André du Pisani, Reinhart Kößler, William A. Lindeke (Hg.): The long aftermath of War – Reconciliation and Transition in Namibia. Freiburg i.Br.: Arnold Bergstraesser Institut 2010. 338 S.
Der erste Band einer geplanten Reihe im Rahmen des Forschungsprojekts „Reconciliation and Social Conflict in the Aftermath of Large Scale Violence in Southern Africa: the Cases of Angola and Namibia“ widmet sich dem Verlauf der Versöhnungspolitiken und Transitionsprozesse in Namibia zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit. In drei Sektionen unterteilt, untersuchen die Beiträge Diskurse und Hindernisse der nationalen Versöhnung, soziale Prozesse und Konflikte auf kommunaler Ebene sowie die Fortwirkungen von Kolonialismus und Apartheid in Erinnerungspraktiken und Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit für die Opfer historischer Gewalt.
Die Spanne reicht von teils recht technischen Untersuchungen – wie der Auswertung statistischer Daten zur Entwicklung der Einstellung zu Demokratie (Heribert Weiland) bzw. der Transformationen der Bildungs- und Verteidigungspolitik (William A. Lindeke) – über einen Beitrag zur Rolle der Kirche im Versöhnungsdiskurs, der auf einer relativ dünnen Literaturgrundlage basierend zwischen historischer Rekonstruktion und theologischer Normativität changiert (Gerhard Tötemeyer), bis zur weit theoretisch ausholenden Diskursanalyse, in der André du Pisani kritisch die Strategie der Regierungspartei und ehemaligen Befreiungsbewegung SWAPO nachzeichnet: Diese setze ihre eigene Geschichte im antikolonialen Kampf mit der nationalen Einheit gleich; in der postkolonialen Ära bediene sie sich weiterhin einer antikolonialen Rhetorik, die „epistemologisch defi niert und vom kolonialen Diskurs determiniert“ (35) bleibe.
Volker Winterfeldt, Phanuel Kaapama und Reinhart Kößler schlagen in ihren Beiträgen lange historische Bögen, welche die anhaltenden Wirkungen im Kolonialismus gebildeter Strukturen in der Gegenwart verdeutlichen: Winterfeldts materialistische Analyse eröffnet in groben Linien Leitfragen, um die Entwicklung der Sozialstruktur seit der kolonialen Integration in den globalen Kapitalismus zu untersuchen. Dabei schlägt er vor, von der Arbeitsmigration auszugehen, die konstitutiv zu den vielschichtigen Rekonfi gurationen von Ungleichheit in der postkolonialen Zeit beiträgt (160). Demgegenüber kann Kaapamas vergleichende Perspektive auf die Landfrage in vier ehemaligen Siedlungskolonien große Parallelen hinsichtlich der wirtschaftlichen und symbolischen Bedeutung der Landverteilung sowie der wenig an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierten staatlichen Reformpolitiken aufzeigen, die in allen untersuchten Ländern außer in Namibia zu Aneignungen „von unten“ führten (205). Im besten Sinn einer verwobenen Geschichte betrachtet Kößler den Versöhnungsprozess nicht als interne namibische Frage, sondern zeichnet die Entschädigungsdebatte für den kolonialen Genozid über geographische Grenzen hinweg nach (216). Dabei widmet sich der engagiert für die überfälligen Konsequenzen aus der historischen Verantwortung Deutschlands eintretende Text eingehend der Rolle der deutschsprachigen NamibierInnen und ihrer reaktionären Sonderbeziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht (217ff).
Im „kommunale Spannkräfte“ überschriebenen Abschnitt zeichnet Johann Müller die grenzüberschreitenden Dynamiken von – nach ihrer Flucht vor dem Genozid von 1904 – im heutigen Botswana ansässigen Herero nach. Sowohl als GastgeberInnen für Flüchtlinge,
die während der Apartheid Botswana durchquerten, als auch als Mitglieder der Befreiungsbewegungen nahmen sie aktiv an namibischer Politik teil. Pamela Claasen diskutiert in einer methodisch vielschichtigen Analyse, die Struktur- und Handlungsebenen verbindet, einen hochkomplexen kommunalen Konflikt in der Kavango-Region.
