Robert Josef Kozljanic: Der Geist eines Ortes. Kulturgeschichte und Phänomenologie des Genius Loci. Band 1: Antike Mittelalter; Band 2: Neuzeit - Gegenwart. München 2004. 407 und 463 S.
Diese philosophische Dissertation (Betreuer: Gernot Böhme, Darmstadt) ist für Geographen ausgesprochen wichtig und relevant, denn der "Genius Loci" könnte einen zentralen Gegenbegriff zur rein funktionalistischen Betrachtung von Räumen, Orten und Landschaften darstellen und die aktuelle Diskussion um das Thema "Ortlosigkeit" bereichern.
Diese flüssig geschriebene und trotz des Umfangs auch von Nicht- Philosophen gut lesbare Kulturgeschichte des "Genius Loci" - damit sind im weiteren Sinne all jene Phänomene gemeint, die einem Ort oder einer Landschaft einen einmaligen, einzigartigen Charakter verleihen - schließt eine große inhaltliche Lücke, indem sie die geschichtliche Entwicklung dieses Phänomens von der griechisch-römischen Antike bis zur Gegenwart nachzeichnet. Dabei stellt die Aufarbeitung der Geschichte jedoch keinen Selbstzweck dar, sondern mündet praxisrelevant in Grundsatzfragen der heutigen Landschaftsgestaltung und Stadtplanung. Deshalb bieten die zahlreichen Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart gerade auch für Geographen viele konkrete Anregungen. Die Darstellung beginnt in Kapitel 2 mit dem "archaisch-mythischen Ursprung des Genius Loci", wie er sich in vielen Naturreligionen findet. Hier ist mit einem bestimmten Ort jeweils untrennbar ein "Ortsgeist" oder "Ortsdaimon" verbunden, der als eine charakteristische lokale Macht in das Leben der an diesem Ort befindlichen Menschen eingreift. In der griechisch-römischen Antike (Kapitel 3) bleiben diese Ortsdaimonen zwar erhalten, aber sie werden durch (personale) Götter überlagert, die nicht mehr an einzelne Orte, sondern an spezifische Landschaften gebunden sind und diesen jeweils ihren spezifischen Charakter verleihen. Das Christentum (Kapitel 4) zerstört als universalistische Religion diese konkreten Orts- und Landschaftsbezüge und spaltet dieses (stark abgeschwächte) Phänomen in einen guten und in einen bösen Teil auf, nämlich in "Lokalheilige" mit den "Gnadenorten" und "Wallfahrtsstätten" (Gottes Wirken ist dabei zentral, der Ortsbezug nur noch sekundär) und in teuflische "Lokaldämonen", deren Orte bedrohlich und deshalb zu meiden sind. In der Neuzeit (Kapitel5: Renaissance und Aufklärung) wird der Genius Loci seines religiösen Inhaltes beraubt, und er wird als subjektive Dimension zur bloßen Metapher, zum "metaphorischen Ort", wodurch erstmals die Potenzialität einer Landschaftsästhetik eröffnet wird. Mit der Industriegesellschaft wird die rationalistisch-aufklärerische Sicht von Ort und Landschaft als "res extensa" (geometrisches oder euklidisches Orts- bzw. Raumkonzept mit Vernutzung von Natur) dominant, aber zugleich entsteht mit der "Romantik" (Kapitel 6) eine Gegenbewegung, die alte Genius-Loci-Vorstellungen wieder aufgreift, und zwar in ästhetischer Form ("ästhetische Andacht"). Daraus entwickelt sich etwas später der Natur- und Heimatschutz, der bis heute einen großen Stellenwert besitzt. Im letzten Kapitel geht es um konkrete praktische Umsetzungen und Anwendungen des Genius-Loci-Konzeptes an vier exemplarischen Beispielen aus dem Bereich Landschafts- und Stadtplanung. Das kurze Schlusskapitel betont, dass uns heute die religiöse Dimension des Genius Loci zwar sehr fern liegt, dass sie aber doch eigentlich immer "mitgemeint" ist, wenn man von einer "nicht-reproduzierbaren, einzigartigen und unveräußerlichen Aura eines Orts" spricht (S. 428). Diese "Erblast" sollte aber nicht "als Unklarheit und zu überwindender Irrationalismus miss-, sondern als geschichtliche Tiefe und Überlieferung verstanden werden" (S. 429). Damit werden auch für die Geographie fundamentale Grundsatzfragen aufgeworfen: Wenn man Natur/Umwelt/Landschaft nicht ausbeuten und zerstören will, bleibt dann als einzig sinnvolle Gegenposition "die Erfahrung der Unverfügbarkeit, Heilheit und Heiligkeit der Erdennatur" und "die Erfahrung des mit manchen Orten und Landschaften engstens verknüpften Numinosen" (S. 253)? Also eine wie auch immer geartete Erfahrung von etwas Heiligem oder Göttlichen als Gegenposition zum Funktionalismus? Der Autor ist davon überzeugt, der Rezensent nicht. Aber in jedem Fall bietet diese Dissertation eine gute und konkrete Grundlage, um darüber produktiv zu diskutieren.
Autor: Werner Bätzing