Michael Fahlbusch: Westforschung

Rezensionsartikel:
Bernard Thomas: Le Luxembourg dans la ligne de mire de la Westforschung. Luxemburg 2011. 278 Seiten.

Bis heute kämpfen Geographen darum, ihre eigene Geschichte zu beschreiben, was ihnen nicht recht gelingen will, weil eine grundsätzliche Verstrickung in die braune Vergangenheit apodiktisch verklärt worden ist: Noch in seiner Kritik über die Geschichte der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften glaubte der Bonner Geograph Hans Böhm vor 12 Jahren Fehler in der „Magie eines Konstrukts" nachweisen zu können, sodass er zum Schluss kam, Volkstumsforscher seien nicht an der NS-Besatzungs- und Bevölkerungspolitik beteiligt gewesen.1 Demgegenüber gibt der Aktenbestand in Bonn, den der Historiker Bernard Thomas nun analysierte, einen anderen Aufschluss.

Den Unterlagen über den Bonner Nachwuchsgeographen Joseph Schmithüsen (1909-1984) zufolge, ergibt deutlich, dass dieser die Irredenta- und NS-Besatzungspolitik vorbereitete. Neben seinen Kollegen Franz Steinbach, Franz Petri, Matthias Zender und Walther von Franqué war Schmithüsen maßgeblich an der Exploration beteiligt und als politischer Berater Gauleiters Gustav Simon in Luxemburg tätig. Als Angehöriger der SS, Volksdeutsche Mittelstelle, suchte Schmithüsen – letztlich vergeblich – die deutschgermanischen Überreste unter dem französischen Firnis der Luxemburger Bevölkerung zur Kollaboration mit den Besatzern zu ermuntern (56, 245f.). Dass Schmithüsen selbst vor einer rassistischen und biologistischen Terminologie nicht zurückschreckte (88-93), um eine segregationistisch und ethnozentrisch geprägte Politik zu untermauern, stellt der Ehre der deutschen Geographie gewiss nicht unbedingt ein Leumundszeugnis aus.

Hiervon zeugt die 276-seitige französische Master-2-Arbeit betreut von den besten Kennern der deutschen Westproblematik, Pascal Ory und Peter Schöttler, die der Luxemburger Bernard Thomas nun in der Collection de la Fondation Robert Krieps veröffentlicht hat. Diese Arbeit knüpft an die Reihe der Ergebnisse jüngerer, kritischer Westforschungstradition, neben Wolfgang Freund, Thomas Müller, Burkhard Dietz, Dietrich Gabel, Ulrich Tiedau und Gertrude Cepl-Kaufmann sowie Sonja Kmec.2 M.a.W., es geht dem Autor um eine wissenschaftspolitische Analyse der Forschungsergebnisse der damaligen Luxemburgforscher und deren Wirkungsmächtigkeit auf und der Wechselwirkung mit Politik, der 'Ressourcenbildung füreinander' (Mitchel Ash).

Dass die kulturhistorische Forschung und damit auch die Volkstumsforschung während des Dritten Reichs wirkungsmächtiger gewesen ist, als noch vor knapp 25 Jahren behauptet, ist umso bemerkenswerter, als eine – ähnlich Böhms gelagerte – Exkulpierung auffällt: Der Präsident der Ranke-Gesellschaft, Michael Salewski, einem von Alfred C. Toepfer und dem ehemaligen Hamburger NS-Rektor Gustav Adolf Rein 1950 aufgebauten akademischen Auffangbecken NS-belasteter Historiker kam noch 1987 zu der erstaunlichen Erkenntnis, die das ursprüngliche Anliegen der Ranke-Gesellschaft geradezu ad absurdum führte: „Der Nationalsozialismus war schlicht zu primitiv, als dass er ernsthaft Geschichtswissenschaft als Wissenschaft hätte gefährden können." (18) Toepfer, dem das Bestreben für die europäische Einigung nachgesagt wurde, förderte tatkräftig nicht nur die völkischen Wissenschaften in den 1930er und 40er Jahren, sondern offenbar auch die Exkulpierungsstrategien danach. Toepfer, der wiederum auch die Mitglieder der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften mit Kulturpreisen überhäufte, versuchte auch Luxemburger Forscher (Nikolaus Welter, Camille Wampach) mittels des nach dem 'Germanomanen' Joseph Görres benannten Preises für die Kollaboration zu gewinnen. Dem Preiskuratorium gehörten Franz Steinbach und Hans Naumann von der Universität Bonn an. Nach der Besetzung Westeuropas gehörten die Kollaborateure Nicolaus Welter (Luxemburg) und Louis Pinck (Lothringen) ebenfalls dem Preisgericht an.

