Andreas Hepp, Friedrich Krotz u. Tanja Thomas (Hg.), Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden 2009. 338 S.
Gramsci fordert, dass die Ideen nicht lediglich von anderen Ideen, die Philosophien
nicht bloß von anderen Philosophien entbunden werden, »sondern dass sie immer aufs
neue Ausdruck des wirklichen Geschichtsprozesses sind« (H. 9, §63). Damit ist auch das
Theorie- und Methodenverständnis der sich auf ihn berufenden Cultural Studies (CS)
umrissen: Es gibt keine Theorie, die nur auf die Realität anzuwenden wäre – vielmehr
schärfen sich die Konturen der konkreten historischen Situation und die Begriffe, mit denen
sie sich bewegen und verändern lässt, erst aneinander.
Der anhaltende Erfolg der CS stellt Forschung und Lehre vor die widersprüchliche Aufgabe, die Theorievermittlung eines Projekts zu organisieren, das sich gerade nicht in traditioneller Weise wie eine Disziplin vermitteln lässt. Stuart Hall und seine Mitarbeiter hatten auf diese paradoxe Anforderung originell reagiert, wenn sie für die Kurse der Open University Materialien entwarfen, die Ansätze und Schlüsselpassagen aus dem Werk ihnen wichtig erscheinender Autor/innen – anstatt sie bloß lehrbuchmäßig abzuhandeln – auf ein konkretes Thema anwandten und die Ansätze auf diese Weise exemplarisch in der Praxis erprobten (vgl. etwa Paul du Gay u.a., Doing Cultural Studies: The Story of the Sony Walkman, London 1997).
Im deutschsprachigen Raum reagiert man bisher eher traditionell: mit Einführungen, Readern und Sammelbänden. »Überblickt man diese verschiedenen Bände, so zeichnet sich doch ein Referenznetzwerk von verschiedenen Autorinnen und Autoren ab, deren Arbeiten man als Schlüsselwerke der CS begreifen kann« (12). In Kauf zu nehmen ist dabei, dass die Kürung von Klassikern (meist plakativ im Titel und dann etwas umständlich zurückgestutzt im Vorwort, vgl. die Rezension zu Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie in Arg. 261) und die Kanonisierung von Werken Teil jenes Betriebs ist, von dem sich die CS gerade absetzen wollten. Dabei kann man den Hg. des vorliegenden Bandes immerhin ein hohes Problembewusstsein attestieren: Sie weisen eindringlich auf die »radikale Kontextualität« der CS hin und defi nieren mit Hall als den Zweck aller Theorie, »uns Möglichkeiten zu eröffnen, die historische Welt und ihre Prozesse zu erfassen, ... um Aufschlüsse für unsere eigene Praxis zu gewinnen und sie gegebenenfalls zu ändern« (9). Ihr Buch gehört damit gleichsam in die Tradition jener Sprachlehrbücher, die in refl ektierter Weise vom Erlernen einer Fremdsprache handeln, ohne den trauten Rahmen der Muttersprache je zu verlassen. Eher unvermittelt erscheint dabei die Erwartung der Herausgeberschaft, neben dem »Einstieg in eine Auseinandersetzung« mit den CS beim Publikum auch gleich schon »das eigene Realisieren solcher Studien« befördert zu haben.
