Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin u. Hamburg 2010. 296 S.
Der Sammelband ist das Resultat einer 2008 in München lancierten disziplinenübergreifenden Vernetzung kritischer Migrations- und GrenzregimeforscherInnen und politischer AktivistInnen in Europa. Dieses Netzwerk zielt auf eine intervenierende, kritische Wissensproduktion ab, die, ausgehend von einem "Recht auf Migration und Flucht" (13), das sich herausbildende europäische Grenzregime in seinem Konstitutionsprozess untersucht. Die Beiträge des Bands interessieren sich für Akteure, Institutionen, Orte, Diskurse und Praktiken (12), die sie auch im Sinne einer Erprobung und Entwicklung von Theorien diskutieren (15).
Aufbauend auf den umfangreichen Arbeiten im Umfeld der Forschungsgruppe Transit Migration sowie den politisch intervenierenden Forschungen der Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) und in Kooperation mit zahlreichen ForscherInnen, die am Schnittpunkt von Wissenschaft und politischem Aktivismus arbeiten, zeigt der Band, wie Bewegungen der Migration das Grenzregime dynamisieren und verändern. Anhand der Beispiele Marokkos (Gerda Heck), der Ukraine (Marc Speer) und - in vergleichender Perspektive - Mittelamerikas (Stefanie Kron) zeichnet er ein Bild der Externalisierungsstrategie, durch die die Ränder der EU in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu Brennpunkten der Migration geworden sind (11).
Auf die Vervielfachung der Akteure reagiert der Band mit der Analyse einzelner Organisationen: des UNHCR (Philipp Ratfi sch & Stephan Scheel), der europäischen Grenzschutzagentur Frontex (Bernd Kasparek), der International Organisation for Migration (IOM) (Fabian Georgi) sowie des Centre d'Information et de Gestion de Migrations (Jill Jana Janicki &, Thomas Böwing), an dessen Beispiel die Verknüpfung des Migrations- mit dem Entwicklungsdiskurs und die Auslagerung von auf Migration spezialisierten Institutionen der EU in Herkunfts- und Transitländer beleuchtet wird.
In der Rubrik "Praktiken" steht neben den "freiwilligen" Rückführungen (Stephan Dünnwald) und den Aktivitäten der EU auf dem Mittelmeer (Silja Klepp) die Analyse der Verschränkungen von Diskursen über Menschenhandel und über Sexarbeit im Mittelpunkt des Interesses. Dabei gelingt es Eva Bahl, Marina Ginal & Sabine Hess, die Kriminalisierung und Viktimisierung feminisierter Migration zu kritisieren, ohne "die Realitäten sexualisierter Gewalt gegen Frauen" (164) zu relativieren. Ihr Aufsatz zeigt in gendersensibler Weise, wie der antitraffi cking-Diskurs zu "einem zentralen Stützpfeiler des Europäischen Grenzregimes geworden" ist (176).
Der graphisch in Zusammenarbeit mit medico international gestaltete Band besticht durch seine Kritik der in der Migrationsforschung vorherrschenden Erklärungsmodelle. So stellt er strukturalistische und repressionshypothetische Erklärungen der Migrationskontrolle auf den Prüfstand. Die AutorInnen gehen davon aus, dass nicht die Verhinderung der Migration, sondern die selektive Inklusion den funktionellen Kern des Grenzregimes darstellt - ein Befund, den auch der Ausdruck "Migrationsmanagement" anzeigt, der sich im EU-Jargon durchgesetzt hat. Unter Rückgriff auf Gouvernementalitätsanalysen stellen sie die Praktiken der Akteure ins Zentrum ihres Interesses (93). Eine zentrale Figur, nach der das Feld der Migration organisiert wird, machen zahlreiche Beiträge in der "Aufteilung des sozialen Feldes der Migration in schutzbedürftige 'Flüchtlinge' einerseits, [...] und in 'illegale MigrantInnen' andererseits" (94) aus. Wie Ratfisch & Scheel am Beispiel der Türkei zeigen, ist diese auf der Genfer Konvention beruhende Unterscheidung die Grundlage, auf der Organisationen wie das UNHCR an der Produktion des Bedrohungsszenarios "illegale Migration" als einer realen Gegebenheit mitwirken (95). Die Autoren verdeutlichen, wie - als "Effekt der dynamischen Machtkämpfe" im Feld der (Un-)Sicherheit - die "Versicherheitlichung" der Migration diese als ein zu kontrollierendes Problem für europäische Gesellschaften überhaupt erst konstituiert.
Die methodischen und theoretischen Überlegungen gehören zu den großen Stärken des Bands: Über eine reine "Lokalisierung der Grenzregimeforschung" (20) hinaus, schlägt er vor, im Anschluss an das Foucault'sche Machtverständnis die Produktivität und Kontingenz des umkämpften Regierens von Migrationskontrolle (250) in den Vordergrund zu stellen.
Zahlreiche Beiträge erproben den Ansatz der "ethnographischen Grenzregimeanalyse", den Vassilis Tsianos und Sabine Hess vorstellen: Dieser soll die Handlungsmacht der Migration in die Theoretisierung der "Struktur" Grenze einbeziehen (245). Dafür stützen sich die AutorInnen auf multimethodische Verfahren, etwa die Kopplung regimetheoretischer, ethnographischer und diskursanalytischer Herangehensweisen. So gelingt es ihnen, eine theoretische Perspektive zu entwerfen, welche die Funktionsweisen des "doing border" beschreibt, ohne die Herrschaftsverhältnisse und die Autonomie der Migration aus dem Blick zu verlieren.
Zwei Beiträge des Bands widmen sich explizit staatstheoretischen Überlegungen: Tobias Pieper beschreibt die Entwicklung des Lagers als biopolitisches Regulationsinstrument. Der sehr knapp gehaltene Beitrag zeigt die exkludierende Funktion des innereuropäischen Lagersystems sowie ihre Verlagerung in die Anrainerstaaten. Pieper argumentiert dabei zwar mit einem auf Nicos Poulantzas aufbauenden Konzept des Staats als eines Orts von Kämpfen, verbleibt aber in einer auf asymmetrische Zwänge beschränkten Analyse: Wirtschaftliche Integration und militärische Bedrohung nötigten die Anrainerstaaten zur Einrichtung der Lager (223). Demgegenüber entwickelt Fabian Wagner in seinen Überlegungen zu Migration und materialistischer Staatstheorie ein an Bob Jessop angelehntes relationales Konzept, das die Transformationsprozesse von Staatlichkeit, die dazu führten, dass der Nationalstaat "nicht mehr das exklusive Terrain von Migrationskontrolle" sei (238), in den Blick nimmt. Aufbauend auf den Arbeiten von Serhat Karakayali und Manuela Bojadžijev zeigt er, wie sich Migration durch die Trennung von Lohnarbeit und Staatsbürgerschaft auf die Klassenzusammensetzung auswirkt (239). Damit legt er eine theoretische Grundlage für künftige Forschung, die Staat und Migration nicht als äußerliches Verhältnis begreift, sondern sowohl die Einschreibungen der Kämpfe der Migration in die Materialität des Staats als auch die Transformation migrantischer Strategien durch die Staatsapparate einbeziehen kann.
Lotte Arndt
Quelle: Peripherie, 31. Jahrgang, 2011, Heft 121-122, S. 364-366
zurück zu Rezensionen
zurück zu raumnachrichten.de