Sonja Hnilica, Markus Jager und Wolfgang Sonne (Hg.): Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen. Bielefeld 2010. 280 S.
"Auf den zweiten Blick" ist ein Sammelband, der schon auf den ersten Blick begeistern kann. In dem reich illustrierten und attraktiv gestalteten Sammelband geht es um die Neubauten aus den 1950er, 1960er und 1970er Jahren in Nordrhein-Westfalen, die den meisten Betrachtern erst in der jüngeren Zeit durch ihre ästhetischen Qualitäten gefallen. Dies gilt nicht nur für die Ruhr-Universität Bochum, die "Betonschönheit" (S. 81), die die Herausgeber in einem Ausschnitt auch für das Titelbild gewählt haben.
Dies gilt vielmehr ebenso für die zahlreichen weiteren Beispiele, die in dem Sammelband von einigen renommierten Autoren sowie den Lehrenden und Studierenden am Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund für das einwohnerstärkste Bundesland dargestellt und behandelt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass 40 Prozent aller westdeutschen Bauten erst in der Zeit zwischen 1945 und 1975 errichtet wurden. Der Band will Verständnis für diese Epoche der Nachkriegszeit wecken, die viele Städte in Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise prägt und die erst seit kurzem eine verstärkte Aufmerksamkeit und Anerkennung in der Fachöffentlichkeit findet. Diesen Anspruch, für die vielen Bauten aus dieser Zeit zu sensibilisieren, löst der Sammelband - um es vorweg zu nehmen - ganz hervorragend ein.
Der Sammelband besteht aus zwei gut verknüpften Teilen. In einem ersten Teil schreiben teils bekannte Architekturkritiker in sieben Essays über die Nachkriegsarchitektur in Deutschland. In einem zweiten Teil werden 20 gut ausgewählte Projekte aus dieser Zeit mit einem kurzen Text und einigen Illustrationen vorgestellt. Dieser Teil ist aus einem studentischen Ausstellungsprojekt am Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Architektur an der Technischen Universität Dortmund hervorgegangen. Es dokumentiert diese Ausstellung, die im Herbst 2010 im Dortmunder U gezeigt wurde.
Im ersten Beitrag setzt sich Wolfgang Pehnt, einer der bekanntesten deutschen Architekturkritiker, ausdrücklich mit der Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen auseinander. Dabei zweifelt er an einer "NRW-typischen Architektur" (S. 14) und verdeutlicht exemplarisch für die Städte Köln, Bonn, Düsseldorf und Münster die unterschiedlichen Strategien beim Wiederaufbau. Im Weiteren nutzt er zahlreiche größere Einzelbauten aus dieser Zeit, um sie geschickt als Belege für die unterschiedlichen Strömungen in der Architektur und im Städtebau der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen einzuordnen. Wie die sechs weiteren übergeordneten Beiträge des ersten Teils ist auch dieser erste Beitrag sehr ansprechend mit eindrucksvollen Fotos illustriert.
Hanno Rauterberg, der Architekturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT, thematisiert im zweiten Beitrag mit seiner sehr angenehmen und anschaulichen Sprache die verschiedenen gesellschaftlichen Hintergründe der Architektur aus den 1950er und 1960er Jahren. Er fördert auf diese Weise ein Verständnis für diese Bauten, die heute oft von uns eher als Bausünden wahrgenommen werden. Am Ende steht aber auch für ihn die Architektur der 1960er Jahre in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Staunen und Entsetzen (S. 36).
Sehr persönlich schildert der Schriftsteller Burkhard Spinnen anschließend den Wandel der Hindenburgstraße in Mönchengladbach. Diese Haupteinkaufsstraße, die nach den schweren Kriegszerstörungen der Stadt im Stil der 1950er Jahre in einer modernen Formensprache wiederaufgebaut wurde, hat für Spinnen ihre Ensemblewirkung durch zahlreiche Nachbesserungen aus den letzten Jahren verloren. Nicht die Architektur der 1950er Jahre, sondern den Umgang mit dieser Architektur in den darauf folgenden Jahren beklagt der Schriftsteller in seiner eigenen Sprache, die sich bewusst von der Fachsprache absetzt und den Beitrag dadurch besonders lesenswert erscheinen lässt.
