Irmi Seidl u. Angelika Zahrnt (Hg.), Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg 2010. 247 S.
Die Debatte um eine Ökonomie jenseits des Wachstums ist inzwischen aus der Nische heraus. Davon zeugt nicht nur das Geleitwort von Ex-Bundespräsident Köhler im von Zahrnt, ehemalige Vorsitzende des BUND, und Seidl herausgegebenen Sammelband, sondern auch dessen schnelle Aufnahme in die Top Ten der Zukunftsliteratur der Robert- Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen.
Ausgehend vom Befund, dass Wirtschaftswachstum und ein dauerhaft verantwortlicher Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht vereinbar sind, organisieren Hg. eine Bestandsaufnahme verschiedener Wachstumsmotoren. Dabei werden nicht die Einzelnen für ihre Gier oder unersättlichen Konsumbedürfnisse in Haft genommen, sondern gesellschaftliche Problemfelder und Strukturen benannt, die den scheinbaren Ausweg Wachstum systematisch begünstigen. Davon ausgehend legen die 14 Autor/innen Vorschläge zur Entschärfung dieser Wachstumstreiber vor, die sie als jeweils eigenständig wirkende Ursachen auffassen.
So induziere die chronische Unterfinanzierung der Sozialsysteme individuelle und staatliche Wachstumsstrategien. François Höpflinger zufolge sind die Engpässe in der Altersversorgung, die er auf den demographischen Wandel zurückführt, jedoch weder durch Umlagefinanzierung noch durch Kapitaldeckung zu beseitigen, da dies Wachstum mit unverantwortbaren Folgen für Umwelt und Mensch (Arbeitsstress) bedingen würde. Der Ausweg bestehe einerseits in einer Ausdehnung der "formellen und informellen Lebensarbeitszeit" mit flexiblem Übergang ins Rentenalter und andererseits in mehr Eigenarbeit und "Sozialzeit" (60). Der monetäre müsse durch einen "sozial-solidarischen (nicht-monetären) Generationenvertrag" (62) ergänzt werden. Hans-Peter Studer verortet die wachstumstreibende Crux im Gesundheitswesen in mangelnder Eigenverantwortung und ineffizienter Mittelverwendung. Bekämpfen will er diese mit Anreizen zur Sparsamkeit von Ärzten und Patienten, einem Bewusstseinswandel hin zu Prävention und mehr alternativen Heilverfahren. Von "zentraler Bedeutung" sei aber auch, die "sozialen Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft durch geeignete wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen zu verringern" (74). Matthias Möhring-Hesse sieht in der ungleichen Verteilung von Gütern und Beteiligungschancen das Grundübel. Eine Postwachstumsgesellschaft brauche daher eine Begrenzung nach oben und unten. Neben einer durch Besteuerung von Gewinnen und Reichtum finanzierten Mindestsicherung argumentiert er für eine "Umsteuerung von individuellem zu öffentlichem Konsum" (125) bei erweitertem Angebot an öffentlichen und sozialen Diensten. Dies entlaste den Sozialstaat von "der Aufgabe, über Transferleistungen unterschiedliche Einkommen auszugleichen" und ermögliche eine Reichtumsverteilung, "die auf volkswirtschaftliches Wachstum nicht angewiesen ist" (125f).
