Julia Reuter u. Paula-Irene Villa (Hg.): Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention. Bielefeld 2009. 338 S.

„Postkolonialismus boomt“ (7) stellen die Herausgeberinnen im Vorwort fest und beabsichtigen mit dem vorliegenden, immerhin 14 Beiträge umfassenden Sammelband zu zeigen, „wie produktiv die Rekontextualisierung soziologischen Denkens und Forschens ist, die der postkoloniale Horizont ermöglicht“ (11). Dies gelingt ihnen durchaus, auch wenn sie ihren ebenfalls geäußerten Anspruch, „postkoloniale Theorie(n) empirisch und damit nachhaltig zu fundieren“ (39), nur in sehr geringem Maße einlösen: Die große Mehrheit der Beiträge befasst sich mit theoretischen und konzeptionellen Überlegungen.

 

In ihrem einleitenden Aufsatz unternehmen Julia Reuter und Paula-Irene Villa den Versuch, die Soziologie nach Dipesh Chakrabartys Diktum zu „provinzialisieren“, sie zu „ver-orten“, denn „auch ‘der deutsche Soziologe’ ist ethnisch, national usw. positioniert. So ist jede Position eben eine Position – wer das, auch und gerade inhaltlich in der eigenen Arbeit, zu leugnen in der Lage ist, genießt die strukturell erzeugten Dividenden hegemonialer Positionen“ (14). Unter „postkolonial“ verstehen die Autorinnen zweierlei: zum einen eine „politisch motivierte Analysekategorie“, die nach dem Kolonialismus und seinen Nachwirkungen fragt, zum anderen eine theoretische Perspektive, die „eurozen trische Wissensordnungen und Repräsentationssysteme ins Visier nimmt“ (17). Analog zum Standpunktfeminismus trauen sie der postkolonialen Perspektive einen klareren Blick auf entsprechende Machtstrukturen zu: diese Hürden „von den Rändern und Peripherien her... klarer sichtbar“ (de Sousa Santos, ebd.). Vor diesem Hintergrund ehmen sie eine postkoloniale Kritik der Soziologie, aber auch eine soziologische Kritik des Postkolonialismus vor, dem sie Ignoranz gegenüber soziologischen Theorien, pauschale Erklärungsmuster und Kulturalismus vorwerfen (29f). So werben sie für eine Verknüpfung bei der Ansätze und diskutieren die Möglichkeiten einer postkolonialen Wissens-, Kultur-, Modernitäten-, Globalisierungsund Ungleichheits- bzw. Geschlechtersoziologie, wobei in dieser Diskussion einige der an anderer Stelle (15) genannten zentralen Felder der Disziplin (Gesellschafts- und Handlungstheorie, Organisations- und Wirtschaftssoziologie) nicht vorkommen.

Gayatri Spivak ist als „Stargast“ durch einen neu übersetzten Aufsatz zu „Kultur“ im Band vertreten. Ihr Text ist eine wüste Mischung aus interessanten Beobachtungen zur Rolle  "postkolonialer InformantInnen“ und zu den Thesen Marshall McLuhans und Jean-François Lyotards, seitenlang abschweifenden Fußnoten, eitlen Randbemerkungen („Wie es McLuhan schafft, aus den hegemonialen maurischen, arabischen, persischen, indischen, koreanischen, chinesischen und japanischen Traditio nen diese absurde Schlussfolgerung zu ziehen, lässt sich leider nur allzu leicht erklären. Aber dazu wäre eine analytische Polemik nötig, die hier keinen Platz hat“, 54), seltsamen Formulierungen („kulturelle AutorInnen“, 52), atemberaubenden Vereinfachungen („Im
gegenwärtigen Kontext, da die Welt im Großen und Ganzen einfach zwischen Nord und Süd geteilt ist...“, 61) und ethischen Appellen. Ihr Schlussplädoyer für eine Verknüpfung politischer Kämpfe mit einer Mobilisierung spiritueller Gefühle – falls der beschränkte Geist des Rezensenten dies richtig erfasst hat – ist jedoch bedenkenswert.

Den Faden des einleitenden Kapitels nehmen Manuela Boatca und Sergio Costa wieder auf, indem sie ein Programm postkolonialer Soziologie entwerfen. Die postkoloniale Methode der historischen Kontextualisierung – in der Diktion von Reuter & Villa „Ver-Ortung“ – erlaube es dabei, zentrale soziologische Begrifflichkeiten wie Moderne und Tradition als essentialistisch zu kritisieren, ihre gegenseitige Bedingtheit und ihre Exklusionsstrategien sichtbar zu machen (73). Dementsprechend skizzieren die AutorInnen Ansätze einer postkolonialen Soziologie auf Makro-, Meso- und Mikro-Ebene, die die Mängel der Disziplin, welche aus ihrem institutionellen Konstituierungsprozess zu erklären sind, durch Perspektivverschiebungen und Betrachtung der Verwobenheit der Moderne beheben kann.

