Olaf Gerlach, Marco Hahn, Stefan Kalmring, Daniel Kumitz, Andreas Nowak (Hg.): Globale Solidarität und linke Politik in Lateinamerika. Berlin 2009. 276 S.
Angesichts der zunehmenden internationalen Vernetzung von Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkten und der weltweiten Ausbreitung kapitalistischer Vergesellschaftungsformen ist globale Solidarität als ein "strategischer Begriff", der ein "Handeln zur Gegenwehr" (Frieder Otto Wolf, 61) bezeichnet, nach wie vor von zentraler Bedeutung für linke, emanzipatorische Politik. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte, die symbolischen und diskursiven Aneignungen des Begriffs und die damit verbundenen Gesellschaftskonzepte zeigt jedoch auch, dass der Begriff der Solidarität zwar ein "begehrtes symbolisches Gut" (Claudia von Braunmühl, 33) darstellt, das jedoch von linken Bewegungen bzw. Gruppierungen im globalen Norden und Süden häufig mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt wurde.
Soll emanzipatorische Solidarität, die nach den "Ursachen und Strukturen von Not und Elend" fragt und als bewusster "Gegenentwurf zu asymmetrischen Beziehungen" (Einleitung, 12) angelegt ist, nicht zum empty signifier verkommen, bedarf es daher einer genauen Begriffs- und Zielbestimmung und einer kritischen Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Ab- und Ausgrenzungsprozessen nach innen wie außen.
Die im hier zu besprechenden Sammelband erschienenen Beiträge haben diese schwierige Herausforderungen angenommen und es sich zur Aufgabe gesetzt, sich vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens der lateinamerikanischen Linken noch einmal kritisch mit Geschichte, Aktualität und Problematik internationaler Solidarität auseinanderzusetzen. Die in vier Themenblöcke gegliederten Artikel gehen auf eine Ringvorlesung zurück, die auf Initiative des stiftungsübergreifenden stipendiatischen Arbeitskreises Internationalismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Friedrich- Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler- Stiftung am Lateinamerikainstitut der Freien Universität in Berlin im Wintersemester 2006/2007 organisiert wurde.
Den ebenso pointierten wie pointenreichen Auftakt machen Reinhart Kößler und Henning Melber, die bereits 2002 mit ihrer Streitschrift zur globalen Solidarität die Debatte in der Bundesrepublik wesentlich mitgeprägt hatten. In "'Hoch die ...'. Zur Geschichte, Aktualität und Problematik internationaler Solidarität" (19ff) gehen sie nun von Neuem nachdrücklich auf die mit der Begriffsbestimmung einhergehenden Grenzziehungen und auf die blinden Flecken der Solidaritätsbewegungen in den Industriestaaten ein. Formen von Solidarität produzierten und reproduzierten immer auch Grenzen, wie bereits ein Blick auf die bewusste Verweigerung von Bürgerrechten für Frauen, Besitzlose und Schwarze bzw. Sklaven nach der französischen Revolution deutlich zeige. Angeblich internationale Solidarität bricht sich somit häufi g an territorialen, ethnischen oder Gendergrenzen. Derartige Grenzziehungen und blinde Flecken werden auch in einer ganzen Reihe weiterer Beiträge thematisiert und kritisiert. So fordert etwa Wolf-Dieter Narr in seinem Beitrag "Fremderscheinung Solidarität in Zeiten globaler Konkurrenz - eine kontrafaktische Spurensuche" (105ff) unter Hinweis auf die subtilen Ent- und Ausgrenzungsprozesse, die mit heutigen Solidaritätsformen verbunden sind, konsequenterweise eine "antinationale Solidarität", verstanden als "Solidarität mit allen Minderheiten dieses Globus, zuerst und zuletzt der letzten Minderheit, der einzelnen Person und aller einzelnen Personen" (129). Christa Wichterich ("Gemeinsam und verschieden: fragend schreiten wir voran. Internationale Frauen solidarität im Kontext von Global Governance", 43ff) verdeutlicht die