Rita Schneider-Sliwa: USA. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik. Darmstadt 2005. 266 S.
Es liegt noch keine zwei Jahrzehnte zurück, dass die Länderkunde als ein Stiefkind der Geographie galt, von dem das Fach weder nach innen noch nach außen allzu große disziplintheoretische Entwicklungsimpulse zu gewärtigen hat. Dass sich diese Einschätzung seither ein wenig, wiewohl nicht völlig, geändert hat, zeigt die Konjunktur einer "new regional geography" und das zunehmende Interesse, das den"regional" oder "area studies" in den letzten Jahren zuteil wurde. Schon aus dieser Perspektive verbindet sich mit dem Erscheinen neuer Länderkunden eine hohe Erwartungshaltung, zumal dann, wenn es dabei um nicht weniger als die gesamten Vereinigten Staaten von Amerika geht - immerhin (noch) die Weltmacht Nummer eins - und wenn es sich zudem um eine der renommiertesten länderkundlichen Reihen handelt, die der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt.
Es empfiehlt sich also eine genaue Lektüre. Kurz zu den technisch-inhaltlichen Daten, bevor sich der Blick Schritt für Schritt dem Detail zuwendet: Acht Hauptkapitel und ein wohl vom Verlag so gewünschter Appendix ("Einblicke") auf 266 durchweg reichhaltig und meist in Farbe illustrierten Seiten, dazu jede Menge von Statistiken und themenorientierten Graphiken. Schon ein unsystematisches Durchblättern und Überfliegen weckt Interesse auf eine tiefer gehende Beschäftigung mit diesem Buch. Besonders eine Vielzahl grandioser Luftbilder von Alex S. MacLean, die das alltägliche Amerika in eine regelrechte Ästhetik von oben verwandeln, zieht den Betrachter in den Bann und weckt große Erwartungen. MacLean ist in dem Buch übrigens so stark vertreten, dass er eigentlich als Bildautor eigens genannt werden sollte, aber das Photomaterial beeindruckt derart, dass es pharisäerhaft anmutete, an solchen Details eine Kritik am gesamten Buch festzumachen. Auch das dargebotene Material an thematischen Karten überzeugt; durchweg aktuell, meist auf der Basis der jüngsten Volkszählung, gelingt ihnen eine Repräsentation der regionalen Vielfalt der USA, die auf eigentümliche, aber sehr gelungene Weise mit dem künstlerischen Auge des Photographen MacLean kontrastiert. Kurzum: Wer Rita Schneider-Sliwas Opus magnum aus dem Buchregal nimmt und aufschlägt, den umfängt eine illustrative Reichhaltigkeit, katalogisiert nach thematischen Schwerpunkten, die von der "politischkulturellen Tradition" und die "Inwertsetzung des Naturraums" über die "Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstrukturen" bis zu "Wirtschaftsstruktur, Wirtschaftspolitik, Vormachtstellung und Regionalentwicklung" reichen. Wer nach diesem ersten, vor allem optischen Eindruck ebendiese inhaltliche Gliederung genauer unter die Lupe nimmt, wird zunächst überrascht und wohl auch anerkennend feststellen, dass Rita Schneider-Sliwa immer wieder Versuche unternimmt, das klassische länderkundliche Repertoire mit seiner ebenso klassischen Choreographie, die sich üblicherweise vom Naturraum bis zur politischen Gliederung spannt, zu durchbrechen. Recht unkonventionell, vor dem Hintergrund der USA aber durchaus fruchtbar, beginnt die Darstellung mit einer ausführlichen Würdigung des spezifisch "Amerikanischen" in Geschichte, Politik und Gesellschaft. Manches, was in diesem ersten Hauptkapitel vorgetragen wird, mag danach klingen, als ob Reduktionen referiert, Schablonen bedient und Stereotype verstärkt würden, doch je tiefer man in die US-amerikanische Kultur eintaucht - und das gilt auch für Rita Schneider-Sliwa mit ihrer mehrjährigen