Strukturwandel im Ruhrgebiet

Kaum eine andere Region in Europa erlebte in den letzten 50 Jahren einen solch starken Strukturwandel wie das Ruhrgebiet. Verschiedene Instrumente wurden ausprobiert um den Wandel (sozial)planerisch zu begleiten. In der letzten Zeit wurde die "Kultur" als Motor des Strukturwandels entdeckt. "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel", so hieß der Slogan der Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010. Und nicht erst seit 2010 wird der "Kultur" eine bedeutende Rolle im Strukturwandel des Ruhrgebiets zugeschrieben. Nach dem Niedergang von Kohle und Stahl ist "Kultur" zum Hoffnungsträger der Regionalpolitik geworden. Hier sollen nicht nur Arbeitsplätze in der Kreativindustrie geschaffen werden, sondern "Kultur" soll zu einem neuen Selbstverständnis der Region nach innen und außen beitragen.

 

Im Wintersemester 2012/13 habe ich am Institut für Geographie der Universität Osnabrück ein Seminar zum Thema durchgeführt. Die Teilnehmer sollten sich ein Bild davon machen, welche Ursachen und Formen den Strukturwandeldes Ruhrgebiets bedingen und formen und welche Akteure in der Region dem neuen Leitbegriff "Kultur" welche Rollen zuweisen.

An der Nahtstelle von Sozial-, Wirtschafts- und Stadtgeographie wurde die Erarbeitung eines komplexen Themas in Angriff genommen. Vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte einer Region, unterschiedlichen Steuerungsinstrumentarien und Leitbildern waren die Lernziele. Darüber hinaus war eine verstärkte Beschäftigung mit Literatur vorgesehen. Die Seminarteilnehmer hatten die Aufgabe, zu bestimmten Büchern über das Ruhrgebiet Rezensionen zu verfassen. Die Ergebnisse liegen jetzt vor. Die Leser können entscheiden, ob das Experiment der Betreuung erster Publikationen von Studenten erfolgreich war.

Jörg Becker

 

 

 

Christa Reicher, Klaus R. Kunzmann, Jan Polivka, Frank Roost, Yasemine Utku, Michael Wegener (Hg.): Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets. Berlin 2011. 247 S.

Mit Augenmerk auf die Zusammengehörigkeit der Städteregion Ruhr entwickelte ein Team aus Architekten und Planern von der Fakultät für Raumplanung der Technischen Universität Dortmund einen Atlas mit plakativen und aussagekräftigen Karten.

In einem ehrgeizigen Projekt hat man es sich zur Aufgabe gemacht, die "Schichten einer Region", nämlich der des Ruhrgebiets, zu erfassen und zu interpretieren.

Entstanden sind Kartenstücke, die die Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten des Ruhrgebiets sichtbar machen wollen. Der sozialgeographische Schwerpunkt des Kartenwerks trägt dazu bei, die Lesbarkeit der Region zu erhöhen: ihre Identität, ihre Struktur und ihre Regeln erzeugen einprägsame Raumbilder beim Betrachter.

In einem ersten Schritt wird das Gebiet zwischen Ruhr und Lippe gegenübergestellt mit anderen großen Städten der Welt wie London, Berlin oder Los Angeles. Der Vergleich zeigt die Andersartigkeit des Ruhrgebiets, aber auch die Dimensionen, die diese Region einnimmt. Das Kartenmaterial demonstriert sehr anschaulich, dass der zentrale Unterschied zu anderen Metropolen der Welt in der kleinräumigen polyzentrischen Struktur liegt. Auf die Frage nach den Herausforderungen für Planende ist diese Tatsache zum einen erleichternd, da es sich nicht um eine Mega-City handelt, sondern um eine Vielzahl von mittelgroßen Städten, zum anderen birgt dies auch die Gefahr, die Zusammengehörigkeit und die Einheit zu vernachlässigen. Da die Metropolregion Ruhr ohne eindeutig dominierendes Zentrum besteht, erfordert es das Interesse aller Parteien an gemeinsamer planerischer Kooperation.

