André Gorz: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie. Zürich 2009. 119 S.
"Die Wirtschaftsprognose ist [...] nicht neutral. Sie spiegelt die stillschweigende politische Entscheidung wider, das bestehende System fortdauern zu lassen." (70) Zu diesem System gehört, dass die Zerstörungen der Natur nicht nur - wie Gorz schreibt - als Quellen des Reichtums "erscheinen" (71), sondern mit ihnen identisch sind. Das Streben nach maximaler Effizienz bei der gesellschaftlichen Verwertung des Kapitals - d.h. die "systemimmanente Notwendigkeit" (96) des Wirtschaftswachstums - erfordert die "maximale Verschwendung" (46) von Arbeit und Natur.
Für Gorz ist die stetige Zunahme der kapitalistischen Produktion und Konsumtion nach allen Seiten das maßgebliche Problem für die "natürlichen Grundlagen des Lebens" und das "biologische Gleichgewicht" (11). "Von der Kritik des Kapitalismus gelangt man also unweigerlich zur politischen Ökologie" (10). Ausgangspunkt der politischen Ökologie ist für Gorz getreu dem hegemonialen Strang der Post-68er-Theoriebildung die "ethische Forderung nach Emanzipation des Subjekts" (11). Dies sei auch der "Ursprung spezifischer Teile der ökologischen Bewegung" (38) wie der Netzwerke gegenseitiger Hilfe für Kranke, der Bewegungen zum Schutz der Sprachen, Kulturen und Regionen usw. gewesen. "Die Frage des Subjekts" sei "die Grundlage sowohl der Ethik als auch der Politik" (9). Damit umreißt Gorz im einführenden Interview in knappen Worten die Grundmatrix seiner politischen Ökologie.
Besonders die älteren Beiträge des Sammelbands bieten Anknüpfungspunkte für einen zeitgemäßen Marxismus, dem das Attribut "ökologisch" nicht extra vorangestellt werden muss, weil die Kritik der "naturverfallenen Naturbeherrschung" (Horkheimer/Adorno) ebenso in ihn eingegangen ist wie eine angemessene materialistische Kulturkritik, die die Ökonomiekritik erweitert hat. Gorz' Wachstumskritik, seine Herleitung der Naturdestruktionen aus der kapitalistischen Produktionsweise und seine Kritik individueller Konsumtion als Teil der ökologischen Probleme im Kapitalismus sind nicht zu widerlegen. So besitzt der 1975 publizierte Essay "Die gesellschaftliche Ideologie des Autos" (52) nicht nur historischen Wert. Er beschreibt, wie tief die Sphäre des individuellen Konsums von der Verwertung des Werts durchdrungen ist und wie sie sich gegen jede ökologische Vernunft verselbständigt. "Gebt uns mehr Autos, um den Verwüstungen, die die Autos anrichten, zu entfliehen" (60), kommentiert Gorz ironisch. Mit herrlicher utopischer Leichtigkeit konterkariert er die bis heute unvernünftige Verkehrspolitik der westlichen Staaten.
Allerdings setzt Gorz - ähnlich wie z.B. die poststrukturalistische Theoretikerin Donna Haraway - seine Hoffnung auf gesellschaftlichen Fortschritt durch "technowissenschaftliche Umwälzungen" (17). Der Kapitalismus, heißt es in apokalyptischem Ton, arbeite durch die Entwicklung neuer Techniken, dem "High-Tech-Handwerk" (86), an seinem eigenen Untergang. Walter Benjamin entgegnete solch undialektischer Technikidolatrie, sie wolle "nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben" (Über den Begriff der Geschichte, GS I.2, 699). Auch Marx, der in der Entwicklung der Produktivkräfte die Vorboten einer anderen Gesellschaft sah, gestand diesen nicht per se die Funktion zu, Katalysator sozialen Fortschritts zu sein. Über die Stellung der Technologie im Klassenkampf - seit jeher eine der zentralen Fragen der Ökologiebewegung - entscheidet die historisch-spezifische Konstellation. Bis das gesellschaftliche Verhältnis, das dem Kapitalismus zugrunde liegt, aufgehoben wird, sind die "Selbstproduktionsstätten nach dem Vorbild derer in den Favelas oder Townships" (29) in Brasilien und Südafrika, die Gorz als positive Beispiele nennt, an denen das transitorische Moment der informationellen Technologien deutlich werde, nichts anderes als Orte zum Himmel schreiender brutaler Selbstausbeutung der Marginalisierten. Die Antwort auf die naheliegende Frage, warum nicht auch die neuen informationellen "keine neutralen Techniken, sondern Mittel der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit" (85) sind, bleibt Gorz schuldig.
In den jüngeren Beiträgen folgt Gorz einer Linie des Marxismus, in der einige teilweise zweifelhafte ökonomische Thesen entstanden sind: immaterielle Arbeit trete in steigendem Maße an die Stelle materieller Arbeit; die Verwertung des Kapitals gründe zusehends auf Kunstgriffen und nicht mehr auf der Produktion von Waren und deren Verkauf (83); die auf dem Tauschwert beruhende Ökonomie gehe zurück (83); der Wert der Arbeitskraft, Waren und des Kapitals sei nicht mehr messbar (79f, 117); und die Bewegung der freien Software sei "Keimform [...] eines Kommunismus" (88). All das erinnert stark an postoperaistische Theoriebildung, die spezifische Phänomene der westlichen Ökonomien in einem bestimmten Stadium (kurz vor einer massiven Krise) überhöht und verabsolutiert, während sie andere wie z.B. die globale Proletarisierung oder den Aufstieg eines Schwellenlandes wie China durch industrielle Produktion zur ökonomischen Weltmacht ausblendet oder vernachlässigt. Ein gravierendes Problem an diesen Behauptungen ist, dass die dem Kapital innewohnende Tendenz, den Berg produzierter Waren durch industrielle Produktion schier endlos zu vergrößern, zum Nebenaspekt verkommt.
Gorz' These, der Klassenwiderspruch werde nivelliert, ist weder empirisch noch theoretisch haltbar. Er schreibt, den Arbeiter verbinde eine "strukturelle Komplizenschaft" (85) mit dem Kapital, weil es beiden nur darum gehe, Geld zu verdienen. Der Kapitalismus übe seine "Herrschaft auf die Mitglieder der herrschenden Schichten ebenso aus wie auf die Beherrschten" (9). Die handelnden Subjekte und das gesellschaftliche Verhältnis, das die Grundlage des Kapitals bildet, die Beziehungen zwischen den Klassen, die unterschiedliche Interessen am Erhalt des Kapitalismus besitzen, die unterschiedliche Funktion von Lohn und Kapital oder gar der Klassenkampf sind plötzlich verschwunden. Dies ist gerade deswegen fatal, weil nur durch den Klassenkampf als Widerstand gegen die Untergrabung der beiden Quellen allen Reichtums eine Versöhnung der Gesellschaft mit der Natur überhaupt möglich wäre. - Allerdings scheut Gorz - anders als so mancher Linker in der Bundesrepublik - nicht davor zurück, sich für den Kommunismus auszusprechen, jener "Abschaffung der Arbeit in der gesellschaftlich und historisch spezifischen Form, die sie im Kapitalismus hat, das heißt der Arbeit[skraft; C.S.] [...] als Ware" (13). Denn "sich selbst überlassen" würde der Kapitalismus "zur Auslöschung des Lebens und folglich seiner selbst führen" (51).
Christian Stache
Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 309-311
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