Doris Wastl-Walter: Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Stuttgart (Sozialgeographie kompakt 2) 2010. 242 S.

Gender Geographien ist ein Lehrbuch, das eine Einführung in feministische Theorie und Kritik, Gender Studies und Queer Studies gibt und Beiträge der Geographie zur Geschlechterforschung in ausgewählten Teildisziplinen aufzeigt. Doris Wastl-Walter hat damit ein Buch vorgelegt, dem durch seine durchgängig sehr gut verständliche Darstellung theoretischer und empirischer Grundlagen und Konzepte von Geschlecht und Raum eine hohe Bedeutung für die geographische Lehre und Forschung - d. h. für Studierende, Lehrende und Forschende - beizumessen ist.

 

In den ersten drei Kapiteln werden theoretische Grundlagen vermittelt; in den darauffolgenden Kapiteln 4 bis 9 wird die Geschlechterperspektive in sozialgeographischen Teildisziplinen durchleuchtet. Das erste und zugleich umfangreichste Kapitel erläutert theoretische Konzepte von Geschlecht und Raum und zeigt empirische Zugänge einer gendersensiblen Geographie auf. Auf die erste und zweite Frauenbewegung wird relativ kurz eingegangen, gleichfalls wird auf eine ausführliche Abhandlung historischer Entwicklungslinien der feministischen Geographie und geographischen Geschlechterforschung verzichtet. Doris Wastl-Walter geht es vielmehr darum, die wesentlichen Grundgedanken und Konzepte feministischer Theorie und Kritik und der Gender und Queer Studies aufzuzeigen (Intersektionalität, Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus), die soziale Konstruiertheit gleichwohl von Geschlecht und Raum theoretisch herzuleiten und die komplexen Beziehungen von Raum und Geschlecht aufzudecken. Die Kritik am Feminismus und die daraus abgeleitete Bedeutung der Kategorie Gender (d.h. des sozialen Geschlechts) für die Geographie sind sehr gut nachvollziehbar; weniger überzeugend sind aus meiner Sicht hingegen die Ausführungen zu methodischen Herangehensweisen einer gendersensiblen Geographie in Kapitel 1.7, das ausschließlich auf qualitative Methoden Bezug nimmt und quantitative Methoden als ein Werkzeug für die Produktion von Atlanten begreift (S. 59). ‚Harten' Fakten in Form von amtlichen Statistiken und empirischen Studien, in denen der Einfluss des Geschlechts unter Konstanthaltung weiterer Einflussfaktoren (d.h. mittels multivariater Analysemethoden) untersucht wird, kommt m.E. eine außerordentliche Bedeutung zu, um Geschlechterungleichheiten aufzuzeigen und damit z.B. einer weitgehend geschlechtsblinden Wirtschaftsgeographie die Bedeutung der Differenzierungskategorie Geschlecht näherzubringen. Da qualitativen Methoden der Vorrang vor quantitativen Methoden und Analyseverfahren gegeben wird, finden z.B. Gender Indizes, die in den vergangenen Jahren u.a. in Deutschland und Schweden als ein gleichstellungspolitisches Instrument der Regional- und Kommunalplanung entwickelt wurden, in dem gesamten Lehrbuch kaum Berücksichtigung.

Im zweiten Kapitel wird der Grundgedanke feministischer Geographie von der Vergeschlechtlichung des Raumes und der Verräumlichung von Geschlechterrollen weiter ausgeführt, indem Körper und Körperlichkeiten und deren Koppelung mit Identität in den Blick genommen werden. Dass Wissenschaft selbst patriarchale gesellschaftliche Strukturen (re-)produziert, zeigt Kapitel 3, das sich mit feministischer Wissenschaftskritik befasst. Im Zusammenhang mit der feministischen Naturwissenschaftskritik werden auch Bezüge zur physischen Geographie hergestellt (S. 82).
Wer sich konkret für die Geschlechterforschung in spezifischen humangeographischen Themenfeldern interessiert, wird in den Kapiteln 4 bis 9 fündig: Kapitel 4 widmet sich der Geographie der Arbeit. Um Arbeitsbedingungen von Frauen geht es auch im Kapitel 5, das sich mit den Auswirkungen der Globalisierung und internationalen Wanderungsbewegungen beschäftigt. Stadtgeographische und -planerische Themen werden in Kapitel 6 diskutiert. Kapitel 7 und 8 widmen sich der Politischen Geographie; zunächst geht es um Nationalstaaten und ihre spezifischen Gender Regimes, dann um Sicherheitspolitik und Internationale Beziehungen. Abschließend wird Gender im Kontext der Entwicklungsländerforschung und Entwicklungspolitik betrachtet (Kap. 9).

