Heike Egner und Andreas Pott (Hg.): Geographische Risikoforschung. Zur Konstruktion verräumlichter Risiken und Sicherheiten. Stuttgart (Erdkundliches Wissen 147) 2010.
242 S.
Zweifellos liegt die Befassung mit Risiken im Trend, ist Risikoforschung ein Querschnittsthema, unter dem allerlei subsummiert und vielerlei verstanden werden kann. Psychologische, technische oder soziologische Risikoforschung sind Bezeichnungen, die wahrscheinlich geläufig sind, von einer explizit geographischen Risikoforschung ist bisher aber eher selten die Rede gewesen, und dies auch erst seit wenigen Jahren. Auch der Untertitel mag verwundern; was meint "Konstruktion verräumlichter Risiken und Sicherheiten"?
Welcher geographisch sozialisierte Leser denkt bei Risiko nicht an Schadenshochwasser, an Zugbahnen tropischer Wirbelstürme, an den Zusammenbruch des Flugverkehrs über großen Teilen Europas im Gefolge des Ausbruchs des Eyjafjallajökull, an Lawinen in den Alpen oder vielleicht auch an Unfallschwerpunkte im Straßenverkehr - also an durchaus reale Vorkommnisse mit jeweils auch räumlich spezifischen Ausprägungen? Wer Risiken als unhintergehbar gegeben (und nicht als etwas Hergestelltes) ansieht, vielleicht Methoden ihrer sauberen Quantifizierung kennenlernen möchte oder konkrete Maßnahmen empfehlenswerten Risikomanagements erhofft, wird den vorliegenden Sammelband wahrscheinlich rasch wieder zur Seite legen, denn er plädiert für einen komplett anders gelagerten Zugang. Die Leitfrage des Buches lautet "Wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen werden Risiken und ihre Verräumlichungen konstruiert?" (S. 26). Im einleitenden Kapitel ‚Risiko und Raum: Das Angebot der Beobachtungstheorie' und im Schlusskapitel ‚Geographische Risikoforschung beobachtet' erläutern Herausgeberin und Herausgeber die Stoßrichtung ihres Vorhabens, nämlich die Brauchbarkeit der (u.a.) von Niklas Luhmann ausgearbeiteten Beobachtungstheorie für die interdisziplinäre (und speziell: geographische) Risikoforschung zu demonstrieren. Ihnen und den von ihnen versammelten weiteren zwölf Beiträgen geht es nicht direkt um Risiken, nicht um deren Feststellung, sondern um ihre Konstruktion und die Folgen ihrer Verortung. Risiken werden von den Herausgebern ausschließlich als sozial konstruiert und perspektivenabhängig begriffen (S. 20), sie resultieren aus Entscheidungsmöglichkeiten, denn stets kann die Entscheidung ungünstige Situationen in der Zukunft nach sich ziehen (S. 10). Beobachten eint demnach "die Einheit von Unterscheiden und gleichzeitigem Bezeichnen einer Seite des so Unterschiedenen" (S. 21). Die andere Seite des dabei Unterschiedenen bleibt dem Beobachtenden/Bezeichnenden im Akt der Beobachtung verborgen; erst die Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht es, beide Seiten der Unterscheidung (der Beobachtung erster Ordnung) in den Blick zu nehmen, indem sie die Beobachtung erster Ordnung als ihren Gegenstand beobachtet (S. 22). Mit diesem - alltagsfernen und entsprechend ungewohnten - Verständnis von Beobachtung ließe sich die Perspektivenabhängigkeit des Risikobegriffs besser fassen, so das Argument der Herausgeber (S. 22): "Wie andere Beobachtungs-"Objekte" hängen auch Risiken und Sicherheiten von der bei ihrer Beobachtung gebrauchten Unterscheidung ab. Denn alles, was von einem (einer) Beobachter(in) (z. B. von einer Person, einer Behörde, einem Messgerät, einer wissenschaftlichen Disziplin) beobachtet wird, wird so beobachtet, wie es beobachtet wird (und nicht anders), weil der jeweils beobachtende Beobachter eine bestimmte Unterscheidung verwendet (und keine andere). In diesem Sinne sind Risiken kontingente Formen der Beobachtung bzw. der Unterscheidungsverwendung. Was als Risiko bezeichnet (und von anderem unterschieden) wird, hängt immer von den Unterscheidungen derjenigen beobachtenden Person oder desjenigen beobachtenden Systems ab, die oder das etwas als riskant (oder sicher) beobachtet. Kontingent ist auch die Verknüpfung der Risikokonstruktion mit einer Raumkonstruktion. Risikoräume sind in diesem Sinne als Beobachtungen zu