Sara Winter: "Ein alter Feind wird nicht zum Freund". Fremd- und Selbstbild in der aserbaidschanischen Geschichtsschreibung. Berlin (Studien zum Modernen Orient 12. ) 2011. 161 S.
Buchbesprechungen von Buchbesprechungen sind eigentlich eher unüblich. Das von Sara Winter zur Rezension vorgelegte Werk macht aber schnell deutlich, dass die Komplexität der Analyse des Vorgestellten mehr Raum für Interpretationen notwendig erscheinen lässt, als im üblichen Rahmen normalerweise vorgesehen wird. Denn vorgestellt wird eine ebenso detaillierte wie kenntnisreiche Analyse des aserbaidschanischen Schulbuchs für das Fach Geschichte "Ata Yurdu" (2006), welchem in gegenwärtigen hochdynamischen Prozess des Nation Building in Aserbaidschan zentrale Bedeutung zukommt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges neu entstandene oder wieder neu erstandene Staaten eint im Rahmen der Nationenwerdung die problematische Aufgabe der Konstruktion bzw. Rekonstruktion von Geschichte und Territorialentwicklung. Dies gilt für den Balkanraum ebenso wie für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und dort vor allem für die Länder, deren Territorialdefinitionen bis heute nicht unumstritten sind. Am Beispiel Aserbaidschans, das sich wegen der von Armenien verwalteten Enklave Berg-Karabach nach wie vor mit Armenien im Kriegszustand befindet, wird dies besonders deutlich.
Aserbaidschanische Staatsideeideologen sehen sich dabei einer dreifachen Herausforderung gegenüber: Es gilt zum einen, eine möglichst lange Zeit zurückreichende aserbaidschanische Geschichte zu konstruieren und diese möglichst sowohl mit ethnischen als auch territorialen Kontinuitätskonstruktionen zu belegen. Zum anderen will man aber auch einerseits die für den Zweck der ethno-nationalen Selbstidentifikation notwendige Abgrenzung von nicht-turkstämmigen Ethnien bzw. Nicht-Turkvölkern des Raumes bewerkstelligen, dabei aber andererseits gleichzeitig auch den notwendigen Abstand von einer als gefährlich erachteten pan-türkischen Vereinnahmung wahren. Zu den grundsätzlichen Problemen der Unvereinbarkeit solcher Ziele gesellt sich die Schwierigkeit hinzu, dass Aserbaidschans Regierung sich zwar eigentlich als fortschrittlich und friedliebend dargestellt wissen möchte, andererseits aber ihre Existenzberechtigung in wesentlichen Punkten erst aus dem Armenien-Konflikt und dem daraus erwachsenden permanenten Ausnahmezustand erhält und eine Aufrechterhaltung der Machtstrukturen - ebenso wie die Regierung Armeniens - überhaupt erst durch die Offenhaltung der Karabach-Frage gewährleistet sieht.
Schonungslos deckt die Autorin die Ungereimtheiten aserbaidschanischer Geschichtsschreibung, so wie sie im Ata-Yurdu-Schulbuch ausgeführt werden, auf. Als ein wesentliches Kennzeichen wird dabei das - auch mit anderen, vor allem jungen Staatsgebilden gemeinsame - Bestreben deutlich, die eigene Ethnogenese als besonders lang und kontinuierlich und die eigene Territorialentwicklung als besonders umfassend und groß darzustellen. Im Kapitel über das "Idealisierte Vaterland" greift die zur Monographie gewordene Buchbesprechung von Winter in diesen Zusammenhang den zunächst viel versprechenden Aspekt der Instrumentalisierung von Karten und Kartenwerken auf, beschränkt sich aber leider vorwiegend auf die Wiedergabe von Analysen von Sergey Rumyantsev (2008) zum Thema ethnischer Territorien in postsowjetischen Staaten und verzichtet leider auf entsprechende Kartenbeispiele.
Insgesamt wird jedoch eine in ihrer Ausführlichkeit ebenso wie in der vorsichtigen Formulierung bei der Aufdeckung instrumentalisierender Geschichtsklitterung beeindruckende Studie vorgelegt, die einen wichtigen Beitrag zur Kaukasusforschung liefert.
Andreas Dittmann