Der französische Zeitgenosse, Marc Bloch, dem trotz der wachsenden Bedrohung durch die deutsche Universität als 'wissenschaftspolitisches Munitionslager' keineswegs paranoide Züge unterstellt werden konnte, befand bereits in den 1930er Jahren über die Ergebnisse Hans Naumanns, dem Bonner Weggefährten Franz Steinbachs und Josef Schmithüsens, „Milde hinsichtlich der gegenteiligen Vorurteile" walten zu lassen: „Hypernationalismus, eine Nationalität, die man als Gedankendogma vorausgesetzt, statt sie als Forschungsergebnis zu 'entdecken', wird letztlich dazu führen, dass auch die ehrlichen Historiker die reale, aber – wie bei allen menschlichen Dingen – notwendig begrenzte Macht des nationalen Faktors aus den Augen verlieren."3

Thomas nimmt die französische Kritik analytisch in seinem operationellen Ansatz auf, indem er in insgesamt zehn Kapiteln die Entwicklung der Luxemburgforschung aufzeigt, die er in vier Teile unterteilt: 1. Westforschung der Kontexte, Strukturen und politischer Einfluss, 2. Luxemburg aus der Sicht der Westforschung, 3. Die Westforscher in Luxemburg predigen (prêcher) das Deutschtum und 4. Luxemburgische Forscher und die Westforschung. Damit steckt er den Rahmen einer künftigen Westforschung ab, die kein Zurück mehr in den Duktus der Narrationen der Festschriften erlaubt. Dies im Gegensatz etwa zur Südosteuropaforschung, die dreizehn Jahre nach dem Frankfurter Historikertag noch immer erhebliche Forschungsdefizite gegenüber den internationalen Standards aufweist.

Thomas leitet die Entstehung der Westforschung aus der unmittelbaren Nachkriegserfahrung des Ersten Weltkriegs ab. Die Westforschung wurde zuerst im Bonner Institut für rheinische Landeskunde (IGL), dann von der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig (1922-1931) (Wilhelm Volz und Albrecht Penck) vorangetrieben, bis sie gegen Ende der 20er Jahre zu einem alle Grenzlanduniversitäten – neben den sogenannten regionalen Instituten für Landes- und Volkskunde in Münster, Köln, dem Elsass-Lothringer-Institut in Frankfurt am Main und dem Alemannischen Institut in Freiburg im Breisgau – umfassenden Schutzwall gegen Westen etabliert werden konnte. Das Initialerlebnis war die französische Besetzung des westrheinischen Ufers sowie des Ruhrgebiets neben dem Verlust Eupen-Malmedys und des Saarlands. Diese Erfahrung diente gerade den – während des Kriegs aktiven, pangermanischen Ideen anhängenden – deutschen Wissenschaftlern zu einer neuen, radikalen Deutschtums- und Dekompositionspolitik im Westen. Die Verletzung des Nationalstolzes ging einher mit dem empfundenen Verlust an Ehre und Macht. Dieser Verlust wurde kompensiert durch Omnipotenzphantasien, welche zwangsläufig in einen mehr oder weniger autistisch reagierenden sich radikalisierenden Zyklus mündete unter teilweiser Abschirmung der Westforscher von der Öffentlichkeit.

