Stephan  Albrecht (Hg.): Stadtgestalt und Öffentlichkeit. Die Entstehung politischer Räume in der Stadt der Vormoderne.  Köln-Weimar-Wien 2010. 349 S.

Einhergehend mit der oft beklagten Globalisierung wurde dem Idealbild der europäischen Stadt ein jähes Ende prophezeit. Von dieser Annahme sind die Verf. der 16 Beiträge geleitet. Sie richten ihr Erkenntnisinteresse auf die vormodernen "Anfänge der Liaison von Stadt und Öffentlichkeit" (7) und konzentrieren sich geographisch auf das Gebiet des heutigen Italien und des Deutschland innerhalb der ehemaligen Reichsgrenzen. Die besondere Aktualität der Thematik begründet sich nach Ansicht des Hg. aus der drohenden Trennung eben dieser historischen  Verbindung, die er in einer Tendenz zum sog. urban sprawl, einer ›Zersiedlung‹ in Vorstädte, sieht.

Erstaunlich, dass Hg. diesbezüglich in einer Fußnote u.a. auf Sassen rekurriert (7), die doch gerade auf neue Formen städtischer Zentralität verweist und wie der Stadtökonom Läpple eine "Renaissance der Städte" postuliert. Der hier vorgelegte kulturhistorische Zugang hält am Idealbild der europäischen Stadt fest und will Öffentlichkeit als ihre Schöpfung verstanden wissen. Dahinter steht der Terminus der "okkasionalen Öffentlichkeit, die sich zeitlich befristet und lokal begrenzt aus einer bestimmten Personengruppe zusammensetzt" (8). Der Stadtobrigkeit wird der Einsatz strategischer Mittel zur Erzeugung von Öffentlichkeit unterstellt. Selbsterklärtes Ziel des Bandes ist es, aus historischer, kunsthistorischer und stadtarchäologischer Perspektive den theoretischen Rahmen des Öffentlichkeitsbegriffs zu erweitern.

Der Beitrag von Ágota Pataki sticht positiv hervor. Hier blickt keine heutige Wissenschaftlerin auf die Stadt der Vergangenheit, sondern präsentiert wird der Augsburger Kaufmann und Ratsherr Hektor Mülich, der das Augsburg seiner Zeit um 1500 beschreibt. Verf. rückt dessen interpretativ bebilderte Rezeption der Augsburger Stadtchroniken ins Zentrum ihrer Fallstudie. Das Entscheidende an Mülichs idealtypischem Blick auf die Stadt ist, dass er die antiken Ideale von bürgerlichen Werten und Tugenden in seinen Illustrationen adaptierte (127ff). Verf. legt damit einen introspektiven Öffentlichkeitsbegriff vor, der den Stadtbürger als "Träger der Tugenden und des Gemeinwesens" (134) konstituiert, und widerspricht damit implizit Habermas' dichotomem Verständnis von Öffentlichkeit, der die Reflexion bürgerlicher Werte der Moderne zuordnet. Nahezu alle Beiträge argumentieren gegen die im Typus repräsentativer Öffentlichkeit unterstellte Passivität des Publikums, die Habermas dem Mittelalter zuschreibt. Bereits damals habe es symbolische Kommunikationsformen zwischen Regierenden und ›der Öffentlichkeit‹ gegeben (8, 191f), die, wie Mersiowsky (13ff), Igel (161ff) und Bönnen (177ff) zeigen, über anerkannte Instrumente verfügten, etwa das akustische Medium der Glocken: "Sie riefen zur Bürgerversammlung, zur Ratswahl, zur Ratssitzung, zur Verkündigung der Ratswahl, alarmierten bei Feuer, riefen die Bürger zu den Waffen." (17) Die Verfügungsgewalt über symbolische Kommunikationsmittel wurde peinlich genau organisiert, um sie nicht an Aufständische zu verlieren. Mersiowsky und Igel arbeiten heraus, dass Öffentlichkeit unabdingbar war, um Herrschaft zu legitimieren, gleichzeitig jedoch die Bildung von Gegen-Öffentlichkeiten drohte (31, 161). In ihrem Material finden Verf. Hinweise auf Bemühungen, die Stadtbevölkerung in Teil-Öffentlichkeiten zu spalten, bspw. bei Ratssitzungen, um die Kontrolle über sie zu behalten. Insofern sei Öffentlichkeit "kein Wert an sich in der mittelalterlichen Stadtgesellschaft, sondern Mittel zum Zweck" (33), da sie in vielen Fällen rechtlich notwendig war. Die Trennung von gesellschaftlichen Gruppen machte die Einbeziehung verschiedener Orte notwendig und somit die Konzentration auf einen zentralen Ort obsolet (59, 88, 112, 167). Orte öffentlicher Handlungen seien zudem funktionalen Motiven untergeordnet worden, wie Wanke exemplarisch anhand der Beurkundungspraxis in Bischofsstädten herausarbeitet. Erst die funktionale Nutzung des Ortes, hauptsächlich als Rechtsort, festige die Bedeutung von Raum (112).

Eine Ausnahme bildeten jedoch politische Zeremonialräume, wie Albrecht ausführt (233ff). Demnach sei das politische Zeremoniell als "konstituierender Faktor der Verfassung " zu verstehen, was "eine Revision des Öffentlichkeitsbegriffs nach sich" ziehe (233). Das aktive Moment der Stadtbevölkerung zeige sich in ihm als Adressat von politischen Veranstaltungen, deren Zweck mit der Sichtbarmachung von Herrschaftsansprüchen bezeichnet sei. Am Beispiel der Separationsbemühungen des Rates gegenüber dem Bischof in Worms zeigt Verf., dass "die gewandelten innerstädtischen Machtverhältnisse [der Öffentlichkeit] in neuen Zeremonialräumen symbolisch erfahrbar zu machen" waren (238). Ergänzend dazu kann der Aufsatz von Brückle (287ff) gelesen werden, dessen Interesse Pariser Denkmälern im frühen 14. Jh. gilt. Propaganda mit künstlerischen Mitteln entstünde entgegen Habermas' Behauptung "nicht grund- und voraussetzungslos" (288). Öffentlichkeit sei greifbar als Adressat von Botschaften, an denen sich "gesteigerte Repräsentationsansprüche ausrichten müssen" (289). Die besondere Kommunikationsform zwischen Regierenden und Stadtbevölkerung liege bereits in dem Bestreben der Herrschaftsinstitution, ihre Machtansprüche durchzusetzen (288).

Der Band zeichnet einen alternativen Öffentlichkeitsbegriff für das Mittelalter; darin liegt sein Verdienst. Fraglich bleibt indes der Versuch eines Aktualitätsbezugs mit der These einer "drohenden Trennung von Stadt und Öffentlichkeit" und der "Auflösung der Städte" (7). Nicht nur, dass Verf. in seinem Beharren auf dem Idealbild der europäischen Stadt einer Rückwärtsutopie verhaftet ist, auch die Verbindung zu den hier aufschlussreichen
Untersuchungen bleibt im Dunkeln.
Semra Dogan (Hamburg)

Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 793-795

 

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