Mit der Konsumnachfrage kommt der subjektive Faktor in den Blick. Inge Røpke sieht den Konsum - z.B. in Sachen Mobilität - durch die sog. Pfadabhängigkeit ("Lock-In") des Alltagslebens angetrieben, das in soziale und materielle Strukturen eingebettet ist. Folglich seien strukturelle Änderungen notwendig wie etwa höhere Ressourcenpreise, Einschränkung von Werbung, Reduzierung von Ungleichheit, mehr öffentlicher Konsum usw. Gleichzeitig müssten sich Lebensstile in Richtung Langsamkeit und gemeinschaftlicher und nicht kommerzieller Aktivitäten verändern. Als weitere Wachstumstreiber gelten die Finanzmärkte mit ihrem Renditedruck, das Steuersystem und eine Politik der Verschuldung öffentlicher Haushalte. Hg. zufolge könnten die öffentlichen Finanzen "auch ohne Wirtschaftswachstum im Lot" sein, falls z.B. umweltschädigende Subventionen rückgebaut, Steuerschlupflöcher geschlossen sowie ein "progressives Abschöpfen der enormen Vermögenszuwächse der letzten Jahre" durchgeführt würden (185). Partizipationsformen wie Bürgerhaushalte und Referenden könnten zu Elementen der Schuldenbremse werden. Gerhard Scherhorn fordert eine Regulierung des Marktes sowie eine Änderung der Unternehmensverfassung. So sollte das Ziel des Erhalts bzw. der Mehrung des ökologischen und sozialen Kapitals ebenfalls zu den Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns gehören. - Abgerundet wird der Band durch Interviews mit den internationalen Wachstumskritikern Serge Latouche (Frankreich), Rita Trattnigg (Österreich), Tim Jackson (England) und Juliet Schor (USA), die einen Einblick geben in die jeweiligen nationalen Diskurse. In Europa werde Wachstumskritik inzwischen zumindest öffentlich wahrgenommen, auch wenn sie v.a. Überlegungen zur Reform des Wachstums anstoße, z.B. indem in Regierungskommissionen neue Kennzahlen jenseits des BIP erarbeitet werden. In den USA hingegen, wo die Menschen "stark zu technologischem Optimismus und dem Glauben, dass harte Arbeit alle Probleme lösen wird" (216) tendieren, sei Wirtschaftswachstum politisch immer noch unantastbar.
Abschließend versuchen Hg., die "Puzzleteile für die Gestaltung einer Postwachstumsgesellschaft " (221) zusammenzufügen, aber die Betrachtung bleibt relativ isoliert und die Interdependenz der anvisierten Strukturänderungen wird nur partiell deutlich. So soll etwa eine viele Konsumgüter verteuernde ökologische Steuerreform mittels Bildung und Partizipation Akzeptanz finden. Das Problem der Verschärfung sozialer Ungleichheit - eine nicht unwesentliche Barriere zur Durchsetzung einer solchen wachstumshemmenden Steuerung - wird hingegen nicht integriert betrachtet. Auch die Rentenfinanzierung wird losgelöst von Verteilungsfragen diskutiert, die an anderer Stelle durchaus angesprochen werden. Allerdings weisen auch Hg. auf Widersprüche hin. Eine verlängerte Lebensarbeitszeit aufgrund demographischen Wandels oder arbeitsintensiverer Herstellungsverfahren bei verringerten Ressourceneinsätzen stehe z.B. der geforderten Arbeitszeitverkürzung entgegen. Andere Unvereinbarkeiten, etwa zwischen Norbert Reuters Forderung nach einer Ausweitung der Care-Ökonomie und dem von Studer angemahnten Wachstumsstopp des Gesundheitssektors bleiben unangesprochen. Trotz Mängeln v.a. bei Synthese und Widerspruchsanalyse erfüllt das übersichtlich gestaltete und verständlich geschriebene Buch sein zentrales Anliegen, "Fragen und Themenkreise" aufzuwerfen, zu denen Lösungen gefunden werden müssen, wenn ein westliches Industrieland "ohne ständiges Wirtschaftswachstum auskommen will" (18). Es stellt in dieser Hinsicht eine Pionierleistung dar und wird die Diskussion über Gesellschaftsstrukturen einer Postwachstumsökonomie beflügeln. Denn die strukturellen Hindernisse, die die anvisierte Stilllegung der angesprochenen Wachstumsmotoren blockieren, werden noch intensiv diskutiert werden müssen.
Ulrich Schachtschneider