Äußerst relevante, aber selten gestellte Fragen finden sich in dem Beitrag von Miriam Nandi, der die Rolle postkolonialer Intellektueller und die „Grenzen des Postkolonialismus“ auslotet. Die Autorin erkennt einerseits an: „Es gehört zu den größten Errungenschaften der postkolonialen Theoriebildung, dass das Denken über nicht-westliche Kulturen heute durchdrungen ist von dem Wissen um die Relativität jeder Aussage, die (aus westlicher Sicht) über andere Kulturen und deren Praktiken gemacht wird“ (91). Andererseits zeigt sie anhand des verbreiteten Kastendenkens in Indien die problematischen Seiten dieser Haltung auf. Nandi stellt die Frage nach den „Anderen der Anderen“, der Diskriminierung durch Diskriminierte, und verweist auf den „grundsätzliche[n] Widerspruch zwischen dem letztlich nicht hintergehbaren Imperativ, Andersheit zu respektieren, und der Notwendigkeit, Entrechtung und Ausbeutung zu kritisieren“ (93).

Helma Lutz befasst sich mit dem Problem, wie die sozialwissenschaftliche Biographieforschung vermeiden kann, die hegemoniale Konstellation – MigrantInnen als die „Anderen“ – fortzuschreiben. Sie fordert, dass „in einer Migrationsbiographie nicht die Fremdheit zu rekonstruieren ist, sondern stattdessen Prozesse der Enteignung und der Fremddefinition vorhandener Ressourcen freizulegen sind“ (125).

Im einzigen primär empirisch orientierten Beitrag diskutiert Susanne Schröter den Islamismus in Indonesien im Kontext des nachkolonialen Aufbaus einer Nation und eines Staates, aber auch als antikoloniale Widerstandsideologie. Aus der Perspektive junger Menschen stelle er oft eine Lösung für Probleme dar, die eine als westlich diskreditierte Moderne hervorgebracht habe. Dabei zeigt Schröter gleichermaßen die illiberalen und kriegerischen Ambitionen des Islamismus auf wie auch seine Instrumentalisierung durch junge Frauen zum eigenen Empowerment.

Wolfgang Gabbert legt „Befunde einer kritischen Soziologie der Globalisierung“ dar, v.a. in Form der These, dass „aus fremden Kontexten stammende kulturelle Objekte und Symbole bestehende Praktiken zwar maßgeblich verändern, ihre Aneignung jedoch durch das bestehende Deutungssystem entscheidend beeinfl usst wird“ (167) – ein Befund, der ebenso zutreffend wie relevant ist, jedoch nicht mehr ganz neu.

In weiteren Beiträgen untersucht Nirmal Puwar Pierre Bourdieu als postkolonialen Denker, Benedikt Köhler Edward Saids postkolonialen Kosmopolitismus und Boike Rehbein liefert „Eine kaleidoskopische Dialektik als Antwort auf eine postkoloniale Soziologie“, wobei er die vorherrschende eurozentrische Theorie unter Rückgriff auf Karl Marx und Adorno (und unter Verweis auf den „Wiederaufstieg Asiens“) zu überwinden sucht. Ina Kerner untersucht das Verhältnis von postkolonialen Studien und Intersektionalitätsforschung und kommt zu dem etwas überraschenden Schluss, dass letztere von einem lokalen Fokus geprägt, erstere aber eher global ausgerichtet seien. Kien Nghi Ha charakterisiert postkoloniale Kritik als „politisches Projekt... das sich unterdrückten Subjektivitäten verpfl ichtet fühlt“ (260) – was dann jedoch auch sämtliche antikoloniale bzw. antiimperialistische Ansätze miteinschließt. Ceren Türkmen betont und problematisiert demgegenüber stärker die erkenntnistheoretischen Elemente und die  damit verknüpfte Ablehnung universalistischer Kategorien. Die in der postkolonialen Kritik „dominierende Tendenz, sich auf kulturell- ethnische Lebensweisen zu konzentrieren“, blende „die soziale Klassenlage und die objektiven Lebensbedingungen von Individuen aus“ (294). Dieser (auch nicht mehr taufrische) Vorwurf führt sie dazu, im Begriff der Subalternität eine Anknüpfung für kritische  Gesellschaftsforschung zu sehen.

Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan setzen der Intention des Sammelbandes ihre Auffassung postkolonialer Theorie als „anti-disziplinärem“ Feld entgegen. Sie diskutieren die deutschsprachige Rezeption postkolonialer Theorie und werfen dabei dem ebenfalls damit befassten Band Spricht die Subalterne deutsch? von Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez (rezensiert in PERIPHERIE 93/94: 230f) aus genau diesem Grund methodologischen Nationalismus vor („Die Analyse wird erneut in Einheiten des Nationalen gepackt, die die Welt in fein segregierte Gesellschaften dividiert“, 309). Die von Castro Varela und Dhawan eingeforderte Berücksichtigung neo-kolonialer Strukturen der internationalen politischen Ökonomie in der postkolonialen Kritik ist uneingeschränkt lobenswert, wirkt jedoch in der Umsetzung etwas holzschnittartig – was nicht verwundert, da die zentrale Quelle dafür Spivak ist.

Der Band ist trotz der angesprochenen Kritikpunkte auf jeden Fall anregend und gelungen und wird sicher eine Referenz der deutschsprachigen Debatte um postkoloniale Studien in den  Sozialwissenschaften werden. Wenn die Ansprüche an empirische Fundierung in höherem Maße eingelöst worden wären, müsste man ihn noch mehr loben.
Aram Ziai

Quelle: Peripherie, 31. Jahrgang, 2011, Heft 120, S. 117-120