üblichen Nabelschau. Übrigens, das neue Werk greift auf eine interdisziplinäre Autorencrew, die mit auf den Weg genommen wird, von ihren Disziplinen her am künftigen Weg der Schweiz denkend zu arbeiten. Auf eine gewisse Art fühlt man sich an die aufregenden Zeiten der «Landesplanerischen Leitbilder» und schon früher der Kreise um die Neue Stadt mit Blick auf die Landesausstellung von 1964 erinnert – wenn auch nicht mit der Strahlkraft des Werkes von Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter: «Achtung – die Schweiz» (Zürich 1953) und der (für die damalige Zeit) wissenschaftlich reifen Arbeiten des interdisziplinär anregenden ORL-Instituts der ETH Zürich von 1971.

Wer von der neuen Publikation konkrete Antworten erwartet, der greift zu kurz. Wichtig ist derzeit, dass die Realität der werdenden «Stadt Schweiz» vom Ökonomischen, vom Gesellschaftlichen, aber auch vom Staatspolitischen her denkend erfasst wird: Der Kleinstaat in der globalisierten Welt (Katja Gentinetta), die City-Stadt ein makroökonomisches Erfolgsmodell (Franz Jäger), der Schlüssel zu einer besseren Welt (Reiner Eichenberger, Michael Funk), dann aber auch unter dem Gesichtspunkt der internationalen Rolle, etwa hin auf den Spielraum zwischen EU-Beitritt und eigenem Weg (Gerhard Schwarz). Und dies geschieht in diesem Buch, zwar da und dort zwiespältig, in Nuancen sogar widersprüchlich, mal sektoriell, dann philosophisch ausweitend (Georg Kohler) und staatspolitisch massvoll (Rainer J. Schweizer), prototypisch für die Schweiz, dann aber wieder, direkt oder indirekt international konkret (Urs Schoettli), bald aber doch wieder abstrakt, hier mit dem Insistieren auf dem Föderalismus wider den mitlaufenden Zentralismus (Robert Nef), häufig – zu häufig? – prononciert dem Wirtschaftlichen zugetan, trotzdem auch politisch
aufschlussreich, der Aufsatz über die Aussenwirtschaftspolitik für einen City-State (Heinz Hauser).

Lassen wir Einzelkritiken an den einzelnen Abhandlungen auf der Seite. Das was zählt, das ist der Hinweis von Konrad Hummler an der Buch-Vernissage von Ende Mai 2011 in Zürich, der «alten» Schweiz eine «junge» Fragestellung als Herausforderung für die jungen Menschen mit auf den Weg zu geben. Sein Schlusswort im annoncierten Buch zeugt von Souveränität inmitten politischer Fragwürdigkeiten. Und doch kann eine Frage nicht gänzlich offen gelassen werden, nämlich, welche universellen und/oder nachbarlichen Beziehungen muss die Schweiz – als Stadtstaat oder als traditionell verfasster Kleinstaat mit offenen Wirtschaftsrelationen – aktiv pflegen? Unter dem Strich lassen sich gewisse Antworten extrahieren: Wohl beide Dimensionen, die universellen und jene zur EU.

Wirklich schade ist eigentlich nur, dass einmal mehr die rechtlichen Hürden zu wenig intensiv angesprochen werden. Zwar haben die Autoren beinahe ausnahmslos die Ecksteine des Staatsverständnisses, insbesondere auch des schweizerischen, bedacht, doch nirgendwo ist deutlich genug gesagt, wie sehr der «Stadtstaat Schweiz» als kommende Wirklichkeit mit dem geltenden Recht, mit der geltenden Verfassung zu Recht kommen muss. Übrigens auch mit dem ausholenden Weltwirtschaftsrecht. Das Recht darf allein schon deshalb nicht marginalisiert werden, weil manche der Schritte mindestens unter den hiesigen Randgegebenheiten Verfassungsänderungen bedingen. Und diese setzen vorauseilende politisch-rechtliche Wachheit voraus.
Martin Lendi

Quelle: disP 186, 3/2011, S. 102-103

 

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