Spannungsverhältnisse zwischen feministischen AktivistInnen und Frauenbewegungen im globalen Norden und im globalen Süden und weist auf die Limitierungen und Transforma tionsprozesse internationaler Frauensolidarität unter den Bedingungen wachsender transnationaler Netzwerkbildung hin. Internationale Frauennetzwerke hätten zwar unter Rückgriff auf den Begriff der Solidarität ihre Sichtbarkeit und Artikulationsfähigkeit deutlich verbessert, seien jedoch durch die wachsende Einbindung in institutionelle Verfahrenstechniken auch zunehmend entpolitisiert und ihres emanzipatorischen Potenzials beraubt worden. Claudia von Braunmühl nimmt in ihrem Beitrag "Geschichte und Perspektiven der Solidaritätsbewegung in der BRD" (33ff) die entwicklungspolitisch engagierten NGOs in der BRD von ihren Anfängen in der Solidaritätsbewegung über die Dritte- Welt-Bewegung bis hin zur globalisierungskritischen Bewegung in den Blick. Ähnlich wie bereits Kößler und Melber in dem Einführungsartikel weist auch sie auf die blinden Flecken der europäischen Solidaritätsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre hin: Charakteristisch für diese Bewegungen sei ihre distanzlose Identifi kation mit emanzipativer Gewalt. Anhand ihrer Analyse der Handlungsstrategien globalisierungskritischer Gruppen und Organisationen wirft von Braunmühl dann die Frage auf, welche neuen und angemessenen Ausdrucksformen von Solidarität angesichts der drastisch veränderten Rahmenbedingungen möglich seien. Stefan Kalmring und Andreas Nowak ("Globalisierungskritik und Solidarität: Zur Theorie, Strategie und Geschichte eines notwendigen Projektes", 69ff) rechnen ebenfalls kritisch mit den verschiedenen linken und globalisierungskritischen Gruppierungen in Ländern des Nordens ab, denen es zumeist schwerfalle, ein "gesamtgesellschaftliches Projekt zu formulieren" (78): Daher setzen sie ihre Hoffnung in das Beispiel der lateinamerikanischen Linken, die auf die Vielgestaltigkeit linker Gesellschaftskonzepte hinweise.
Diese Diagnose führt zum zweiten Schwerpunkt des Sammelbandes, der sich mit dem - für zahlreiche BeobachterInnen überraschenden - Wiedererstarken der lateinamerikanischen Linken zu Beginn des 21. Jahrhunderts auseinandersetzt. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren hatte diese eine starke Faszination auf die europäische Linke ausgeübt. Kritische europäische Nachkriegsgenerationen solidarisierten sich mit den kubanischen und nicaraguanischen Revolutionären, den Stadtgueriller@s in Argentinien, Uruguay oder Chile oder demonstrierten massenhaft gegen den blutigen Putsch von 1973 in Chile, mit dem die Militärs der demokratisch gewählten, sozialistische Regierung Allendes ein gewaltsames Ende setzten. Im Gegensatz zu dieser zumeist revolutionär gesinnten, lateinamerikanischen Linken, die noch mit dem Anspruch auftrat, das kapitalistische Gesellschaftssystem grundlegend zu transformieren, bietet die heutige weniger Identifikationsmöglichkeiten für Solidaritätsbewegungen im globalen Norden. Zwar löste der Aufstand der mexikanischen Zapatisten im Kontext der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA einen gewissen Enthusiasmus unter europäischen linken Gruppierungen aus, denen das revolutionäre Subjekt auf heimatlichem Territorium abhanden gekommen war. Doch weder diese neue Form von Cyber-Guerilla noch die heutigen Linksregierungen weisen ähnliche transformatorische Aspirationen wie ihre Vorgänger im letzten Jahrhundert auf. Gewaltsame Machtergreifungen seien dieser "neuen" Linken ebenso fremd, so Albert Sterr ("Lateinamerikas Linksentwicklung - Reformer, nationalpopulare Regierungen und rebellische Basisbewegungen", 165ff), wie der kurzoder mittelfristige Wandel der Produktionsverhältnisse oder ein grundlegender Strukturwandel der Gesellschaft. Auch in Ländern