Erfreulicherweise umfasst der Band mehrere Ansätze, die kulturelle Praktiken beleuchten. So analysiert Napandulwe Shiweda die visuelle Konstruktion der kolonialisierten „Anderen“ und ihrer Funktionalisierung für die lokale Umsetzung des Kolonialismus anhand von Kolonialphotographie. Ähnlich wie die Beiträge von Memory Biwa zu „Oral History“ und von Kößler zu kommunalen Erinnerungsereignissen interessiert sie sich dabei für die Präsenz der Geschichte in der Gegenwart. Sie berichtet, dass die Photographien den BewohnerInnen Omhedis (des Orts ihrer Anfertigung) nie zuvor gezeigt wurden (276) und die BetrachterInnen trotz des überwiegend gestellten Charakters der Bilder Personen und Praktiken wiedererkannten (274). Die Bilder aus den Archiven zurück an den Ort ihrer Entstehung zu bringen, wertet sie als einen Weg, sie in „nicht-verdinglichter Weise“ (276) sprechen zu lassen. In ihrem Beitrag entwickelt Biwa umfassende Überlegungen zu den Möglichkeiten, im Rechercheprozess des Oral-History-Projects über den Nama-Deutschen Krieg nicht die Befragungssituation der kolonialen Ethnologie zu reproduzieren und die Interviewten zu reinen InformantInnen zu degradieren (338). Stattdessen erprobt sie Methoden, die die widersprüchliche Mehrstimmigkeit historischer Erinnerung und die individuellen Strategien, die wiederaufgerufene Gewalt zu ertragen, sichtbar werden lassen. Weit mehr als nur eine Erweiterung der Archive, stellt ihr Beitrag die Hierarchisierung zwischen schriftlicher und mündlicher Tradierung in Frage (366) und eröffnet so Wege, die von den dominanten Narrativen abweichenden Wertungen der Befragten in die Konstruktion der Geschichte zu integrieren.
Justine Hunters abschließender Beitrag über die Generalamnestie, die dem Transitionsprozess Namibias zugrundeliegt und die verwehrt, von den Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, konzentriert sich auf die ehemaligen Gefangenen in SWAPO-Lagern in Angola und ihren oftmals unaufgeklärten Verbleib. Die Autorin verdeutlicht, dass ein Versöhnungsprozess, der auf Aufklärung im Sinne der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission verzichtet, substantielle Gerechtigkeitsdefizite in der postkolonialen Gesellschaft fortschreibt.
Der auf einem 2009 ausgerichteten Workshop in Omaruru, Namibia, basierende Band kommt seinem Anspruch nach, die Arbeiten von NachwuchswissenschaftlerInnen – insbesondere aus dem südlichen Afrika – zu integrieren. Mehrere Texte beruhen auf Forschungen zu laufenden Dissertationsprojekten. In der Breite seiner theoretischen Ansätze und methodologischen Verfahren sowie der Vielfalt der Zugänge zu Versöhnungs- und Transitionsprozessen in Namibia auf kommunaler, regionaler, nationaler und transnationaler Ebene eröffnet er zahlreiche Perspektiven, die die Widerstände und Schwierigkeiten beleuchten, welche die als ein Beispiel für eine gelungene Transformation geltende namibische Gesellschaft durchziehen. Dennoch zeigt der Umstand, dass die Mehrheit der Beiträge – ungeachtet ihrer Qualität – von deutschsprachigen AutorInnen verfasst ist, ein anhaltendes strukturelles Problem an, das postkoloniale Züge trägt.
Lotte Arndt
Quelle: Peripherie, 30. Jahrgang, 2010, Heft 120, S. 518-520
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