Peter Dirksmeier: Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land. Bielefeld 2009. 293 S.

Wir leben in einem Jahrtausend der Städte. Der Anteil von Menschen, die in städtischen Räumen leben, nimmt weltweit zu. Verbunden damit ist die kontinuierliche Ausbreitung der Städte in ihr Umland. Stadt und Land nähern sich an, nicht nur räumlich-funktional, sondern auch sozial und kulturell. Damit einhergehen die zunehmende Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft und die Diffusion eines urbanisierten Lebensstils über die Stadtgrenzen hinaus in den suburbanen und ländlichen Raum hinein.

Die zunehmende Auflösung des Stadt-/Land-Unterschiedes wirft die Frage auf, ob und inwieweit Urbanität ohne Stadt eigentlich gedacht werden kann? Wenn der physische Ort der Stadt nicht länger eine Voraussetzung für Urbanität darstellt, mittels welcher Kategorien kann dann im ländlichen Raum Urbanität empirisch gefasst werden? Wie sieht städtisches Leben auf dem Land aus?

Der Kultur- und Sozialgeograph Peter Dirksmeier entwirft in seiner Dissertation eine Theorie zur Analyse der Urbanisierung in nicht-städtischen Räumen der Bundesrepublik, die er in der eigenen Empirie anwendet und schließlich anhand der gewonnenen Ergebnisse auf ihre Leistungsfähigkeit hin untersucht. Gegliedert ist das Buch in drei Abschnitte. Im ersten Abschnitt entwirft der Autor eine Theorie der Urbanität, die Urbanität losgelöst von den baulichen Eigenheiten der Stadt denkt. Im zweiten Abschnitt stellt er seine Forschungsmethode mit Bezugnahme auf die qualitativ empirischen Arbeiten von Pierre Bourdieu vor und erläutert die Auswahl der Untersuchungsregion. Im dritten Abschnitt werden die gewonnenen Ergebnisse präsentiert und eine abschließende These formuliert.

Zunächst stellt Dirksmeier drei Theorien zur Urbanisierung („Subcultural Theory of Urbanism"; Theorien der „Neuen Urbanität" und der „Postmodernen Urbanität", S. 28ff) vor und fragt jeweils danach, welche Rolle der soziale und physische Kontext der Stadt für die Urbanisierung spielt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die gängigen Urbanitätstheorien nicht in der Lage sind, Urbanität ohne die Bedingung der Stadt zu betrachten.

Im Folgenden geht es um die inhaltliche Zuspitzung auf einen neuen Urbanitätsbegriff, der unabhängig von der baulichen Dichte der Stadt gedacht werden kann und den Akteur in das Zentrum der Analyse stellt. In einem ersten Schritt nähert sich der Autor zunächst über den Begriff der Fremdheit (S. 43ff.) an, da die Stadt als eine dauerhafte Ansammlung von sich fremden Menschen verstanden werden kann. Ein weiteres Charakteristikum von Urbanität ist die Individualisierung (S. 58ff.). Die dauerhafte Konfrontation des Städters mit dem Fremden veranlasst das Individuum dazu, die eigene Identität im Vergleich zum Anderen und der Gesellschaft zu bestimmen. Durch das Zusammenspiel von Fremdheit und Individualisierung in der Stadt erweitert sich der Möglichkeitsraum für das Eintreten von unerwarteten Ereignissen und Handlungen im Sinne der Kontingenz (S. 70ff.). Mit dieser Erweiterung geht die Zunahme an einzuschätzenden Bedrohungen (Risiken) und nicht zu kontrollierenden Gefahren im Alltag einher, was vor allem in der Komplexität der sozialen Umwelt und dem alltäglichen Leben in Großstädten der Fall ist. Als Kontingenzraum beschreibt Dirksmeier das wahrgenommene Verhältnis von Gefahr zu Risiko und leitet daraus ab, dass Urbanität dort gegeben ist, wo ein hohes Maß an riskanten Situationen wahrgenommen wird (S. 78). Ihm zufolge geht der Städter mit solchen riskanten Situationen aufgrund seiner Erfahrungen gewohnheitsmäßig und vertraut um, da sie zum bekannten Alltag der Großstadt hinzugehören (z.B. Unsicherheit in U-Bahnstationen).

In einem zweiten Schritt koppelt er den so erarbeiteten Urbanitätsbegriff mit der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu, um eine theoretische Begründung für die Ubiquität von Urbanität jenseits der Stadt als physischem Phänomen zu liefern.

Der Schlüsselbegriff des Habitus als verinnerlichte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdisposition dient als Erklärung dafür, dass Akteure immer nur innerhalb ihrer habituellen Grenzen handeln. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffen Habitus, Feld, Kapital und Raum (S. 94ff.), bevor Dirksmeier sein theoretisches Kapitel mit der These schließt, dass sich Urbanität im Habitus der Akteure widerspiegelt, also nicht an die physischen Strukturen der Stadt gebunden ist (S. 145ff.). Die Analyse des potenziellen Handlungsraumes im Habitus der Akteure stellt demnach eine zentrale Kategorie für die Bestimmung von Urbanität dar. Habituelle Urbanität ist als Ensemble an akkumulierten Kapitalien und verinnerlichten Eigenschaften zu verstehen, das die Wahrnehmung und die Grenzen des Handlungsraumes und den Umgang mit Ungewohntem beeinflusst.

