Reinhard Stockmann, Ulrich Menzel und Franz Nuscheler: Entwicklungspolitik. Theorien - Probleme - Strategien. - München 2010. 528 S., Tab.
Angesichts der dynamischen, komplexen und vielleicht auch zunehmend undurchschaubaren Diskurse und Prozesse im Kontext von "Entwicklung" ist ein umfassendes Handbuch zur Entwicklungspolitik, zumal aus kompetenter Feder, willkommen. Erfreulich ist, dass die drei Autoren erst gar nicht den Versuch unternehmen, ein konsistentes und in sich geschlossenes Werk vorzulegen, sondern die gewichtige Thematik über drei große Blöcke zu Entwicklungstheorien (Menzel), Entwicklungsproblemen (Nuscheler nennt sein Hauptkapitel "Weltprobleme") und Entwicklungsstrategien (Stockmann) erschließen.
Systematisch wird die Gesamtthematik in diesen Blöcken seziert und eigenständig analytisch abgearbeitet. In diesem Aufbau liegt vielleicht die große Stärke des Buches: Die Strukturierung der Kapitel ist plausibel und die Argumentationslinien bleiben stets klar erkennbar. Man könnte einwenden, dass es nicht sonderlich klug sei, die Theorie vor Phänomene wie "Unsicherheit" oder "Unterentwicklung" zu stellen, die sie ja überhaupt erst zu erklären beanspruche, aber Menzel verweist in seinem ideengeschichtlichen Abriss hinreichend auf entwicklungsbezogene Problemlagen, Erklärungsnöte und -notwendigkeiten, ohne dass es zu irritierenden Redundanzen mit den beiden anderen Hauptkapiteln kommt. Der Teufel steckt indessen im Detail: Der erste Themenblock liest sich als Kompendium der wichtigsten entwicklungstheoretischen Begriffe, Konzeptionen und Paradigmen. Allerdings verzichtet Menzel weitgehend auf Quellenangaben, so dass man sich für weiterführende Recherchen auf mühsame Literatursuche begeben muss. Auf diesen Umstand wird zwar in einer Fußnote (S. 11) hingewiesen, aber er ist in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend und für das Buch bezeichnend: Der Fußnotenverweis bezieht sich auf ein bibliographisches Register von 1995, das man zu Rate ziehen könne, aber dass jüngere Literatur im Text kaum Berücksichtigung findet, ist angesichts der Globalisierungsumbrüche der vergangenen 15 Jahre schwer nachvollziehbar. So kommen - nicht nur im ersten Hauptkapitel - einige wichtige aktuelle Auseinandersetzungen um den Entwicklungsbegriff zu kurz. Als Beispiel sei die (gar nicht so junge, aber immer wieder prominent aufscheinende und teilweise heftig geführte) Post- Development-Debatte genannt, die die Autoren in nur wenigen Sätzen (Einleitung S. 2-3 und S. 22) recht lapidar und ohne vertiefende Quellenanalyse abhandeln. Andererseits werden jüngste entwick-lungspolitische Entscheidungen der derzeitigen Bundesregierung ausführlicher gewürdigt (Stockmann im dritten Hauptkapitel), obwohl deren Halbwertszeit noch gar nicht absehbar ist. Da solche Auslassungen und Akzentuierungen im Buch nicht begründet werden, ergibt sich für die Leser eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich der Zielsetzung des Werkes. Ist es ein Lehrbuch für "Studierende aller Fachrichtungen" (Einleitung) oder "der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" (Umschlag)? Dann sollte der erste Themenblock um ein umfassendes Literaturverzeichnis ergänzt und die (spärlichen und graphisch unzeitgemäßen) Abbildungen didaktisch aufbereitet werden. Handelt es sich um ein Handbuch und Nachschlagewerk für "alle entwicklungspolitisch Interessierten" (Umschlag und Einleitung)? Dann macht sich das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses schmerzlich bemerkbar. Wer in diesem über 500 Seiten starken Opus rasch nach zentralen Begriffen wie "strategische