Bernhard Nitz, Hans-Dietrich Schultz und Marlies Schulz (Hg.): 1810–2010: 200 Jahre Geographie in Berlin an der Universität zu Berlin (ab 1810), Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (ab 1828), Universität Berlin (ab 1946), Humboldt-Universität zu Berlin (ab 1949). Berlin 2010 (Berliner Geographische Arbeiten 115). 349 S.
Die Herausgabe der Festschrift „200 Jahre Geographie in Berlin" ist in die umfangreichen Aktivitäten der Humboldt-Universität zu Berlin anlässlich des 200jährigen Bestehens einer Universität in Berlin einzuordnen. Dementsprechend beschäftigen sich die einzelnen Beiträge nur, wie aus dem umfangreichen komplizierten Untertitel hervorgeht, mit den direkten Vorläufern des heutigen Geographischen Instituts der Humboldt-Universität. Informationen zu der Geographie an der Freien Universität Berlin oder der Technischen Universität Berlin sucht man vergeblich.
Insofern ist der Titel: 200 Jahre Geographie in Berlin irreführend. Die Herausgeber und Mitarbeiter sind fast alle gegenwärtige oder frühere Mitglieder des Geographischen Instituts der Humboldt-Universität. Sie lassen sich in drei Gruppen aufteilen: 1. Geographen, die vor 1990 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in West-Berlin tätig gewesen sind: Hans-Dietrich Schultz und Bodo Freund. 2. Geographen, die bis 1990 in Instituten der Deutschen Demokratischen Republik integriert waren: Bernhard Nitz und Marlies Schulz. 3. Geographen, die von auswärts berufen wurden und gegenwärtig im Institut verantwortliche Positionen innehaben: Elmar Kulke und Wilfried Endlicher. Schließlich soll einleitend noch darauf hingewiesen werden, dass die intensiv diskutierte Benennung des neuen Gebäudes des Geographischen Instituts in Berlin-Adlershof 2003 in „Alfred-Rühl-Haus" der Grund für die unerwartet intensive Beschäftigung der Autoren mit diesem Geographen ist.
Das Buch wird durch ein Geleitwort von Paul Rühl, einem Großneffen von Alfred Rühl, eingeleitet. Erst danach folgt das Vorwort der Herausgeber, in dem die Ziele der Festschrift knapp verdeutlicht werden. In den zeitlich geordneten Beiträgen soll eine Mittellinie zwischen den Extrempositionen der reinen Geschichtsschreibung ohne Theorie und dem radikalen Konstruktivismus eingehalten werden. Die Aufsätze zu der Zeit bis 1945 sind dabei primär Ideengeschichte; die folgende Periode bis 1989/1990 und die Übergangszeit bis 1994 wird von zwei Zeitzeugen unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt; das abschließende im Vergleich zu den übrigen Beiträgen relativ kurze Kapitel widmet sich der Entwicklung des Faches und des Instituts bis zur Gegenwart.
Ganz allgemein gesagt weist das Buch keine durchgehende Linie in Hinblick auf die behandelten Problemfelder auf. Die Herausgeber hatten auch nichts anderes im Sinn, als „Ausschnitte aus der Geschichte der Geographie an der Berliner Universität" bzw. von dem, „was in den letzten 200 Jahren in Berlin an Geographie betrieben wurde" (Vorwort) zu bieten. Bei einer genaueren Beschäftigung mit den Beiträgen lassen sich einige Schwerpunkte herausstellen: 1. Die theoretische Begründung der Geographie vor dem ersten Weltkrieg. 2. Die Bedeutung der geographischen Volks- und/oder Kulturbodenforschung für den Nationalsozialismus. 3. Die Entwicklung der Wirtschaftsgeographie in einer durch die Landeskunde geprägten Geographie. 4. Die Pervertierung der Geographie im totalitären Staat der DDR. 5. Neue Strukturen und Aufgaben der Geographie seit 1990. Die einzelnen Beiträge sind sehr unterschiedlich, was auch in den Literaturverzeichnissen zum Ausdruck kommt. So gesehen ist das Motto der Festschrift „Die Geschichte lehrt Unterschiedliches" verständlich. Dieser Befund macht aber eine einigermaßen ausgewogene Kurzbesprechung unmöglich. Es handelt sich also mehr um einen Sammelband mit durchwegs sehr lesenswerten Aufsätzen, der sicher gewonnen hätte, wenn vor allem in Hinblick auf den anspruchsvollen Titel noch einige Überblickselemente eingebaut worden wären. Obwohl die meisten Beiträge mit kleingedruckten „Vorbemerkungen" eingeleitet werden, fehlt der Gesamtüberblick über die Entwicklung der Geographie in Berlin. Die Ausstattung mit Abbildungen und Karten kann nicht recht überzeugen. Vor allem die Übersichtskarten zu den Schülern wichtiger Berliner Ordinarien, „die Geographieprofessoren wurden", ist problematisch, da sie nur den Standort Berlin berücksichtigt (vgl. z.B. das Verhältnis von Ferdinand von Richthofen und Erich von Drygalski).
Da die Titel der Beiträge sehr aussagekräftig sind, erscheint es gerechtfertigt, diese geschlossen an das Ende der Rezension zu stellen. Hans-Dietrich Schultz: 1. „Heldengeschichten" oder: Wer hat die Geographie (neu) begründet: Alexander von Humboldt oder Carl Ritter? 2. Dirk Hänsgen: Heinrich Kiepert: ein Handwerker unter den Geographie-Ordinarien der ersten Stunde. 3. Hans-Dietrich Schultz: „ Geben Sie uns eine scharfe Definition der Geographie!". Ferdinand von Richthofens Anstrengungen zur Lösung eines brennenden Problems. 4. Hans-Dietrich Schultz: „Ein wachsendes Volk braucht Raum". Albrecht Penck als politischer Geograph. 5. Hans-Dietrich Schultz: „Reformator der (Wirtschafts-) Geographie oder „Hochverräter" am Fach? 6. Bodo Freund: Der Wirtschaftsgeist von Alfred Rühl bis heute. 7. Hans-Dietrich Schultz: Das „reine Streben nach der Wahrheit" im „Dienst von Volk und Staat": Norbert Krebs. 8. Bernhard Nitz: Zur Geschichte der Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin zwischen 1945 und 1990. Von einem Zeitzeugen berichtet und kommentiert. 9. Marlies Schulz: Erneuerung mit Stolz und Bedauern. Umstrukturierung der Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin von 1989 bis 1994. 10. Elmar Kulke und Wilfried Endlicher: Entwicklungen des Geographischen Instituts seit 1993.
Die vorliegende Festschrift ist ohne Zweifel geeignet, dass der im Vorwort geäußerte Wunsch der Herausgeber in Erfüllung geht: „Doch hoffen wir schon, dass die Beiträge zu anregenden Diskussionen und gegebenenfalls Gegeninterpretationen führen. Eben das halten wir für eine der wesentlichen Aufgaben der Geschichtsschreibung einer Disziplin, dass sie durch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit mit dazu beiträgt, dass der Prozess der fachlichen Identitätsbildung nicht erstarrt, sondern als permanente Aufgabe verstanden wird".
Klaus Fehn