Karl Stankiewitz: Wie der Zirkus in die Berge kamKarl Stankiewitz: Wie der Zirkus in die Berge kam. Die Alpen zwischen Idylle und Rummelplatz. München 2012. 302 S.

Der Autor arbeitete mehr als 40 Jahre lang als Reise- und Alpinjournalist in Bayern und Tirol, wobei für ihn als passionierten Bergsteiger die Alpen einen zentralen Stellenwert in seinen Arbeiten einnahmen.

Jetzt legt er am Ende seines 80. Lebensjahres eine Gesamtbilanz seiner Auseinandersetzung mit diesem Gebirge vor: „Das vergangene halbe Jahrhundert hat die Alpen gründlicher verändert, als es alle Jahrhunderte zuvor ermochten" (Buchrückseite). Ein solcher Rückblick, angefüllt mit zahllosen eigenen Erfahrungen, kann sehr aufschlussreich sein, aber er ist aus zwei Gründen – einem inhaltlichen und einem formalen – bedauerlicherweise nicht wirklich gelungen.

1. Zum Inhalt
1.1: Stankiewitz ist ein Vertreter der Münchner Alpensicht, die unter Journalisten sehr verbreitet war/ist: Deshalb bestehen die Alpen bei ihm geographisch in erster Linie aus den bayerischen, westösterreichischen und südtirolerischen Alpen, und inhaltlich steht die touristische Übererschließung im Zentrum: „Eine Welt voller Seilbahnen kommt in Sicht. Und alles konzentriert sich in den Alpen" (S. 159). Oder: „Abwehrkampf gegen die drohende Totalerschließung der Alpen" (S. 227). Diese Sichtweise ist aber nicht realitätsnah, weil der Tourismus in den Alpen kein flächenhaftes Phänomen ist (50% aller touristischer Betten konzentrieren sich in nur 5% der Alpengemeinden), und selbst im stark touristisch erschlossenen Gebiet der westlichen Ostalpen gibt es keine „Totalerschließung" – die beschriebenen Phänomene und Probleme, so wichtig sie auch für Teile der Alpen sind, sind jedoch keineswegs mit „den Alpen" identisch.

1.2: Stankiewitz vertritt eine ganz bestimmte Tourismussicht: „Wie schön .... war es doch ehedem, als man in den ... Alpen noch unter sich war. Als noch keine buntgewandeten Massen ... auf die höchsten Berge geschaufelt wurden und die einsamen Höhen lärmend bevölkerten" (S. 13). Diese Sichtweise des Tourismus („Touristen" sind immer nur die anderen, und die Probleme entstehen vor allem dadurch, dass  die Massen das nachmachen und entwerten, was Pioniere vormachen) ist sehr elitär und wurde bereits 1958 von Hans-Magnus Enzensberger fundamental kritisiert. Sie ist nicht geeignet, um dem Phänomen des alpinen Tourismus wirklich gerecht zu werden.

1.3: Wenn man die touristische Entwicklung von 1950 bis heute darstellen will, dann wäre es wichtig, unterschiedliche Entwicklungsphasen dabei herauszuarbeiten (z.B. 1955-85: Alpine Goldgräberzeit; 1985-2005: Stagnation auf hohem Niveau; ab 2005:
Großevents/Inszenierungen im Sommertourismus). Aber das macht der Autor nicht, sondern alle Phänomene werden mit dem immer gleichen Grundtenor („immer weiter voranschreitende touristische Erschließung der Alpen") präsentiert. Dadurch verwischen relevante Unterschiede, und der Text gerät zur Aufzählung.

1.4: Stankiewitz schreibt sehr häufig von „Zerstörung" der Alpen, ohne dass er das, was da zerstört wird (also die traditionellen Bevölkerungs-, Siedlungs-, Wirtschaftsstrukturen der Alpen und die damit verbundenen regionalen Kulturen) jemals thematisiert. Dadurch werden seine meist städtischen Leser geradezu motiviert, ihre (Zerr-)Bilder eines idyllisch-ländlichen Alpenlebens in die Alpen hineinzuprojizieren. Aber auf diese Weise kann man „Zerstörung" nicht angemessen thematisieren und kritisieren.

1.5: Stankiewitz berichtet jeweils unmittelbar über Ereignisse im Alpenraum, ohne sie in einen größeren Kontext zu stellen. Viele Entwicklungen in den Alpen lassen sich aber so gar nicht verstehen, weil sie eng mit europäischen und globalen Veränderungen verflochten sind (Entstehung des bezahlten Urlaubs, Kaufkraftsteigerungen der Löhne, billige Fernreisen) wie z.B. die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008-09, die zahlreiche große Erschließungsprojekte in den Alpen plötzlich platzen ließ. Die Darstellung wird durch das Fehlen des größeren Kontextes sehr kurzatmig.