transatlantischen Erfahrung -, desto eher reift die Erkenntnis, dass sich Amerika nicht nur über Individualitäten (Stichwort: pursuit of happiness), sondern auch über ein kollektives Kulturverständnis, das zudem eine starke religiöse Färbung besitzt (Stichwort: God's own country), konstituiert. Insofern bereiten die Ausführungen zu Verfassung und Staatsideologien, zu Geisteshaltung und Mythen, zur normativen Idee "Amerika" und zum Konzept des privatism ganz am Anfang des Buches wichtige Grundlagen für alle weiteren Themenfelder des Buches, die Schneider-Sliwa dann folgerichtig - und man könnte vielleicht auch sagen: unverdrossen - aus einem komparatistischen Europa-USA-Blickwinkel beleuchtet. Der Einstieg über einen strukturalistischen Ansatz der politischen Institutionen kann also guten Gewissens und im positiven Sinne als unkonventionell für eine Länderkunde bezeichnet werden, auch wenn das Kapitel insgesamt kulturellen Aspekten zu wenig Gewicht beimisst und es zudem etwas verwunderlich ist, dass in diesem ersten Abschnitt des Buches selbst biographische "Leuchttürme" der US-amerikanischen politischen Kultur wie George Washington nur sehr beiläufig erwähnt werden. Vielleicht ist dieser Wermutstropfen der Tatsache geschuldet, dass das Buch nicht den Anspruch einer politischen, sondern einer geographischen Länderkunde erhebt. Die folgenden Hauptkapitel widmen sich dem Naturraum, seiner Erschließung und Besiedlung, der territorialen Expansion der jungen USA, die sich der Unterstützung durch eine rapide Industrialisierung und Urbanisierung erfreute, und der Bevölkerungsentwicklung mit den aktuellen Strukturen. Sehr ausführlich werden zudem sozialgeographische Brennpunkte aufgegriffen ("Einkommensdisparitäten, Armut, Parallelgesellschaften"); auch das Kapitel "Stadtentwicklung und Stadtentwicklungspolitik" begibt sich auf eine feingliedrige Spurensuche und offenbart eine Fülle von Details, die keine Zweifel daran lassen, dass Rita Schneider-Sliwas zentrale Forschungsagenden hier verankert sind. Nicht vielen chronologisch-analytischen Darstellungen einer teilweise widersprüchlichen und in der Gesamtbewertung deutlich negativen US-amerikanischen Stadtsanierungspolitik in der Nachkriegszeit gelingt eine so transparente, konzise und nachvollziehbare Schilderung wie Rita Schneider-Sliwa in diesem "Krönungskapitel" ihres Buches. Dass auf der anderen Seite die "klassischen" strukturellen Aspekte der US-amerikanischen Großstadt ein wenig zu kurz kommen, sollte man angesichts dieses gelungenen Kapitels nicht zu hoch hängen - schließlich finden sich diese Inhalte woanders sehr zahlreich, nämlich in fast allen anthropogeographischen und besonders stadtgeographischen Lehrbüchern. Allerdings stünde dem Kapitel der Titel "Stadtentwicklungspolitik" (ohne "Stadtentwicklung") durchaus ein wenig besser an. Ein letztes, ebenfalls ausführliches Kapitel widmet Schneider-Sliwa wirtschaftlichen Fragen. Ein uneingeschränkt positives äußeres Erscheinungsbild als erster Eindruck; dann eine durchaus unkonventionelle wie ambitionierte Gliederung, die vieles von dem zu halten vermag, was sie verspricht, auch wenn sie diesen Anspruch nicht in allen Einzelheiten wahren kann. Wie sieht es nun auf einer dritten Ebene aus, in den von den Kapiteln eingefassten, argumentativ-textlich ausgestalteten Weiten des Buches? Auch hier gibt es Positives zu vermelden, und Rita Schneider-Sliwas schon gewürdigte Auseinandersetzung mit einer unstetigen und inkonsistenten US-amerikanischen Stadtentwicklungspolitik zählt dazu. Und doch ist es genau diese Ebene, die einem