Journal of Agrarian Change, "Productive Forces in Capitalist Agriculture: Political Economy and Political Ecology", 10. Jg., H. 3, Juli 2010 (155 S., kostenlos downloadbar)
Obwohl sich die Zeitschrift - wie Henry Bernstein einleitend erklärt - 2001 vom Journal of Peasant Studies mit der Begründung abgespalten hat, es gebe dort zu wenig Interesse an theoretischer Arbeit zu Produktivkräften in der Landwirtschaft (300f), ist die vorliegende Ausgabe in dieser Hinsicht enttäuschend. Außer in der Einleitung spielt der Produktivkraftbegriff in keiner der folgenden Analysen eine Rolle. Dennoch liefern die sechs Aufsätze reichhaltiges Material zu Entwicklung, Einsatz und Eigentumsverhältnissen der Biotechnologien sowie zur landwirtschaftlichen Produktivität.
Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise des Zugangs zu Nahrungsmitteln thematisieren mehrere Beiträge die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität. Einen Fokus bilden dabei die Biotechnologien, v.a. die Gentechnologie, die unterschiedlich bewertet wird. David Wield, Joanna Chataway und Maurice Bolo etwa befürworten diese: die Debatte über deren Potenzial zur Produktivitätssteigerung "should not be deflected by the classic populist preoccupation with what is best for, or can ›save‹, the poorest farmers in the South" (364). Zudem seien Richtung und Kontrolle der gentechnologischen Forschung prinzipiell veränderbar (ebd.). Die Argumentation der Verf. bleibt jedoch stellenweise unschlüssig, etwa wenn sie eine Fallstudie zu Indien zitieren, wonach "›farmers‹ are not the ›passive, helpless victims of technology‹ they are so often framed to be but, rather, ›active, powerful users of technology‹" - und diese Aussage dann selbst in Frage stellen, indem sie einräumen, diese "›farmers‹", die gegenwärtig von der Gentechnologie profitieren, "appear to be small-scale capitalists" (361). Allerdings weisen Verf. zu Recht darauf hin, dass der Widerstand gegen Gentechnologie, etwa in Europa, andere Biotechnologien wie z.B. die Züchtung mit Hilfe molekularer Marker bevorteilt (350). Moore und Tony Weis behaupten dagegen, die landwirtschaftliche Produktivität sei kaum weiter steigerbar: einerseits bleibe die vielbeschworene "productivity revolution" durch neue landwirtschaftliche Technologien aus (Moore, 390), andererseits gebe es unüberwindbare "biophysical barriers" in Form von Bodenerosion, Energieverlusten, Klimawandel usw. (Weis, 321). Die von beiden diagnostizierte globale Produktivitätsabnahme seit den 1980er Jahren kann jedoch nicht als abnehmende Arbeitsproduktivität der Biotechnologien schlechthin interpretiert werden, da beide Produktivität mit Flächenertrag gleichsetzen. Moore will zeigen, dass steigende landwirtschaftliche Erträge - unmittelbar Arbeitskraft und Rohmaterial verbilligend - historisch eine zentrale Rolle bei der Einleitung neuer Phasen der Kapitalakkumulation gespielt haben, wobei sie oft nicht primär auf erhöhter landwirtschaftlicher Arbeitsproduktivität durch neue Technologien, sondern auf neuen Möglichkeiten der Plünderung natürlicher Ressourcen basierten. So sei etwa die Durchsetzung der Dampfmaschine, die die "underproduction of basic inputs, especially fuel, fibres and timber" und damit "the greatest problem of early capitalism" überwinden half, "unthinkable without the vertical frontiers of coal mining and the horizontal frontiers of colonial and white-settler expansion in the long nineteenth century" - mit dem Resultat einer (temporären) Senkung der "systemwide organic composition of capital" und folglich einem "revival of profitability " (393). Zentral sei insbesondere die massive Aneignung von fruchtbarem Land und Wasser in der Peripherie gewesen, um billige Nahrung zu produzieren. Entsprechend sei ein Kernelement der gegenwärtigen "Krise des Neoliberalismus" die Unmöglichkeit, billige Nahrung in den Zentren der Proletarisierung bereitstellen zu können. Moores Skepsis hinsichtlich einer innerkapitalistischen Überwindung der Krise geht zwar über die klassische Grenzen-Argumentation von Weis hinaus, blendet jedoch Wichtiges wie z.B. die zentrale Rolle des Staates in der landwirtschaftlichen Subventionierung im 20. Jh. aus.
Jack Kloppenburg diskutiert mit der Idee eines "BioLinux" - ein Rechtssystem für die Entwicklung neuer Pflanzensorten entlang der Linien der Open-Source-Lizenzen für Software - eine Möglichkeit zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte. Da sowohl Institutionen wie das UN-Saatgutabkommen als auch der Widerstand der landwirtschaftlichen Bewegungen zu schwach seien, um die industriell-kapitalistische Aneignung kollektiver "genetischer Ressourcen" zu stoppen, untersucht Verf. bereits bestehende Open-Source- Initiativen für Biotechnologien, um einen ähnlichen Entwurf für die Nutzpflanzenzüchtung zu entwickeln. Vor Augen hat er sowohl die öffentliche Pflanzenzüchtung als auch die Bauern v.a. im globalen Süden, die im Gegensatz zur Mehrheit der nordamerikanischen und europäischen Bauern noch immer neue Sorten züchten (383). Verf. erkennt, dass die landwirtschaftliche Produktivität historisch auf dem "sharing of seed" unter Bauern basierte (371), so dass ähnlich wie in der Open-Software-Bewegung möglichst viele im Rahmen von "protected commons" daran mitarbeiten konnten. Eine "General Public License for Plant Germplasm" würde die weitere Züchtung einer Pflanze erlauben, solange das ursprüngliche Material zugänglich, also nicht von Patenten, Sortenschutz usw. besetzt wäre - sodass die "Wiederaneignung" auf kollektiver Basis möglich würde (377f).
Dieser Vorschlag mag für die von den Eigentumsmonopolen der Industrie schwer beeinträchtigte öffentliche Pflanzenzüchtung interessant sein, aber es ist fraglich, ob bäuerliche Bewegungen, die Kloppenburg explizit adressiert, dieses System akzeptieren würden. Neben den praktischen Problemen eines Vertragsschlusses bei der jahrtausendealten und alltäglichen Weitergabe von Saatgut wären Bauern und indigene Völker, wie Verf. einräumt, "rightfully suspicious of proposals made by those outsiders who purport to make proposals on their behalf or in what are alleged to be their best interests" (382). Vor allem jedoch übersieht Verf. fundamentale Unterschiede zwischen Software und Saatgut. Die bäuerliche Züchtung kann eine Pflanzensorte nicht auf einige Molekularsequenzen reduzieren, anhand derer das ›ursprüngliche Material‹ als ›source‹ identifiziert werden könnte. Die Produktion von bäuerlichem Saatgut basiert auf weitaus komplexeren Verhältnissen zwischen Gesellschaft, Boden und Keim. Die schnelle Auflösung dieser Verhältnisse - und nicht allein der Eigentumsverhältnisse - ist das entscheidende Hindernis nicht nur, wie meist argumentiert wird, für die Konservierung von Saatgut, sondern auch für dessen Weiterentwicklung als (vergesellschaftete) Produktivkraft.
Miriam Boyer (Berlin)
Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 626-627
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