Zu diesem Kreis zählten etwa der flämische Historiker und spätere SS-Kollaborateur Robert van Roosbroeck in Belgien, ebenso der in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien tätige Völkische Max Robert Gerstenhauer und Hans Steinacher. Von größerem Einfluss scheint aber die Arbeit des im 19. Jahrhundert wirkenden Historikers Wolfgang Menzel gewesen zu sein. Dieser forderte im Verlaufe der Rheinkrise 1840 die Ausweitung der mittelalterlichen Reichsgrenze nach Westen bis an das Pariser Becken und ins Burgund. Die offenbar in Vergessenheit geratene Dekompositionspolitik wurde durch den Jungkonservativen Ernst Niekisch im Widerstand-Verlag 1929 – die Urheberschaft Helmuth von Moltke zuschreibend – neuaufgelegt.4

Die von Thomas vorgelegten Erkenntnisse über Joseph Schmithüsens Tätigkeit im Rahmen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft sind ernüchternd: Das IGL war maßgeblich in der sogenannten Grenzlandforschung in der Weimarer Republik und NS-Zeit zuständig. Speziell vom IGL wurden die deutschfreundlichen katholischen Gebiete Belgiens und Luxemburgs bearbeitet. Schmithüsen gehörte jener Generation von Geographen wie Emil Meynen und Wilfried Krallert an, die ihre akademische Laufbahn im Dritten Reich begannen. Ihre Karriereplanung fiel zusammen mit ihrer Mitgliedschaft von NSDAP oder SS.

Als Landeskundler empfahl sich Schmithüsen mit Franz Steinbach, Thomas zufolge gilt Franz Steinbach als Prototyp eines NS-Forschers (S. 53ff), der die westliche Sprachgrenze bereits 1926 als „völkische Rückzugslinie" interpretiert und damit im Sinne der Kulturraumforschung der Revision Friedensvertrags ein offenes Terrain bereitete. Seine politische Agitation konzentrierte sich auf die rechtskatholischen Kreise Belgiens und Luxemburgs: Die Behandlung des Klöppelkriegs aus „gesamtdeutscher" Sicht regredierte teilweise unter Rückgriff auf den flämischen separatistischen Historiker Robert van Roosbroeck und enger Mitarbeiter der Westforscher in Zusammenarbeit mit Wolfgang von Franqué „zu einer Auflehnung deutscher artbewusster Bauern gegen die welschen Neuerungen" (118-121, 147). Gegen den verzweifelten Versuch der Luxemburger, eine den Schweizern vergleichbare „geistige Landesverteidigung" aufzubauen (137ff.) war Schmithüsen indessen beim Erscheinen seiner Luxemburger Landeskunde fünf Monate vor dem Überfall im Westen fest davon überzeugt: Dem Auswärtigen Amt bestätigte er, „ich habe in der Form der Darstellung alles vermieden was die Aufnahme des Buches unnötig erschwere […] natürlich bei der sachlichen Durchführung der Arbeit in allen Teilen um so sorgfältiger auf eine Durchdringung des Stoffes mit unserer deutschen Auffassung Wert gelegt." (78) Umso wichtiger wurde nach der Besetzung Luxemburgs Schmithüsens Zusammenarbeit mit der GEDELIT, der „Gesellschaft für deutsche Literatur und Kunst", welche sowohl das konservativ-katholische Element als auch die Rechtsextremen Luxemburgs abdeckte (150-163).

Hinsichtlich der Befürworter eines luxemburgischen Nationalismus: die Widersacher Joseph Meyer oder Nicolaus Margue sind exemplarisch. Letzterer steht für einen Wissenschaftler, der 1941 nach Südfrankreich deportiert wird. Die Bedeutung vermeintlicher oder tatsächlicher Kollaborateure wie Nicolas Majerus, Camille Wampach und Nicolas Welter stellen jene Exponenten dar, die noch in Luxemburg noch immer nicht als Mitläufer bezeichnet werden. Thomas leuchtet das Spektrum aus, wie fatal die Auswirkung einer Zuneigung zu den germanophilen Kreisen sich auswirken konnte.