2. Zur Herkunft der Texte
Die Texte dieses Buches bestehen aus Reportagen und Berichten aus der Zeit 1953 – 2000, deren Inhalte zwar nachrecherchiert und aktualisiert wurden, die aber als Texte selbst offenbar wenig verändert wurden. Dies ist die Ursache für folgende Schwierigkeiten:

2.1: Sehr viele Details und Namen, die zum Zeitpunkt, als der jeweilige Text geschrieben wurde, aktuell waren, sind heute uninteressant und lenken vom eigentlichen Inhalt ab. Analoges gilt für viele Pressekonferenzen, über die Stankiewitz Zeitungsartikel schrieb, die aber aus heutiger Zeit gut vergessen werden können, weil sie inhaltlich nicht mehr relevant sind. Das macht die Buchlektüre mühsam.

2.2.: Viele inhaltliche Punkte sind oberflächlich gehalten und teilweise schief dargestellt, z.B. die Biosol-Verwendung (S. 197), die Aussagen zur Alpenkonvention (S. 226 und 238 ff.) und zu den Nationalparks (S. 243 ff.). Dies erklärt sich auch ihrer Herkunft aus Zeitungsartikeln, ist aber für einen Wiederabdruck in einem Sachbuch nicht angemessen.

2.3: Die einzelnen Texte sind im Buch auf eine additive und ziemlich beliebige Weise aneinander gereiht, ohne dass ein wirklicher roter Faden erkennbar wird. Immer wieder werden einzelne Orte und Täler an verschiedenen Stellen thematisiert, was irritierend wirkt. Auch die angekündigte Gliederung des Buches in einen ersten Teil „Aufrüstung" und einen zweiten Teil „Abrüstung" wirkt aufgesetzt, weil die Texte immer den gleichen Duktus besitzen (unmittelbare Berichte von aktuellen Ereignissen). Das macht die Buchlektüre ermüdend.

2.4: Das Buch besitzt kein Literaturverzeichnis und kein Register, was jedoch mit dem Charakter der Texte gut übereinstimmt, und die „Chronologie" am Schluss ist inhaltlich ziemlich irrelevant.

Eigentlich ist die Idee, 60 Jahre beruflicher und persönlicher Auseinandersetzung mit den Alpen in Form eines Sachbuches zu bilanzieren, sehr überzeugend und sehr wertvoll. Die vorliegende Form der Umsetzung ist jedoch bedauerlicherweise nicht überzeugend, was nicht zuletzt am Verlag liegen dürfte, der dieses Buch redaktionell offenbar nicht betreut hat.

Werner Bätzing


Zitierweise:
Werner Bätzing: Rezension zu: Karl Stankiewitz: Wie der Zirkus in die Berge kam. Die
Alpen zwischen Idylle und Rummelplatz. München 2012. In: raumnachrichten.de http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1568-karl-stankiewitz-wie-der-zirkus-in-die-berge-kam

 
 
 
Kontakt:
Prof. Dr. Werner Baetzing
Institut fuer Geographie
Universitaet Erlangen-Nuernberg
Kochstr. 4/4
D - 91054 Erlangen
Tel.: 09131/852 26 37
Fax:  09131/852 20 13
www.geographie.uni-erlangen.de/wbaetzing
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Anmerkungen des Autors zu der Besprechung des Rezensenten:

Ich muss Herrn Professor Bätzing in den meisten aufgegriffenen Details und auch grundsätzlich Recht geben. Ja, mein Buch deckt weder "die Alpen", noch "die Erschließung" noch "den Tourismus" vollkommen ab. Das war von vornherein nicht beabsichtigt und wäre mit den verfügbaren Quellen auch kaum möglich gewesen. Beabsichtigt war auch keine akademische Abhandlung, sondern ein journalstisch geschriebenes, kritisches Sachbuch zu einigen Aspekten der alpinen Geschichte. Das erbrachte eine Folge von gebündelten Momentaufnahmen (ursprünglich war eine bloße Chronik geplant) anstelle einer in allen Segmenten (Ökologie, Gesellschaft, Landwirtschaft, Verkehr usw) abgesicherten Gesamtschau.

Mein Buch richtet sich nicht in erster Linie an "Fachleute", sondern an jeden bergaffinen, naturliebenden Leser. Gewiss, man hätte es anders ordnen und die Kapitel anders gewichten können. Ich habe versucht, den Roten Faden so zu ziehen, dass sich auch der weniger sachkundige Leser über die Dramatik der alpinen Entwicklung orientieren kann. Dazu hat übrigens der Lektor des Verlages wesentlich beigetragen. Wo Beispiele etwa in Form von Reportagen fürs Ganze stehen, ließen sich vergessene Namen und Ereignisse nicht vermeiden. Dass der deutschsprachige Alpenraum samt Bayern im Vordergrund steht, liegt daran, dass hier die Entwicklung wohl am deutlichsten war und dass das Buch hier vor allem verkauft werden soll.

Ich denke, dass meine Art der Darstellung hier auch verstanden wird, wie Rezensionen in der SZ, der NZZ und in Alpinmagazinen erkennen lassen. Jedenfalls bin ich Herrn Bätzing, dessen fundierte Untersuchungen ich seit je sehr schätze, dankbar für seine informative Buchbesprechung, weil man daraus sicher noch etwas lernen kann.

Karl Stankiewitz