Im Beitrag von Christine Beese und Wolfgang Sonne geht es um den Wiederaufbau eines ganz gewöhnlichen Stadtquartiers im Dortmunder Süden. Das Saarlandstraßenviertel steht für ein Quartier der architektonischen Vielfalt, in dem sich ein unspektakulärer Wiederaufbau ohne eine Umlegungsplanung zumeist im Rahmen der Vorkriegsbebauung bewegt. Die beiden Autoren arbeiten heraus, dass dadurch heute der Eindruck eines gewachsenen, funktionsgemischten Quartiers erzeugt wird.
Der Beitrag von Regina Wittmann hat schließlich einen ganz anderen Charakter. Ihr geht es darum, das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst an der TU Dortmund darzustellen, das an der Ausstellung "Auf den zweiten Blick" wesentlich beteiligt war. In ihrem Beitrag werden einige größere Dortmunder Bauten der Nachkriegszeit vorgestellt, die bereits wieder abgerissen sind und dank der Archivalien aber heute noch präsentiert werden können. Die Bilder des markanten Volkswohlbund-Hauses aus den frühen 1970er Jahren bzw. des Hauses der Bibliotheken aus den 1950er Jahren, die beide inzwischen aus dem Dortmunder Stadtbild verschwunden sind, sind hier sehr beeindruckend.
Neun Beispiele für westfälische Baudenkmäler aus der Nachkriegszeit beschreibt Hans Hanke in chronologischer Reihenfolge. Er hat damit eine eher zufällige Auswahl aus den 500 Baudenkmälern getroffen, die erst nach 1945 in Westfalen entstanden sind und inzwischen unter Schutz gestellt sind. Deutlich wird in dem Beitrag, dass sich auch der Denkmalschutz nicht leicht getan hat, Projekte als denkmalwürdig anzuerkennen, die er noch in den 1970er Jahren bekämpft hat.
Schließlich geben Sonja Hnilica und Markus Jager im letzten Beitrag des ersten Teils einige Hinweise, wie heute mit der Architektur der Nachkriegszeit umzugehen ist. Hierbei nutzen sie allerdings Beispiele aus der ganzen Welt, um ihre zehn Strategien zu erläutern, die ein breites Spektrum vom Konservieren bis zum Abriss umfassen.
Im zweiten Teil werden dann die 20 Beispiele aus Nordrhein-Westfalen mit je einem kurzen Text und einigem Anschauungsmaterial vorgestellt. Dabei werden ganz unterschiedliche Bautypologien gezeigt: Wohnbebauung wie etwa der Hannibal in Dortmund aus den frühen 1970er Jahren, Verwaltungsbauten wie die Wuppertaler Stadtsparkasse aus eben dieser Zeit, Hochschulbauten wie die Ruhruniversität in Bochum aus den 1960er Jahren, Veranstaltungshallen wie die Westfalenhalle in Dortmund aus den 1950er Jahren, aber auch Kirchenbauten aus Dortmund oder Neuss aus der Nachkriegszeit. Die Vielfalt der entstandenen Bauten ist beeindruckend, wobei die Unterschiede zwischen den verschiedenen Jahrzehnten der Nachkriegsarchitektur sehr deutlich werden und eine Sympathie für die frühen Bauten der 1950er Jahre nachvollziehbar wird, wenn sie denn nicht durch Modernisierungsmaßnahmen ihren ursprünglichen Charakter in den letzten Jahren verloren haben.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es sich in erster Linie um ein Architekturbuch handelt, das aber für Stadtgeographen ausgesprochen interessant ist, die sich mit den Stadtentwicklungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland beschäftigen. Für alle anderen Geographen ist es wegen seiner Konzeption beachtenswert. So handelt es sich um einen gehaltvollen und hochwertigen Ausstellungskatalog, der aus einem studentischen Projekt an der Hochschule hervorgegangen ist und der durch Expertenbeiträge angereichert wurde. Für die Lehre an geographischen Instituten könnte ein solches Projekt ein Vorbild sein.
Claus-C. Wiegandt
Quelle: Erdkunde, 65. Jahrgang, 2011, Heft 1, S. 92-93
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