Der so erarbeitete handlungsbezogene Begriff der habituellen Urbanität bietet den theoretischen Rahmen für die anschließende Auseinandersetzung mit der Frage, ob in modernen Gesellschaften noch Räume existieren, die als nicht-städtisch zu bezeichnen sind. Mittels der reflexiven Fotografie (als visuelle Methode), bei der die Probanden Fotografien erstellen, in Verbindung mit narrativen Interviews auf Grundlage der zuvor erstellten Fotografien (als textuelle Methode) nimmt Dirksmeier eine qualitative Habitusanalyse vor (S. 151ff.). Für die so geführten elf fotografischen Interviews wählt er als Referenzmaßstab für habituelle Urbanität zwei Gemeinden des sogenannten "arkadischen" Raums (Arkadien = das friedliche, liebliche und politisch stabile Land, welches ein naturnahes, sozial intaktes Leben fern aller Unwägbarkeiten und Gefahren der Zivilisation imaginiert, vgl. S. 179) im attraktiven ländlichen Süden Bayerns, Bodolz und Tegernsee, sowie die Großstadt München aus.

In der Darstellung seiner Ergebnisse orientiert sich Dirksmeier an den Antworten der Interviewpartner und gliedert diese in vier Themenbereiche (S. 187ff.). Zunächst stellt der Autor deren Assoziationen zu Stadt und städtischem Leben dar, die im Zusammenhang mit Begriffen wie Nachbarschaft, Institutionen, Gebäuden, Mobilität oder Kulturangebot geäußert werden. Anschließend vergleicht er das jeweils wahrgenommene Verhältnis von Risiko zu Gefahr, das durch die Schilderung der Gesprächspartner von Sicherheit, Nähe, Distanz und die Bedeutung von Interaktion mit dem Fremden beschrieben wird. Die jeweilige Ansammlung von residenziellem Kapital als Set von Eigenschaften, die sich durch die besondere Bedeutung des Wohn- und Geburtsortes akkumulieren, bildet eine weitere Kategorie zur Analyse der habituellen Urbanität in den Untersuchungsorten. Schließlich führt Dirksmeier die Kategorien zusammen und hält als Resultat der vergleichenden Analyse beider Subgruppen fest, dass die These einer vollständigen Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft für den Ausschnitt der untersuchten Regionen untermauert werden kann. Die von ihm betrachteten ländlich-attraktiven Gemeinden weisen ebenso städtisches Leben auf wie die Großstadt München. Er merkt kritisch an, dass weiterhin offen bleibt, ob sich diese Ergebnisse auch für den peripheren, weniger attraktiven ländlichen Raum bestätigen lassen.

In seinem Fazit kommt Dirksmeier zu dem Schluss, dass der „Beweis" (S. 265) für die vollständige Urbanisierung des arkadischen nicht-städtischen Raumes nun vorliegt. Für die zukünftige Forschung kann ihm zufolge die These aufgestellt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland vollständig habituell urbanisiert ist.

Das Buch bietet eine wissenschaftlich fundierte und theoretisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem sozialgeographischen Thema der zunehmenden Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft.

Peter Dirksmeier greift ein spannendes Thema auf und meistert die theoretische Herausforderung, die Urbanitätstheorien neu zu denken und mit Bezug auf Bourdieu ein eigenes Gedankengebäude zur Untersuchung seiner Fragestellung zu entwerfen. Für weniger soziologisch versierte LeserInnen wäre es wünschenswert gewesen, die hohe Komplexität der hier vermittelten Sachinhalte und die damit einhergehende Textfülle durch angemessen eingefügte Zwischenüberschriften, Tabellen und Karten aufzulockern. Insbesondere die innovative Verwendung von Fotografien als Gesprächsgrundlage für die Interviews lassen die Erwartung bei den LeserInnen steigen, dass die Aussagen der GesprächspartnerInnen durch deutlich mehr Fotografien unterlegt werden. Der „Beweis" für das städtische Leben auf dem Land hätte so deutlicher geführt werden können und das sehr kurze Resümee wäre damit besser nachvollziehbar gewesen.

Dennoch ist das anregende Werk von Dirksmeier nicht nur wegen seiner fundierten Aufarbeitung der Theorie der Praxis von Bourdieu eine empfehlenswerte Lektüre für all diejenigen StadtforscherInnen, die in der Sprache der Soziologie zu Hause sind und sich mit der Frage nach dem Wesen des Urbaniten und der Ausbreitung von urbanen Lebensstilen beschäftigen.
Katharina Brzenczek

Quelle: Erdkunde, 64. Jahrgang, 2010, Heft 2

 

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