Paul Kevenhörster, Werner Pascha, Karen Shire: Japan. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik. Wiesbaden. 2010, 2. Aktualisierte Aufl. 421 S.

Noch in den frühen 1990er Jahren als „neue Supermacht“ gefeiert, galt Japan nur ein Jahrzehnt später bereits als der neue „kranke Mann Asiens“. Der hochentwickelte Industriestaat ist bekannt für seine Fähigkeit, Krisen produktiv zu verarbeiten und überkommene Wertmaßstäbe und Handlungsweisen neuen Herausforderungen anzupassen. Der rapide Wandel veranlasste drei ausgewiesene Japan- und Fachexperten, Professoren der Fächer Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, dieses Sachbuch herauszubringen.

Es beschreibt grundlegende Strukturen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik Japans, stellt traditionelle Japanbilder in Frage und analysiert neue Entwicklungen unter Einschluss theoretischer und institutioneller Aspekte. Dabei dienen westliche Vorstellungen nicht als universell gültige Muster, wohl aber als Maßstab eigener Bewertungen. Das Buch genügt hohen wissenschaftlichen Ansprüchen und ist vor allem in der akademische Lehre für ein vertieftes Fachstudium von großem Nutzen. Gegenüber der Erstausgabe 2003 bietet die neue Auflage Aktualisierungen, Hinweise auf Standardwerke sowie Lernfragen.

Teil I: Wirtschaft (Werner Pascha) analysiert Leistungsprofile und Strukturen der japanischen Wirtschaft, Kontinuitäten und Brüche, die Nutzung der Produktionsfaktoren, die Unternehmen und ihre Lenkung, die Rolle des Staates für die Wirtschaft sowie die Außenwirtschaftsbeziehungen. Teil II: Gesellschaft (Karen Shire) fokussiert auf den Wandel Japans zu einer industriellen Gesellschaft, die Grundlagen der modernen sozialen Organisation in Japan, die soziale Schichtung, neue soziale Ungleichheiten, die Arbeit und Gesellschaft sowie deren Wandel. Teil III: Politik (Paul Kevenhörster) behandelt Grundlagen der Politik in Japan, die politische Kultur, die Parteien im Wandel, den Netzwerkstaat (Wer regiert in Japan?), die politische Leistungsbilanz sowie die Politik in der Krise. Alle drei Teile sind inhaltlich aufeinander abgestimmt, weitgehend unter Vermeidung fachübergreifender Redundanzen. Kompakte Beschreibungen, Analysen und Diskurse über Entwicklungen, Strukturen und Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik machen dieses Sachbuch zu einem Muss für jeden, der sich aus ökonomischen, soziologischen und politischen Blickwinkeln tiefgründig mit Japan beschäftigen will. Infoboxen zur Erklärung von Fachwörtern, Tabellen, Abbildungen, Abkürzungen, ein Glossar japanischer Termini, eine ausführliche Literaturliste sowie ein Stichwortverzeichnis erleichtern das Verständnis für die Inhalte dieses anspruchsvollen Sachbuchs.