In der Zusammenschau bieten die Kapitel einen dezidierten Überblick darüber, welche geschlechtspezifischen Themen und Fragestellungen in den jeweiligen Teildisziplinen aktuell diskutiert werden und in zukünftiger Forschung bearbeitet werden sollten. Anhand zahlreicher Beispiele wird eindrucksvoll erläutert, was gendersensible Forschung meint und wie Geschlechterforschung in der Humangeographie Anwendung findet. Die Vielfalt der Anwendungsfelder ist überaus beeindruckend. Trotz des plausiblen Hinweises, dass nicht alle relevanten sozialgeographischen Themen im Rahmen dieses Buches abgedeckt werden können, hat mich überrascht, dass Geschlechterunterschiede in der Alltagsmobilität und damit der Themenbereich ‚Verkehr und Gender' nur beiläufig erwähnt werden (S. 97). Das erklärt auch, warum die viel zitierten empirischen Studien zu Geschlechterungleichheiten von Susan Hanson - einer Vertreterin der feministischen Geographie - in diesem Buch nicht zitiert werden. Demgegenüber bietet das Buch viele aufschlussreiche Analysen, die sich von dem Mainstream in der (deutschsprachigen) Geographie deutlich abheben, wie die differenzierte Analyse des Gender Regimes in der DDR (Kap. 7), das für das Verständnis heutiger Unterschiede in den Lebensentwürfen und Geschlechterrollenidentitäten in Ost- und Westdeutschland (immer noch) relevant ist.

Die didaktische Strukturierung und Aufbereitung des Buches (Merksätze, prägnante Zusammenfassungen einzelner Kapitel durch Merkpunkte, Schnellleseleiste, Glossar usw.) sind angesichts des Lehrbuchcharakters vorbildlich. Bedauerlich sind die nicht wenigen formalen Fehler (Rechtschreibfehler, Tippfehler, falsche Verweise auf Abbildungen/Karten im Text). Der Bezug auf veraltete Daten und Literaturquellen ist insbesondere im Kapitel 4 auffällig. Über die Online-Datenbank von Eurostat sind die aktuellsten Arbeitsmarktdaten (jährlicher Durchschnitt von Quartalsdaten und Quartalsdaten) für europäische Staaten leicht zugänglich; die aktuellsten Daten in Kapitel 4 beziehen sich hingegen auf 2005. Ein aufmerksamerer Umgang mit Daten ist auch an anderer Stelle wünschenswert, z.B. in Kapitel 6 in Bezug auf Daten zu Alleinerziehenden in Deutschland (S. 126).

Zusammenfassend erachte ich Gender Geographien als ein sehr gelungenes Werk, das nicht nur das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der komplexen Beziehungen von Geschlecht und Raum schärft, sondern durch seine konsequente interdisziplinäre Ausrichtung wichtige Perspektiven für die geographische Forschung aufzeigt. Insgesamt wäre ein stärkerer Praxisbezug des Buches wünschenswert, was die Bedeutung von Gender und Raum für die angewandte Humangeographie nochmals unterstrichen hätte. Hierbei denke ich insbesondere an die Implementierung von Gender Mainstreaming (z.B. EU Strukturfondsförderung), die beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU und deren Umsetzung in den Nationalstaaten (ESF) sowie den bereits erwähnten BBSR Gender-Index.
Darja Reuschke

Quelle: Erdkunde, 65. Jahrgang, 2011, Heft 1, S. 90-92