wie Venezuela und Bolivien blieben die politischen Maßnahmen weit hinter dem revolutionären Anspruch zurück. Dennoch biete auch die heutige, sehr heterogene lateinamerikanische Linke zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Nachdenken über zeitgemäße Formen emanzipatorischer Solidarität. Trotz aller Heterogenität suchten alle linken Regierungen und politischen Gruppierungen nach ernsthaften Alternativen zu neoliberalen Gesellschaftsentwürfen. Dies zeigt sich, wie Dieter Boris ("Die neuen 'Mitte-Links'- Regierungen in Lateinamerika", 179ff) schreibt, an der Wiederaufwertung des Staates, d.h. u.a. an einer aktiven, staatlich geförderten Wirtschaftspolitik, dem gezielten Einsatz von wohlfahrtsstaatlichen Politiken zum Aufbau neuer gesellschaftlicher Allian zen und einer neuen selbstbewussten Außenpolitik. Jenseits aller ideologischen Differenzen zeichneten sich diese neuen Linksregierungen durch ihr gemeinsames Interesse an der Förderung neuer Partizipationsformen auf lokaler Ebene aus, sei es in der Form von Beteiligungshaushalten (vgl. den Beitrag von Lutz Brangsch: "Praktische Kritik von überkommener Praxis und Theorie: Der Beteiligungshaushalt von Porto Alegre", 229ff), die inzwischen auch nach Europa exportiert werden, sei es in Gestalt von kommunalen Räten in Venezuela, mit denen sich Dario Azzellini ("Volksmacht und Emanzipation: Kommunale Räte in Venezuela", 245ff) auseinandersetzt. Interessant ist, dass diese Emanzipa tionsprozesse - anders als in der klassenzentrierten Sichtweise der traditionellen lateinamerikanischen Linken - nicht von den klassischen Akteuren, sondern von neuen sozialen Bewegungen getragen werden, die sich nicht mehr ausschließlich entlang von Klassendifferenzen verorten lassen. Neben der Ethnisierung des Politischen, womit sich Juliane Ströbele-Gregor anhand eines Vergleichs zwischen Bolivien und Ecuador auseinandersetzt ("Die Ethnisierung des Politischen. Politische Indigene Bewegungen in Ecuador und Bolivien", 193ff), spielen hierbei auch in zunehmendem Maße neue gewerkschaftliche Organisationsformen im Sinne eines neuen Social Movement Unionism (Olaf Gerlach: "Krise der Arbeiterbewegung und gewerkschaftliche Erneuerung", 85ff) eine Rolle. Ob sich hierdurch bereits ein Durchbruch post-neoliberaler emanzipatorischer Kräfte andeutet, der zu einer Transformation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse führen könnte, oder die gegenwärtigen sozialen Kämpfe lediglich in eine neue Phase passiver Revolutionen (Gramsci) münden, lässt sich laut Ulrich Brand und Nicola Sekler ("'Post-neoliberale' emanzipatorische Kräfte in Lateinamerika?", 207ff) derzeit noch nicht abschätzen. Wie die gegenwärtigen Debatten um soziale Gerechtigkeit, Sozialstaatsreformen und das bedingungslose Grundeinkommen als BürgerIinnenrechte zeigen, dürfte die von der "neuen" lateinamerikanischen Linken aufgeworfene "alte" soziale Frage kritischen sozialen Bewegungen in Europa aber weiterhin einige Hausaufgaben für die Suche nach zeitgemäßen Formen emanzipatorischer Solidarität aufgeben. Dies impliziert u.a. ein systematischeres Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Netzwerke zum Abbau nationaler und internationaler Ungleichheitsverhältnisse, die Chancen der Durchsetzbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle BürgerInnen des globalen Nordens und Südens, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Position im (globalen) Arbeitsmarkt sowie die konkrete Gestalt eines post-neoliberalen emanzipatorischen Gesellschaftsprojektes jenseits des nationalstaatlichen Containers. Der hier besprochene Sammelband stellt zur richtigen Zeit die richtigen Fragen und regt dazu an, die Begriffs- und Positionsbestimmung internationaler Solidarität in der post-neoliberalen Phase ein Stück voranzutreiben.
Ingrid Wehr