Der Vergleich ausgewählter Rahmendaten wie die Bevölkerungsdichte, das Touristenaufkommen oder auch die Fläche in km² verdeutlicht noch einmal die Position des Ruhrgebiets im internationalen Kontext.

Im darauffolgenden Kapitel "Kerne, Adern und Ränder" wird der Fokus auf die Siedlungs- und Bebauungsstruktur des Ruhrgebiets gelegt. Dabei wird dem Anspruch nachgegangen, ein dynamisches Bild des Ruhrgebiets zu zeichnen, sowohl zeitlich als auch räumlich. Neben der zeitlichen Entwicklung der Bebauung im Ruhrgebiet innerhalb der letzten 200 Jahre wird ebenfalls eine Bestandsaufnahme der Grün- und Wasserflächen vorgenommen. Dabei bedienen sich die Autoren Reduzierungstechniken, die es ermöglichen, Begegnungslinien von Siedlungsflächen mit Grün- und Freiflächen herauszuarbeiten. So wird der Blick auf den für Menschen wichtigen Faktor "Möglichkeit zur Naherholung" gelenkt.

Darüber hinaus werden Beziehungen zwischen den verschiedenen Zentren in Form von Adern und Kernen in verschiedenen Maßstäben dargestellt.

Das Kapitel 3 beschäftigt sich mit der "Mobilität im Ruhrgebiet" als polyzentrischem Aktionsraum. Das Ruhrgebiet zeichnet sich über seine hervorragende Erreichbarkeit innerhalb Deutschlands und Europas aus. Darüber hinaus wird differenziert, welche Teile des Ruhrgebiets die beste Verkehrsversorgung aufweisen. Dies wird überwiegend mit anschaulichen dreidimensionalen Karten erreicht. Der begleitende Text stellt Verbindungen zwischen den Darstellungen her und bezieht weitere geographisch-relevante Themen in die Betrachtung ein. Nicht nur wirtschaftliche Aspekte (z. B. Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen) spielen für die Autoren eine Rolle, sondern auch soziale wie etwa die Erreichbarkeit von Grundschulen. Neben der Abbildung des Ist-Zustandes der Zentralität im Ruhrgebiet bedient sich das Werk auch der Landesentwicklungspläne für Zentrale Orte aus dem Jahre 1977 und stellt damit einen Vergleich in der Zeitreihe her.

Kapitel 4 "Soziales und ethnisches Mosaik" wendet sich der Immigration und Demographie des Ruhrgebiets zu. Gerade für das Ruhrgebiet ist dies ein Thema von großer Tragweite. Geschichtlich und sozial wird die Region als Wohn- und Wirtschaftsstandort maßgeblich von Migranten geprägt. Die Autoren differenzieren hier nach Herkunft, Altersstruktur und räumlicher Verteilung. Das Kapitel behandelt außerdem die gesellschaftliche Segregation innerhalb der Region. Dabei werden Bildungschancen beleuchtet, aber auch die Landschaft der Religionen. Die große methodische Vielfalt in der Darstellung der statistischen Daten demonstriert erneut, dass die Macher des Buches ihr Handwerk beherrschen und Wert auf eine ansprechende Aufbereitung legen.

Im letzten Kapitel nehmen die Autoren Potenziale der Raumentwicklung unter die Lupe. Dabei stellen sie die besondere räumliche Struktur als positive Grundlage für eine Stärkung und Sicherung der Potenziale der "Ruhrurbanität". In diesem Kapitel erfolgt eine Erörterung der Vorteile dieser polyzentrischen Struktur unter den Gesichtspunkten Verkehr, Praktikabilität, Wirtschaftlichkeit und Identität. Die Macher des Atlasses rufen zu einer Förderung der gemeinsamen Identität von Seiten der Bevölkerung, Planung und Politik auf. Bisher ist ihrer Meinung nach eine Regionen übergreifende soziale, wirtschaftliche und strukturelle gemeinsame Zukunft nur angedeutet.

Ausgehend von den Erkenntnissen der vorhergehenden Kapitel stellen die Verfasser hier die Attraktivität der Stadtlandschaft Ruhrgebiet dar, die vorrangig in ihrer Vielfalt besteht, weniger in ihre Ästhetik. Betont wird der anthropogene Ursprung dieser Landschaft.