Gruppen", "Post-Development" oder "Weltbank" sucht (um wahllos nur drei Beispiele zu nennen), muss sich allein des Inhaltsverzeichnisses bedienen und wird nur selten fündig werden. Bei Franz Nuschelers zweitem Hauptteil zu "Weltproblemen" handelt es sich um einen sehr umfassenden, allerdings auch sehr breiten Überblick, der einzelne Themen kaum tiefergehend auslotet. Der Bogen wird von Globalisierungseffekten und fragmentierter Weltordnung über Welthandelsordnung, Fair Trade, Ressourcenkonflikte, Armutsprobleme, Hunger, Bevölkerungsentwicklung, Migration und Klimawandel bis zu Good versus Bad Governance gespannt, was natürlich keine vertiefte Auseinandersetzung mit Teilthematiken zulässt. So bleiben für so disperse Teilthemen wie etwa Genderaspekte der Armut, HIV/AIDS-Pandemie oder Tropenwaldabholzung jeweils nur wenige Zeilen bis Seiten. Hier wäre weniger wohl mehr gewesen, nämlich einige ausgewählte Themenfelder anhand von Fallbeispielen systematisch und ausführlich zu analysieren und daran die Komplexität und Heterogenität der Entwicklungsproblematik zu verdeutlichen. Trotz zahlreicher strukturierender Spiegelstrichauflistungen hat man den Eindruck, dass Nuscheler müde geworden ist, seine an anderer Stelle vielfach vorgebrachten und differenzierten Analysen hier zu wiederholen, und er seine (großteils durchaus plausiblen und anregenden) Argumente stattdessen engagiert, aber im journalistischen Plauderton zu Papier bringen wollte. Hilfreich und gewinnbringend sind daher die kapitelweisen Fazits, in denen Nuscheler zentrale Aussagen systematisch auf den Punkt bringt und eigene Sichtweisen komprimiert verdeutlicht. Ebenfalls sachlich strukturiert, aber in der Gewichtung der Einzelthemen wieder recht wenig transparent gerät der dritte Hauptteil von Stockmann zu entwicklungsstrategischen Konzepten. Die Ausführungen münden in einem deutlichen Plädoyer, die Entwicklungszusammenarbeit (und damit wohl die Entwicklungsbemühungen) trotz bislang fehlender wissenschaftlicher Wirkungsnachweise fortzuführen und um auf Evaluationsstudien beruhende Analysen zur Effizienz der EZ zu ergänzen. Natürlich schimmert hier ein Entwicklungsverständnis durch, dass wenig Zweifel an wachstumsbasierten Ansätzen und Strategien lässt, was auch im Titelbild des Bandes - keimende Sprossen, die eine schmackhafte Zukunft verheißen - deutlich wird. Fazit: Das Buch hinterlässt einen recht ambivalenten Eindruck. Die Fülle des zusammengetragenen Materials und der vorgebrachten Argumente ist beeindruckend. Das Werk ist als ein an Studierende gerichtetes Lehrbuch allerdings nur eingeschränkt geeignet, da z.B. eine disziplinäre Verortung der Argumentationslinien nur ansatzweise erfolgt. Diese Einbettung wäre angesichts der Inter- und Transdisziplinarität von Entwicklungspolitik vielleicht auch gar nicht erforderlich, aber Ansätze, die über die engeren Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften hinausreichen (Ethnologie, Entwicklungssoziologie, Geographie, Philosophie usw.) hätten vielleicht stärker berücksichtigt, per Literaturverweis belegt oder zumindest expliziter als solche benannt werden können. Mangels klarer Zielgruppe und eines nicht ausformulierten Anspruchs an das Werk selbst gelingt es den Autoren und dem Verlag auch nur bedingt, einem über Studierende hinausgehenden Leserkreis einen klaren Zugang zur Thematik zu eröffnen. Wer Positionierungen der drei Autoren, schließlich gewichtige Stimmen in der Entwicklungsforschung und Politikberatung, zu identifizieren sucht, wird in diesem Kompendium nicht zuletzt dank hilfreicher Zwischenzusammenfassungen und -fazits fündig.
Fred Krüger (Erlangen)