Es bleibt dem Rezensenten die Verwunderung darüber, dass Luxemburg noch heute die Siebenbürger Sachsen als Auslandsluxemburger in ihrer Urheimat gerne zu empfangen pflegen. Ein Ritual, welches sich trotz besseren Wissens seit über 70 Jahre gehalten hat (219ff.). Schließlich bleibt anzumerken, dass mit der Arbeit von Thomas eine wichtige grundlegende Regionalstudie über die deutsche Besatzungszeit in Luxemburg gelungen ist, die auf den älteren Studien von Paul Dostert und Emile Krier aufbauen kann und deutlich um wissenschaftshistorische Aspekte bereichert.

Hinsichtlich der Übersetzung ist nur anzumerken: Der Autor machte sich dankenswerterweise die Mühe, sämtliche übersetzten deutsche Zitate in den Fußnoten nachzuweisen. Wenn Hans Naumann allerdings von „Maus" schrieb, so steht das für die pejorative Bezeichnung einer Luxemburger Person (148), erinnert aber den Rezensenten eher an Otto Reches „polnische Läuse im Pelz", die es zu entfernen galt. Dies sind aber Nuancen wie auch die Tatsache, dass der Begriff des „Primats der Außenpolitik" (80, 207) den Thomas mehrfach verwendet aber nicht nachweist, bereits in meiner Arbeit von 1999 eingeführt worden war, um die politische Bedeutung der Volkstumsforschung im Dritten Reich als Politikfeld zu kategorisieren. Der Rezensent geht davon aus, dass dies in der Zweitauflage neben kleineren Fehlern vom Autoren und dem Verlag bereinigt wird.

Abschließend sei bemerkt, dass die Aufarbeitung der Fachgeschichte der Geographie bis heute, über zehn Jahre nach den Historikertagen in Leipzig, Frankfurt und Aachen nicht weitergekommen ist. Es steht immer noch von deutscher Seite eine offizielle Stellungnahme des Verbandes aus. Eine von den deutschen Geographen initiierte Aufarbeitung ist nach wie vor ein Desiderat. Die Arbeit von Thomas zeigt, wie es sich bereits seit zehn Jahren ankündigt hat, dass zunehmend Historiker und Wissenschaftsgeschichtler aus dem Ausland diese Bringschuld leisten, ohne Zutun der deutschen Geographen.


Anmerkungen
1  Vgl. Hans Böhm, Magie eines Konstruktes Anmerkungen zu M. Fahlbusch „Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?", in: Geographische Zeitschrift 88 (2000), S. 177-196.
2  Burkhard Dietz u. a. (Hg.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Münster u.a. 2003; Wolfgang Freund, Volk, Reich und Westgrenze. Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925-1945, Saarbrücken 2006; Sonja Kmec, u. a. (Hg.), Lieux de mémoire au Luxembourg. Usages du passé et construction nationale, Luxemburg 2007; Gertrude Cepl-Kaufmann u. a. (Hg.), Wissenschaftsgeschichte im Rheinland unter besonderer Berücksichtigung von Raumkonzepten, Kassel 2008; Thomas Müller, Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums" im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus, Bielefeld 2009.
3  Vgl. Marc Bloch, Europäische oder deutsche Ritter, Rezension von Hans Naumann, Der staufische Ritter, Leipzig 1936, in: Peter Schöttler (Hg.), Marc Bloch, Historiker und Widerstandskämpfer, Frankfurt a.M., New York, 1999, S. 263f.
4  Zu Roosbroeck vgl. Armand Van Nimmen, Robert Van Roosbroeck – Ein flämischer Historiker und seine Beziehung zu Deutschland, in: Fahlbusch/Haar (Hg.), völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert, Expertise und „Neuordnung" Europas, Paderborn 2010, S.293-312; Hans-Werner Retterath, Hans Steinacher: Die Stilisierung zum ersten Soldaten des „Volkstumskampfes" und nach 1945 zum NS-Opfer, in: ebd., 153-177; zu Niekisch vgl. Thomas Müller, wie Anm. 2, S. 78.

Zitierweise: 
Michael Fahlbusch: Westforschung. Rezension zu: Bernard Thomas: Le Luxembourg dans la ligne de mire de la Westforschung. Luxemburg 2011. In: http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1578-michael-fahlbusch-westforschung

Kontakt:
Dr. Michael Fahlbusch
St. Alban Rheinweg 112
CH-4052 Basel
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