Einige Anmerkungen aus Sicht der Geographie sollen die Bedeutung und den Wert dieser offiziell interdisziplinären, im Wesentlichen aber fachgebundenen Publikation nicht schmälern. Bei allem Respekt für die Bedeutung der Wirtschaft ist nicht nachvollziehbar, warum dieses Themenfeld 43,5 % des Textteils in Anspruch nimmt, gefolgt von der Politik mit 36,6 %, während die Gesellschaft mit lediglich 19,8 % Anteil extrem unterrepräsentiert ist. Dies ist bedauerlich, weil auch und gerade die Gesellschaft Japans sich in einem starkem Wandel befindet. Demographische Probleme wie Alterung der Gesellschaft und Schrumpfung der Bevölkerung, interdisziplinär von höchstrangiger Bedeutung, bleiben extrem unterbelichtet. Außenwanderungen und Zuwanderungen als Ausgleichspotenziale für demographische Defizite bleiben ebenso ausgeklammert wie Binnenwanderungen im Prozess von Verstädterung und Bevölkerungsballung. Gleiches gilt für die Bedeutung des Städtischen, der Metropolisierung, der „Unipolarisierung auf Tokyo“ sowie regionaler Disparitäten im Zeichen der Modernisierung und des demographischen Wandels. Teil I: Wirtschaft fokussiert bezüglich der Produktionsfaktoren auf Kapital, Arbeitsmarkt und (zu Recht) technischen Fortschritt, klammert dagegen den klassischen Faktor Boden aus, der im Kontext extrem hoher Bodenpreise, knapper materieller Ressourcen (unter Einschluss des Faktors Natur oder Umwelt) und industrieller Standortprobleme in Japan eine wesentliche Rolle spielt. Raumwirtschaftliche, für die Wirtschaftsgeographie Japans gewichtige Themen, beispielsweise die Bedeutung von Agglomerationsvorteilen oder räumlicher Nähe, kommen nicht vor, auch nicht bei der ausführlichen Behandlung der für diese Merkmale besonders aufschlussreichen Automobilindustrie und ihres Zuliefererwesens. Außer in Teil I: Wirtschaft erfahren wir ebenfalls in Teil III: Politik sehr Wesentliches und Anregendes über Deutungsmuster zum Netzwerkstaat Japan, unter anderem über das sogenannte „Eiserne Dreieck“ aus Politik, Bürokratie undWirtschaft, von dem es wiederholt heißt, es sei inzwischen aufgelöst, existiere nicht mehr (123, 134) – eine Behauptung, die in der Tendenz richtig ist, aber im Ergebnis so pauschal nicht zutrifft. Unstreitig hat das berühmt-berüchtigte „Eiserne Interessenkartell“ im Zeichen von Deregulierung, Globalisierung und Politikwandel erheblich an Bedeutung verloren. Dies gilt jedoch nur eingeschränkt für wettbewerbsschwache Branchen, insbesondere die Bauindustrie. Ihr hoher wirtschaftlicher Stellenwert nicht nur für Gesamtjapan, sondern vor allem für die schrumpfenden Peripherräume und damit für die Regionalentwicklung des Landes, ist eine Hauptursache für das Auftreten von Raumkonflikten um großflächige Infrastrukturprojekte – und zugleich Garant der bemerkenswerten Stabilität des „Baustaats Japan“, auch wenn dieser tendenziell an Bedeutung verliert (vgl. FELDHOFF 2005). Da stellt sich die Frage nach der Begründung vermeintlich eindeutiger Aussagen und nach der Deutungshoheit der Disziplinen.

In einer Zeit, in der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik den Raum „entdeckt“ haben, ist es verwunderlich, dass in diesem Sachbuch geographisch Relevantes, das auch interdisziplinär von Bedeutung ist, so gut wie gar nicht vorkommt oder nicht zur Kenntnis genommen wird. Es ist andererseits logisch, dass dieAutoren angesichts der vorgegebenen Begrenzung der Textmenge nach eigenem Gusto Akzente setzen und eine Auswahl treffen müssen. Dies mag verständlich machen, dass ausgeklammert bleibt, was nach GIDDENS (1988. 161 ff.) ein zentrales Anliegen der Gesellschaftswissenschaften ist: Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind keineswegs nur Randbedingungen oder äußere Faktoren, sondern grundlegend für politischgesellschaftliches Handeln.


Literatur
FELDHOFF, TH. (2005): Bau-Lobbyismus in Japan. Institutionelle Grundlagen – Akteursnetzwerke – Raumwirksamkeit. Dortmund.
GIDDENS, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New York. (englisches Orig.1984).

Winfried Flüchter

Quelle: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg. 55 (2011) Heft 3, S. 191-192

 

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