Die einzelnen Beiträge sind auf jeweils etwa zehn Seiten beschränkt und lose standardisiert: die Autor/innen werden kurz vorgestellt, daraufhin rückt ihr »Schlüsselwerk« ins Zentrum – damit ist mitunter eine einzelne Publikation gemeint, zumeist aber eine pragmatisch getroffene Auswahl von Aspekten aus dem Gesamtwerk, dessen »Kernbegriffe« zum Schluss in die »Gesamtentwicklung insbesondere der medienanalytischen Ansätze der CS« eingeordnet werden (15). Vor den eigentlichen CS-Vertretern werden Stichwortgeber aus dem breiteren Umfeld vorgestellt, Barthes und Bourdieu, Foucault, Lacan oder Williams. Nicht berücksichtigt ist E.P. Thompson; auf einen Seitenblick auf Adorno oder Benjamin wurde verzichtet, wohl wegen der vielfältigen Möglichkeiten eines deutschsprachigen Publikums, sich hier anderweitig kundig zu machen. In ihrem Beitrag über de Certeau gelingt es Veronika Krönert, dessen Leistung als Entdecker des Eigensinns im Handeln der Konsumenten lebhaft zu würdigen und dabei auch den modischen Romantizismus angemessen zu kritisieren, der sich seither auf ihn beruft, um jedem Konsum oder populärkulturellem Handeln gleich schon die Weihen eines subversiven Akts zu verleihen. Ines Langemeyer beleuchtet den »Umweg« über Gramsci, den die CS laut Hall genommen haben, um der Sterilität einer doktrinären, ökonomistischen und eurozentristischen Strömung im Marxismus auszuweichen. Als fruchtbar erwies sich dieser Umweg, weil eine Vielzahl von Fragen und Problemen, mit denen sich die CS konfrontiert sahen, bereits von Gramsci behandelt worden war: der Bruch mit einem elitären Kulturverständis gehört ebenso dazu wie dessen hegemonietheoretische Unterfütterung, denn Kultur bei Gramsci »umfasst sowohl das Potenzial der Vereinheitlichung
und Verallgemeinerung von Lebens-, Denk- und Fühlweisen als auch die Formen, in denen ... Subalternität hergestellt wird.« (77)
Im zweiten Teil werden Autoren und Werke vorgestellt, welche die Hg. dem inneren Kreis der CS zugerechnet wissen wollen. Eine solche Auswahl erfordert ein gewisses Maß an legitimierender Repräsentativität, und so kommen neben den Birminghamer Gründungsfi guren – Hall, Morley, Johnson (abwesend: Richard Hoggart) – und der Studentengeneration – Clarke, Angela McRobbie, Hebdige u.a. – auch assoziierte internationale Botschafter hinzu: Grossberg und Fiske etwa, auch Ien Ang, und mit Néstor García Canclini einHybridisierungstheoretiker aus Südamerika. Für die verstärkte Etablierung einer »postkolonialen Tradition innerhalb der CS« (176) steht Paul Gilroy, eine pädagogisch ausgerichtete Linie ist mit David Buckingham und Henry A. Giroux dokumentiert. Für eine feministische Ausrichtung stehen neben der bereits erwähnten McRobbie auch Radway oder Valerie Walkerdine; letztere eine »Psychologin, die sich der von ihr mitentwickelten ›Critical Psychology‹ zuordnet« (316) – hier hätte der Bezug zur Kritischen Psychologie im deutschsprachigen Raum interessiert.
Wenn Sebastian Deterding Henry Jenkins’ Begriff der »Konvergenzkultur« abhandelt,
tut er dies mit aller wünschenswerten Skepsis gegenüber allzu eindimensionalen Slogans.
Das Titelbild von Jenkins’ Convergence Culture (2006) beschreibt und kommentiert er
folgendermaßen: »Dort steht, von Bildschirmen umringt, ein iPod – und wohl kein anderes
Endgerät hat in den letzten Jahren derart massiv Digitales Rechtemanagement (DRM) in
unsere Haushalte gebracht, eine Technik, die jegliche Art der Partizipation unterbindet,
indem sie Kopierschranken und die feinkörnige Messung und Regulierung jeder einzelnen
Nutzung in die Architektur der Geräte und Apparate einbaut.« (242) Deterdings Beitrag
kann stellvertretend für viele andere in diesem Band stehen: die Autor/innen verfahren
kompetent und kritisch unter den Vorgaben einer traditionellen didaktischen Anordnung.
So ist das Buch – gemessen an den akademischen Maßstäben, nach denen es antritt – als
ausgewogen und gelungen zu bezeichnen. Und doch trauert man bei der etwas eintönigen
Lektüre den verpassten Gelegenheiten nach, die immer wieder mal aufscheinen: Gern hätte
man die Kritik an Jenkins’ Begriff der Convergence Culture bei Deterding als erhellende
Analyse des iPods von Apple Inc. gelesen. Und bestimmt wäre es aufschlussreich gewesen,
wenn Caroline Düvel die von Paul Gilroy vorgebrachte Kritik an rassistischen Konstruktionen
am aktuellen Problem der westlichen Islamophobie überprüft hätte. Oder nehmen
wir Gramscis Begriff der »passiven Revolution«, den Ines Langemeyer folgendermaßen
erläutert: »Die herrschenden Klassen entschärfen die Macht ihrer Gegner, indem sie eine
Reihe von oppositionellen Forderungen aufgreifen und einen Teil von Machtansprüchen
abgeben, aber derartige Zugeständnisse zugleich in ihre eigenen Strategien einbauen und
für sich umfunktionieren, sodass ihre herrschende Stellung nicht gefährdet ist« (79) – böte
sich nicht hier wiederum einer dieser fruchtbaren Umwege an, um die Akademisierung und
Disziplinierung der CS kritisch zu analysieren?
Thomas Barfuss
Quelle: Das Argument, 52. Jahrgang, 2010, S. 424-425