Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007. 328 S.

Die von Stephan GÜNZEL herausgegebene „Topologie“ widmet sich einer interdisziplinären Aufgabe der Erkenntnistheorie: der vielperspektivischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Raumes. Der Band dokumentiert zwei Symposien, die 2005 und 2006 am Kolleg Friedrich Nietzsche (Klassik Stiftung Weimar) stattgefunden haben. Neben der Einleitung des Herausgebers enthält der Band 18 Beiträge, die sich drei unterschiedlichen Theoriefeldern widmen: bestehenden Raumkonzeptionen, dem Raum in der Mathematik und spezifischen Anwendungen verschiedener Raum-Konzepte.

 

Die jeweiligen Beiträge sind zwar innerhalb ihrer Disziplinen verortet und in wissenschaftshistorisch je eigenen Rationalitäten verwurzelt. Dennoch bewegen sie sich – indem sie nun aus dem Zusammenhang eines interdisziplinär angelegten Kontextes auf einen grenzüberschreitenden Diskurs einwirken – auf einem Grat. Aus dem Blickwinkel der Verschiedenheit wird deutlich, dass es nicht das eine (oder andere) richtige Raumkonzept gibt, sondern Diskurskulturen, die ein bestimmtes Denken präjudizieren. Der Medienwissenschaftler Peter BEXTE plädiert in seiner zwischen Kybernetik und Strukturalismus oszillierenden Raumbetrachtung mit Blick auf die Philosophie von Michel Serres für das Eintreten ins Labyrinth, in dessen offenen und verrätselten Strukturen mehr Fragen als Gewissheiten zu Tage treten.

Auf dem Hintergrund der Psychoanalyse sucht auch die Psychoanalytikerin Mai WEGENER weniger nach einem singulären Raum-Verständnis, als nach Rhythmen des Denkens, die dank ihrer Bewegung an Grenzen und Rissen vertraut geglaubte Gewissheiten blass werden lassen. Dem Typ „produktiv unsicheren“ Denkens kommt in besonderer Weise Heidegger entgegen.1 In ihrem Beitrag zur Topologie bei Martin Heidegger skizziert die Kulturwissenschaftlerin Kathrin BUSCH eine Philosophie des Raumes, in deren Mitte kein semiotisch lesbarer Raum gesellschaftlich eingeschriebener Bedeutungen steht, sondern ein gelebter Raum, in dem ein jeder Mensch ist (Raum wird hier als anthropologische und existenzielle Dimension entfaltet). Deshalb sind Räumen auch Atmosphären zueigen, die Individuen zu „stimmen“ vermögen, wenn sie in deren persönliches Befinden eingehen. Der Begriff des „Stimmungsraumes“ (bei Heidegger wie bei Bollnow) öffnet das Verständnis für den „pathischen Raum“2 einer „Herumwirklichkeit“3.


Dieses phänomenologische Denken des Raumes steht in einem beinahen krassen Gegensatz zum RaumDenken, wie es im Mainstream der deutschsprachigen Humangeographie vorherrschend ist. Der Beitrag der Humangeographin Julia LOSSAU steht deshalb auch in einem starken Gegensatz zum Begriff des Raumes bei Bernhard Waldenfels (Topographie der Lebenswelt). Wird diese Differenz bewusst gemacht, mündet sie (zumindest aus geisteswissenschaftlicher


Sicht) in das Veto gegen monotheistische Reduktionismen, wie sie unverkennbar in jener intellektualistisch-kognitivistischen Perspektive des derzeitigen humangeogra-phischenRaumDenkens(„Methodologischer Individualismus“) zur Geltung kommen.
Das humangeographisch soziologisierte Denken, wie es von LOSSAU umrissen wird, mag durch die Kraft der Zustimmung der scientific community disziplintheoretische Heimat stiften; erkenntnistheoretisch ist es indes durch ein strukturelles Absehen vom prärationalen Leben der Menschen erkauft. Julia LOSSAU dokumentiert ein RaumDenken, das in einer kognitivistisch-reduktio-nistischen Falle sitzt und eine wissenschafts-theoretische Raumangst gegenüber all jenen Seinsweisen zum Ausdruck bringt, die – wie Heideggers oder Bollnows pathische Räume (s. Beitrag BUSCH) – nicht in einem semiotischen Sinne gelesen und als konstruktivistische Gravur gesellschaftlich vorausgegangenen Handelns verstanden werden können. Damit steht das RaumDenken der deutschsprachigen Humangeographie geradezu paradigmatisch für einen postkritischen Wissenschaftshabitus, aus dem heraus das dauerhafte wissenschaftstheoretische Überleben prekär wird.
 
In der Breite seiner erkenntnistheoretischen Ansätze liefert der Band plurale Ansätze mehr zum Verständnis von Räumen als des Raumes. Die sich mit dem Buch stellende Herausforderung dürfte indes weniger darin liegen, in einzelnen Disziplinen je spezifische Verstehensweisen des Raumes und des Räumlichen zu kultivieren. Herausfordernder dürfte die riskante Aufgabe sein, in die je vertraut gewordene eigene Disziplin eine Pluralität des Denkbaren (i.S. von Martin Heidegger) hineinzutragen, um in der Analyse von Wirklichkeit und Realität mehr Detailreichtum zur Entfaltung bringen zu können.

Anmerkungen
1 Vgl. besonders Martin HEIDEGGER 1997: Was heisst Denken? Tübingen.
2 Vgl. dazu auch BUSCH, Kathrin u. Iris DÖRMANN (Hrsg.) 200: >pathos<. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld.
3 Vgl. Graf Karlfried von DÜRCKHEIM 2005: Untersuchungen zum gelebten Raum. Mit Ein-führungen von Jürgen HASSE, Alban JANSON, Hermann SCHMITZ und Klaudia SCHULTHEIS. Frankfurt/Main. (= Natur – Raum – Gesellschaft, Bd. 4).

Jürgen Hasse, Frankfurt/M.

Berichte zur deutschen Landeskunde, Bd. 84, H.1, 2010, S. 95-96

 

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