verstehen, die die Unterscheidung und Bezeichnung von etwas als Risiko mit raumbezogenen Unterscheidungen wie nah/fern, hier/dort oder innen/außen verbinden" (S. 22; Hervorhebung im Original). Abgesehen von den Herausgebern ist niemand von den Autorinnen und Autoren der einzelnen Textbeiträge bisher als erklärter Anhänger einer unterscheidungstheoretischen Beobachtungstheorie in Erscheinung getreten. Eine detaillierte Würdigung einzelner der zwölf Einzelbeiträge verbietet sich an dieser Stelle, doch sei das weite Spektrum von Themen hervorgehoben, das man so breit nicht unbedingt erwartet in einem Buch zur geographischen Risikoforschung: Peter Dirksmeier über die Figur des Fremden, Margreth Keiler und Sven Fuchs zur Problematik der Gefahrenzonenplanung, Günther Weiss zur Kontextualität lokaler Debatten zur Einrichtung von Sulfatzellstoffproduktionsanlagen an verschiedenen Orten in Deutschland, Detlef Müller-Mahn zum Klimadiskurs in ausgewählten bundesrepublikanischen Printmedien, Rainer Bell, Kirsten von Elverfeldt und Thomas Glade über die Schwierigkeiten einer objektiven Bestimmung von Gefährdungen durch gravitative Massenbewegungen, Katharina Mohring, Andreas Pott und Manfred Rolfes über die massenmediale Behandlung von No-Go-Areas vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Berlin-Brandenburg, Hans-Jochen Luhmann über das behördliche BSEManagement in Deutschland, Olivier Graefe über Wasserknappheit und lokale Trinkwasserversorgung in drei marokkanischen Bergdörfern, Ulrich Best über die Versicherheitlichung der Migrationspolitiken innerhalb der EU sowie Henning Füller und Nadine Marquardt über Facetten der Stadtentwicklung in Downtown Los Angeles. Den Rahmen einer Anthologie wissenschaftlicher Aufsätze erweitern noch zwei (eingangs jeweils von den Herausgebern und Interviewern knapp kommentierte) Interviews mit Andreas Siebert von der Abteilung Geospatial Solutions der Münchner Rückversicherung und Michael Bründl von der Forschungsgruppe Risikomanagement des WSL-Instituts für Schneeund Lawinenforschung in der Schweiz. Die Bereitschaft der für die einzelnen Beiträge Verantwortlichen, sich auf den von Herausgeberin und Herausgeber vorgegebenen konzeptionellen Rahmen einzulassen, war unterschiedlich ausgeprägt. Bestens informiert zeigen sich (u.a.!) Bell, von Elverfeldt und Glade, die überzeugend auf das Potenzial der Beobachtungstheorie sogar für anwendungsbezogene Fragestellungen hinweisen, nämlich zu erkunden, wie Gefährdungseinschätzungen zustande kommen, warum welche Analysen so und nicht anders durchgeführt wurden, um auf diese Weise die Praxis der eigenen Datenbeschaffung und -bearbeitung kritisch zu überprüfen. Sie erinnern daran, dass die Einschätzung von Hangrutschungsgefährdungen durch verschiedene Geomorphologenteams erheblich differieren kann, sich in einem Fall die Datensätze von drei Teams zu fast 80 Prozent unterschieden (S. 120f.). Dabei erkennen sie zugleich auch eine Grenze der beobachtungstheoretischen Perspektive, die nicht beurteilen kann, welcher Datensatz denn nun der ‚richtige', ‚realistische' sei. Ist aber nicht genau dies die Erwartung der Auftraggeber solcher Expertisen? Recht ähnlich stellt sich das Dilemma in den ebenfalls überaus lesenswerten Beobachtungen zum Klimadiskurs von Detlef Müller-Mahn dar. Es geht um die sich verändernde Wahrnehmung und Kommunikation von Klimawandel in unserer Gesellschaft, und dabei richtet der Autor den Blick besonders auf geodeterministische Vorstellungen. Die erkannten Gründe für die verbreitete geodeterministische Verengung - dass die Gesellschaft ein Schattendasein in den Globalmodellen der Klimawissenschaft spiele, dass die Blickeinengung auf deterministische Argumentationsmuster Komplexitätsreduzierung darstelle, leichter kommunizierbar sei und gerade für Laien plausibel, dass Dramatisierungen willkommenen Handlungsdruck erzeugen und alternative Handlungsmöglichkeiten so im Hintergrund bleiben - sind durchweg plausibel und überzeugend. Der Rezensent teilt das diesbezügliche Unbehagen des Autors an geodeterministischen Denk- und