Ulrich Eisel: Landschaft und Gesellschaft. Räumliches Denken im Visier. Münster 2009. 308 S.

Bei der kritischen Diskussion gesellschaftlicher Raumverhältnisse dienen hierzulande gegenwärtig v.a. die angloamerikanische radical geography, Henri Lefebvre sowie poststrukturalistische Zugänge als theoretische Bezugspunkte. Die seit den 1960er Jahren geführten Theoriedebatten der deutschsprachigen Geographie werden hingegen kaum rezipiert. Dem will die vorliegende Textsammlung eines der Protagonisten dieser Debatten entgegenwirken.

 

Die mehrheitlich in den 1980er Jahren verfassten Texte verbindet ihre gemeinsame theoretische Problematik: Um die Geographie auf ihre gesellschaftliche Funktion hin befragen sowie die politisch-theoretischen Implikationen unterschiedlicher Raum-Begriffe offenlegen zu können, bedarf es Verf. zufolge einer Rekonstruktion der geographischen Wissenschaftsgeschichte. Eine solche versucht Verf. zu leisten, indem er kritisch an die wissenschaftstheoretischen Konzepte v.a. von Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos anknüpft und die Entstehung der zentralen Paradigmen der Geographie nachvollzieht. Ausgehend von der These, die Frage der gesellschaftlichen Anpassung an die Natur bilde die gemeinsame Grundlage geographischer Paradigmatik (23), untersucht Verf. die Ausprägungen dieser Paradigmatik vor und nach dem sog. Paradigmenwechsel der Geographie in den 1960er Jahren.

Im Zuge dieses Wechsels übernahm die Geographie eine moderne erfahrungswissenschaftliche Methodologie, der abstrakte (Funktions-)Raum wurde zum bestimmenden Paradigma. Zuvor war sie von einem idiographischen Paradigma geprägt: die Vorstellung von »Gesellschaft, Kultur und Geschichte als ›organische‹ Anpassungsprozesse in konkreter Natur« (116) diente als »harter Kern« (Lakatos) des geographischen Forschungsprogramms. Dies bedingte die Festlegung auf Land(-schaft) und Raum als Gegenstand sowie eine Methodologie, die auf dem Ideal unmittelbarer Beobachtung aufbaut. Verf. führt diesen organizistisch-naturalistischen Kern des traditionellen geographischen »Land- und-Leute«-Paradigmas darauf zurück, dass die Geographie im Kontext der kolonialen Praxis der Reisebeschreibung entstanden ist und dabei mit vorindustriellen, an spezifische räumliche Gegebenheiten angepassten Kulturen konfrontiert war. Seit sich diese unmittelbaren Mensch-Natur-Verhältnisse mit der kolonialen Durchdringung der Welt und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise überlebt haben, sei das traditionelle geographische Paradigma untrennbar mit einer konservativen und antimodernen Kulturkritik an der Abstraktheit und Universalität von industrieller Arbeitsteilung, bürgerlicher Demokratie usw. verbunden (148f, 295).

Vor diesem Hintergrund interpretiert Verf. den Paradigmenwechsel der 1960er Jahre als verspäteten Nachvollzug der realgeschichtlichen Prozesse der Demokratisierung und Industrialisierung, d.h. als das vorläufige Ende eines »langwierigen Anpassungsprozesses [einer] konservativen Weltperspektive an die nicht zu leugnende Realität« (177). Als Folge dieses Wechsels macht Verf. zwei gegenläufige Entwicklungen aus: Zum einen in Gestalt der Verhaltensgeographie in den 1970er Jahren die weitere Radikalisierung des Trends zur Abstraktion vom konkreten, physisch-materiellen Raum. Verf. argumentiert, dass so zwar der Anschluss an die übrigen Gesellschaftswissenschaften gelungen sei, aufgrund der weitgehenden Aufgabe der Naturadaptionsproblematik jedoch auch der Verlust des disziplinären, »räumlichen« Abgrenzungskriteriums drohe. Zum anderen finde im Kontext der Diskussion um die ökologischen Folgen der Industrialisierung inner- und v.a. außerhalb der Geographie eine neuerliche Hinwendung zum Paradigma der Landschaft statt. Da diese Neubesinnung auf konkrete Mensch-Natur-Verhältnisse in Form von Ökologie und Naturschutz die Gefahr einer Wiederbelebung der konservativen, potenziell völkischrassistischen Implikationen des traditionellen geographischen Paradigmas berge, müsse ein theoretischer Mittelweg zwischen altem und neuem Paradigma gefunden werden. Konkret nennt Verf. einen kapitalismus- und staatskritischen, am Ziel einer regionalen Reorganisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausgerichteten Regionalismus als mögliches »Paradigma der Zukunft« (184). Auf gesellschaftstheoretischer Ebene plädiert Verf. darüber hinaus dafür, die dominanten Formen gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur im Rahmen einer »rationalismuskritischen Wertformanalyse« (219) zu diskutieren und so die politischen Interventionen von Ökologie-, Frauen- und Arbeiterbewegung zusammenzuführen.

Dass der theoretische Gehalt dieser beiden Ansätze und ihr Verhältnis zueinander unklar bleiben, verweist auf eine grundsätzliche Problematik der Textsammlung: Durchgängig auf sehr hohem Abstraktionsniveau, opak formuliert und fast ohne Referenzen auf Theoriedebatten jenseits der deutschsprachigen Geographie, geben die Texte kaum Hinweise darauf, wie eine kritisch-materialistische Raumforschung tatsächlich aussehen könnte. Stattdessen verlieren sie sich in der wiederholten Reflexion der unterschiedlichen Paradigmen und deren ideen- bzw. philosophiegeschichtlicher Herleitung und internalistischer Interpretation. Politisch ärgerlich wird es, wenn Verf. unkritisch auf essenzialistische Kategorien wie »Abendland«, »christliche Kultur« oder »Basisstruktur moderner Vergesellschaftung« (267) Bezug nimmt oder suggeriert, von der paradigmatischen Ebene ließe sich direkt auf politische Inhalte schließen. So ist es zweifellos wichtig, vor möglichen Berührungspunkten von ökologischem Denken und völkischer Ideologie zu warnen. Deshalb jedoch eine nicht näher bestimmte Form der »Ökologisierung des Marxismus« (270) mit dem Argument zu verwerfen, auf einer paradigmatisch-strukturellen Ebene sei »rot gleich braun« (271), ist unhaltbar und politisch kontraproduktiv. – Empfehlenswert ist das Buch dennoch für jene, die sich aus wissenschaftstheoretischer und -geschichtlicher Perspektive mit Geographie als Fachdisziplin auseinandersetzen möchten.
Felix Wiegand

Quelle: Das Argument, 52. Jahrgang, 2010, S. 303-304

Lesen Sie auch die Rezension von Hans-Joachim Wenzel.

 

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