Anton Escher und Sandra Petermann: Tausendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech. Würzburg (Muslimische Welten 1) 2009. 276 S.
Seit mehr als einem Jahrzehnt beobachtet eine Arbeitsgruppe um Anton Escher (Universität Mainz) Gentrifizierungsphänomene in der Altstadt (Medina) von Marrakech, die als orientalische Kulisse zu einem der Hot Spots auch des internationalen Jet Set wurde. Während in mehreren Aufsätzen bereits vor geraumer Zeit die wesentlichen Grundzüge dieses Gentrifizierungphänomens von Seiten der Arbeitsgruppe beschrieben und theoretisch eingeordnet wurden, liegt mittlerweile eine umfassende Buchpublikation vor, die dieses Phänomen umfassend dokumentiert.
Die ehemaligen Hippies, Künstler, Kultur- und Tourismusunternehmer sowie Angehörige einer expressiven Gay Community verändern in soziokultureller, ökonomischer und baulicher Sicht das Gefüge der Altstadt. Empirisches Kernstück der Studie bilden die Annäherungen an verschiedene Neu-Bewohner, die emblematisch verschiedenen Typen (z.B. dem des intellektuellen Künstlers, des weltläufigen Jetsetter, des rüstigen Rentners oder des interkulturellen Lebensgefährten) zugeordnet werden. Die Beschreibungen, die Annäherungen an die Neubewohner erhalten vor allem dann eine besondere, frappierende Anschaulichkeit, wenn sie unmittelbar konkreten Personen zugeordnet sind und sich mit Hilfe interpretierter Interviewaussagen ein facettenreiches Bild von Personen, ihrer Beweggründe, ihrer Umweltwahrnehmung und Selbstrepräsentation ergibt. Wo hingegen versucht wird, ganze Personengruppen mit idealtypischen Beschreibungen einzufangen, muss sich der Leser in seinem Urteil voll und ganz auf die Syntheseleistung der Autoren verlassen - was stellenweise ein unbefriedigendes Gefühl hinterlassen mag. Überzeugend arbeiten die Autoren die unbeschwerte, kaum maskierte neokoloniale Attitüde vieler Neu-Marrakechi heraus. Die umgekehrte Perspektive der alteingesessenen Bevölkerung auf die neuen Nachbarn scheint jedoch nur gelegentlich, en passant durch; deren Herausarbeitung, so die Autoren, bleibe einer eigenen Studie vorbehalten (S. 17). Diese einseitige Anlage der Publikation mag man bedauern, da die eklatanten kulturellen Austausch- und Abgrenzungsprozesse und sozialen Verwerfungen in der Medina nur eingeschränkt sichtbar werden.
Die Autoren deuten die von ihnen beschriebenen Phänomene mit den Konzepten Gentrifizierung, kultureller Globalisierung und mit Bezügen zum Postkolonialismus. Dabei werfen sie eine offensichtlich eigene Begriffsschöpfung in die akademische Arena, nämlich diejenige der Orientmorphose. Hierunter verstehen die Autoren "die - unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung - individuelle und kollektive Produktion des irdischen Paradieses an einem mythisch aufgeladenen Ort" (S. 187). Der Ort werde so zu einem musealisierten Erlebnisland für Migranten. Orientmorphose könne an allen Orten, zu allen Zeiten auftreten; eine wichtige Voraussetzung sei allerdings, dass der Ort durch eine koloniale Transformierung vorbereitet werde (S. 188-190). Damit versuchen die Autoren, die eigenen Forschungsperspektive auf Marrakech - die durchaus zu lokalen Deutungen dieser Prozesse durch Marrakecher Intellektuelle kompatibel ist - zu verallgemeinern; es erschiene interessant, die Tragfähigkeit, Relevanz und auch Grenzen dieser begrifflichen Neuschöpfung zum Beispiel im Rahmen einer Tagung auszuloten.
Die verbale Deskription und Analyse der Prozesse in Marrakech werden durch zahlreiche Karten und Fotos ergänzt, in welchen die Ausbreitung ausländischen Immobilienbesitzes und die oftmals luxuriöse Umgestaltung der Stadthäuser durch westliche Ausländer anschaulich werden. Einführende Kapitel zeichnen fokussiert, facetten- und quellenreich die bauliche und soziokulturelle Entwicklung der Medina seit der Kolonialzeit nach. Die Abdrucke verschiedener Mental Maps zur Altstadt Marrakechs mag zunächst amüsieren; auffällig ist in der Tat, was die Zeichner bzw. Probanden alles an Lebenswirklichkeit ausblendeten, als sie ihr Bild von Marrakech wiedergaben. Man kann den Autoren bescheinigen, dass sie ein global relevantes Phänomen an einem markanten Beispiel überzeugend aufgearbeitet und die Debatten zu Gentrifizierung und Postkolonialismus um wichtige Aspekte bereichert und konzeptionell verbunden haben.
Thomas Schmitt
Quelle: Erdkunde, 65. Jahrgang, 2011, Heft 1, S. 87-88
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