aufmerksamen und kritischen Leser immer wieder einiges an Geduld abverlangt. Bisweilen ist sogar Langmut vonnöten, etwa wenn sich Ärger aufstaut über die Qualitätsmängel, die wohl primär der Verlagspraxis zuzuschreiben sind: Dass ein sorgfältiges, auch inhaltlich kritisches Lektorat den Werdegang des Buches begleitete, mag mit Fug und Recht angezweifelt werden. Jedenfalls ist von einem Lektorat nicht die Rede, und so gab es wohl niemanden, der die Autorin auf verschiedene Unzulänglichkeiten in der inhaltlichen Gewichtung mancher Textpassagen, auf zahlreiche fehlerhafte Detailargumente oder einfach auf falsch wiedergegebene Fakten aufmerksam gemacht hätte. Wie sonst ist es etwa zu erklären, wenn im Kapitel "Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstrukturen" zum Thema African Americans vier (!) ganze Textseiten dem Ku-Klux-Klan gewidmet werden, während die Sklaverei, die peculiar institution, welche die völlige Entrechtung der Schwarzen über Jahrhunderte zementierte, nur ganz beiläufig Erwähnung findet? Und ein Lektorat hätte wohl auch über inhaltsleeren Sätzen wie "Wegen der herausragenden Bedeutung von Großstädten in der amerikanischen Volkswirtschaft muss deren Arbeitsmarkt bzw. Arbeitslosigkeit besondere Beachtung geschenkt werden." (S. 195) den Stab gebrochen. Dass solche "Schnitzer" auf über 250 Seiten passieren, wird jedem Autor konzediert; dass der Verlag auf ein Lektorat kurzerhand verzichtet, hingegen nicht. Von anderer Quelle weiß der Rezensent, dass der Verlag in der betreffenden Reihe penibel darauf achtet, dass die Literaturverzeichnisse einen (geringen) Maximalumfang nicht überschreiten. Im USA-Buch wird das Literaturverzeichnis vor diesem Hintergrund auf bescheidene neun Seiten eingedampft. Der Leser fragt sich, weshalb unter dieser Maxime noch zusätzlich drei Seiten, also ein Drittel des Umfangs der Bibliographie, einem eigentlich entbehrlichen Abbildungs- und Tabellenverzeichnis eingeräumt werden müssen. Scheinbar ist dem Verlag das Wissen darüber verloren gegangen, dass viele Studierende zunächst zu einer länderkundlichen Gesamtdarstellung greifen, um erste bibliographische Hinweise über ein spezielles Thema dieses Landes auszumachen. Diese Aufgabe können sich Studierende beim USA-Buch von Rita Schneider-Sliwa nun leider getrost schenken - nicht nur weil der Verlag eine rigide Begrenzung des Umfangs wohl auch auf Kosten des Literaturverzeichnisses durchgesetzt hat, sondern auch, weil die Literaturauswahl, die Rita Schneider-Sliwa auf den verbleibenden neun Seiten vornimmt, eine deutliche Schieflage zeigt: Die zitierte Literatur erweckt erstens den völlig irreführenden Eindruck, es gäbe praktisch keine deutschsprachige geographische USA-Forschung. Und sie riskiert zweitens kapitale Lücken in thematischen Bereichen, die ohne ihre US-amerikanischen Vertreter praktisch nicht gedacht werden können. Selbst wenn die Kulturgeographie (leider) nicht zu den zentralen Themenfeldern des Buches zählt: eine Kulturgeographie der USA ohne Wilbur Zelinsky oder John A. Jakle? Oder die US-amerikanische Stadt ohne Edward W. Soja, Michael Dear, Allen J. Scott, Neil Smith oder Robert A. Beauregard? Wirtschaft und Landwirtschaft in den USA ohne James O. Wheeler, Ann Markusen oder John FraserHart? Das auf neun Seiten gestutzte Literaturverzeichnis will es glauben machen. Man mag es - wenn es so weit kommt - der Neuauflage des Buches wünschen, dass Rita Schneider-Sliwa dem Verlag zumindest einen zusätzlichen Bogen, also vier weitere Seiten, für eine etwas ausgewogenere Bibliographie abringen kann.
Autor: Werner Gamerith