Argumentationsmustern im Klimawandeldiskurs ausdrücklich, wenn dieser schreibt: "Sie sind gefährlich, weil sie zu falschen Annahmen über die Risiken des Klimawandels führen" (S. 111). Wie aber könnte eine rein beobachtungstheoretische Analyse zu einer solchen Aussage über die Welt, über falsch oder richtig kommen? An verschiedenen Stellen wird deutlich, dass sich Herausgeber und Autoren bewusst sind, dass die Radikalität ihres konstruktivistischen Ansatzes nicht unbedingt anschlussfähig ist an tradierte Sichtweisen der Risikoforschung, zumal einer anwendungsbezogenen. Die Auffassung, dass alles, was ‚ist', Resultat von beobachtungs- und kontextabhängigen Entscheidungen sei (S. 238), steht nun einmal - ontologisch unversöhnlich - quer zu der Alltagserfahrung, dass (radikale Konstruktivisten genauso wie alle anderen) Menschen gut daran tun, als gesundheitsschädigend erkannte Handlungen im Interesse ihrer Lebenserwartung zu unterlassen, zur Vermeidung vermeidbarer Schäden nicht in Flussauen zu wohnen und die Straße besser bei grünem als bei rotem Ampelzeichen zu überqueren. Solcherart ‚objektive' Risiken, von deren Existenz ja nicht nur die Geographie seit Urzeiten ausgeht, haben aber keinen hervorgehobenen Platz im hier verhandelten Paradigma, sie können allenfalls beobachtet werden, wenn ein Beobachter erster Ordnung sie als solche beobachtet. Insgesamt liegt damit ein in verschiedener Hinsicht ‚anderes' Buch vor, das einen anschaulichen Einstieg in die Beobachtungstheorie bietet und diesbezüglich interessierte Leser in seinen Bann ziehen wird. Hier wird mehr geboten als die bloße Rekonstruktion der Konstruktion von Risiken, wenn immer wieder auch auf deren Verräumlichung abgehoben wird. Anregend ist die Lektüre nicht nur deshalb, weil sie Vertrautes in neuem Licht erscheinen lässt und Neues in (vermeintlich?) vertrautes Licht rückt, sondern auch deshalb, weil manche Facette durchaus angreifbar ist und Widerspruch und (Nach-)Fragen provoziert: So räumen Herausgeberin und Herausgeber ein, dass Machtverhältnisse und die unterschiedliche Wirksamkeit verschiedener Strategien bei gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen nicht unbedingt zuvorderst in den Blick geraten (und dass es einiger gedanklicher Anstrengungen bedürfe, solche Aspekte beobachtungstheoretisch zu fassen; S. 238). Könnte man nicht, komplementär zur Verräumlichung von Risiko, mit ähnlicher Berechtigung von einer Ver-‚Risikoisierung' von Raum sprechen? Müssen Risiken eigentlich stets verräumlicht werden oder sind sie auch enträumlicht denkbar, bedürfen selbst Fettleibigkeit, Kreditausfallrisiko und Meteoriteneinschlag räumlicher Manifestationen bzw. Differenziertheit, um als Risiko begriffen zu werden? Geographische Risikoforschung ist nicht per Definition auf eine Forschungsperspektive festgelegt. Leser, die Risiken als gegeben hinnehmen, etwa als so genannte Naturrisiken, die zu deren Eliminierung, Minimierung oder doch zumindest Verlagerung beitragen wollen, mögen die im Untertitel angekündigte und konsequent umgesetzte Befassung mit der Konstruktion verräumlichter Risiken und Sicherheiten u.U. bedauern und als Blickeinengung empfinden. Wer sich hingegen genau hierfür interessiert, wer sich beispielsweise nicht ganz sicher ist, ob Naturrisiken tatsächlich einen anderen ontologischen Status haben als Finanzrisiken, dessen Blick dürfte durch die hier vorexerzierte Beobachtungstheorie sicherlich geschärft werden. Ob man mit beobachtungstheoretischen Zugängen Hochwasserschäden praktisch reduzieren kann, sei dahingestellt. Aus unterscheidungstheoretischer Sicht erscheint hingegen auf Anhieb stimmig, dass Flächennutzungseinschränkungen in der Aue nach einem Hochwasser wesentlich leichter durchsetzbar sind als davor, als Hochwasser gesellschaftlich nicht relevant war, nicht als Risiko beobachtet und kommuniziert wurde. Das Theorieangebot sollte zur Kenntnis genommen und geprüft werden, es könnte gefallen.
Carsten Felgentreff (Osnabrück)
Quelle: Die Erde, 143. Jahrgang, 2012, Heft 3, S. 248-250
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