Martina Blank: Zwischen Protest und trabajo territorial. Soziale Bewegungen in Argentinien auf der Suche nach anderen Räumen. Berlin 2009. 300 S.
Mit den im Dezember 2001 von der Finanzkrise Argentiniens ausgelösten Protesten wurde eine transnationale Öffentlichkeit auch auf deren Widerstandsformen aufmerksam. Die Gründe der Revolte waren jedoch vielfältiger. Verf. sieht drei zentrale Konfliktfelder dieser bis heute andauernden Mobilisierung: die neoliberale Strukturanpassung, die in der Finanzkrise gipfelte, die Straflosigkeit der Täter der letzten Militärdiktatur von 1976-1983 sowie die nach dem Ende der Diktatur und 1999 nach der Ablösung der Menem-Regierung erneut enttäuschten Hoffnungen auf eine wirkliche Demokratisierung.
Entsprechend dieser Differenzierung interessiert Verf. sich erstens für die cacerolazos, den lautstarken ›Kochtopfdemonstrationen‹ als Folge der Strukturanpassung, zweitens für die escraches, das öffentliche Aufsuchen, Bemalen der Häuser, Verteilen von Flugblättern an Nachbarn etc. zum Sichtbarmachen der Täter an ihren Wohnorten, drittens für das im Vergleich so viel leisere trabajo territorial, der Arbeit im Stadtteil durch Nachbarschaftsversammlungen, den asambleas.
Warum machten sich quer zu den Problemstellungen seit Mitte der 1990er Jahre verschiedene immer neue Gruppen die Stadtteilarbeit (trabajo territorial) zur Aufgabe, obwohl sie damit kaum medienöffentlich wahrgenommen wurden? Welche Handlungsperspektiven waren damit verknüpft? Und welche übergreifenden Tendenzen drücken sich darin aus? Ausgehend von diesen Fragen untersucht Verf. die spezifischen Verortungen kollektiven Handelns. Sie folgt damit einer jüngeren Tendenz kritischer Sozialwissenschaft, sich zunehmend für den Raum zu interessieren ("spatial turn"). Ausgangspunkt dessen war eine Analogie Henri Lefèbvres: So wie in der Ware treten uns im Raum soziale Beziehungen und Prozesse als geronnen entgegen und werden in dieser Vergegenständlichung unsichtbar. Entsprechend sei es Aufgabe kritischer Sozialwissenschaft, den Raum nicht nur zu beschreiben, sondern ihn zu dekonstruieren und die dahinter stehenden sozialen Prozesse herauszuschälen. Verf. liefert eine Einführung in die gesellschaftswissenschaftliche Konzeption von Raum im Allgemeinen und/oder sozialen Bewegungen im Besonderen. Dabei bezieht sie sich auf vier Punkte zum Raumverständnis, die sie bei den Theoretiker/ innen Paul Routledge, Ulrich Oslender, Arturo Escobar und Doreen Massey findet. Diese verstehen Raum als prozesshaft, nicht statisch, offen, nicht klar umgrenzt, konstruiert (und konflikthaft), nicht essentialistisch (und als kohärente Identität) sowie multiskalar, nicht rein lokal. Jeder Platz sei einzigartig, diese Einzigartigkeit schöpfe er jedoch nicht aus sich selbst, sondern aus einer Überlagerung und Verknüpfung globaler und lokaler Prozesse sowie weiterer Ebenen, die miteinander in komplexer Weise artikuliert sind. Entsprechend versteht Verf. unter Raum "eine verortete Verdichtung sozialer Interaktion" (89) und setzt trabajo territorial keineswegs mit Lokalisierung gleich. Diese verstand Manuel Castells als Defizit und das Colectivo Situationes als notwendiges Abkoppeln von der Globalität. Doch gerade durch das Ineinandergreifen verschiedener Maßstabsebenen könnten diese kollektiven Praktiken weit über die lokale Ebene hinaus wirkmächtig werden.
Verf. betont mit Routledge, Castells u.a. die Bedeutung von Raum als materielle Basis für soziale Organisation, als kontrollfreier Ort, an dem neue Ideen, Werte, Projekte und schließlich Vorstellungen gefunden werden können, die nicht mehr mit den herrschenden Verhältnissen vereinbar sind. Soziale Bewegungen seien also nicht nur an Kämpfen um Raum, sondern auch an der Schaffung neuer Räume beteiligt und stünden in einem Wechselverhältnis zu den Organisationsprozessen. Dies hält sie auch als Ergebnis ihrer Feldforschung fest. Ihr Blick richtet sich darauf, welche konkrete Funktion Raumkonstruktionen in den Mobilisierungs- und Organisationsprozessen übernehmen, welche Potenziale und welche Probleme sie bergen, welche Ein- und Ausschlussprozesse mit ihnen einhergehen, und schließlich, wo die möglichen Grenzen solcher autonomen Raumproduktionen liegen.
Ihre eigene Feldforschung konzentriert sich auf die Asamblea Popular de Florida Este (ASE) im Großraum Buenos Aires. Die Anonymisierung ihrer Interviewpartner/innen begründet sie damit, dass so deren spezifischer Funktion als Sprecher/innen kollektiver Akteure Rechnung getragen werde, und damit der Konzentration auf kollektiv hervorgebrachte Räume. Wer mit postkolonialer Theorie dies als ›gewaltvolle Homogenisierung‹ zu bezeichnen geneigt ist, kann sich vielleicht doch von ihrem Argument überzeugen lassen, dass die "eigenen Biografien, Lebensstile und Weltanschauungen" der asambleístas durch das Mitwirken an den Stadtteilversammlungen "überhaupt erst sinnhaft und deshalb auch selektiv eingebunden werden" (263). Dieser Verwobenheit von Akteuren und Räumen im Sinne einer Bewegungsforschung nachzuspüren, ist ihr außerordentlich gut gelungen.
Friederike Habermann (Berlin)