Zusammenfassend muss den Autoren der TU Dortmund ein großes Lob ausgesprochen werden. Die vorliegenden Kartenstücke zusammen mit den qualifizierten aber zugleich leicht zugänglichen Erläuterungen stellen in der deutschen Wissenschaft ein Novum dar. Dieses Werk setzt Impulse zu einer Suche nach einer gemeinsamen Identität innerhalb des Ruhrgebiets, um Chancen und Herausforderungen der Zukunft gestärkt zu begegnen.

Anastasia Wilhelm



 

Jörg Bogumil, Rolf G. Heinze, Franz Lehner, Klaus Peter Strohmeier u.a.: Viel erreicht - wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet. Essen 2012. 178 S.

Die Autoren des Werkes setzen sich zum Ziel, die aktuellen Prozesse im Ruhrgebiet hinsichtlich Ökonomie, Kultur, soziales Leben und Politik nachzuzeichnen. Vor allem ist es ihnen wichtig, nicht nur Entwicklungen zu beschreiben, sondern auch mögliche Lösungen vorzuschlagen: "Wir stellen mit diesem Buch eine realistische Bestandsaufnahme der neueren sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen und Strukturen im Ruhrgebiet vor, und wir bestimmen vor dem Hintergrund dieser Diagnose die Optionen, die dem Ruhrgebiet und seinen Kommunen bleiben." (S. 10).

Einleitend beschreiben die Autoren die positiven und negativen Konsequenzen des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Sie sind der Ansicht, dass eine Zukunftsregion entstehen kann, wenn die richtigen Impulse genutzt werden. Chancen des Ruhrgebiets sehen sie vor allem in der Hochtechnologie, im Dienstleistungsbereich und in der Kreativwirtschaft.

Die Autoren gehen näher darauf ein, wieso es im Ruhrgebiet überhaupt zu einem Strukturwandel gekommen ist und welche Folgen dieser mit sich brachte. Im Zuge des Wandels weg von der Montanindustrie, mussten neue Wirtschaftszweige entwickelt werden. Problematisch ist, dass immer nach der einen Lösung gesucht wurde, was erhebliche Probleme mit sich brachte, denn alle Städte konzentrierten sich auf die gleichen Branchen. Konkurrenz statt Zusammenhalt, ein ungesunder Wettbewerb und nur eine gering entwickelte regionale Arbeitsteilung waren und sind die unbeabsichtigten Folgen.

Vor allem bemängeln die Autoren die fehlende funktionale Differenzierung, die von ihnen detailliert beschrieben wird. Eine funktionale Differenzierung in ihrem Verständnis ist eine sinnvolle Aufteilung von Tätigkeiten, Aufgaben und Funktionen auf Personen, Organisationen, Städte und andere Einrichtungen. Jede Stadt entwickelt dabei besondere Kompetenzen. Die Autoren sehen die Tatsache, dass eine funktionale Differenzierung im Ruhrgebiet bisher nicht ins Werk gesetzt wurde, als größtes Entwicklungs- und Wachstumshemmnis an.

Ein weiteres Problem sind die sozialen Veränderungen im Ruhrgebiet. Auch diese Entwicklungen werden ausführlich erläutert. So ist vor allem die Ungleichheit der Lebenslagen der Bevölkerung sehr problematisch; in dem Buch anschaulich dargestellt mit dem Bild des "Sozialäquators": Nördlich der A 40 siedeln sich eher Menschen an, die den unteren sozialen Schichten zuzuordnen sind und südlich von ihr vor allem der Mittelstand. Das Ruhrgebiet ist laut den Autoren in "Ober-" und "Unterstadt" geteilt.

Problematisch stellt sich für die Autoren ebenfalls das schwindende Humanvermögen dar. Auch dieser Fachbegriff wird von ihnen ausführlich erklärt. Humanvermögen umfasst Arbeitsmotivation, Solidarität, Empathie und Vertrauen. Schwindet dieses Humanvermögen, schwinden auch soziale Daseinskompetenzen und Motivation. Dieser Verlust ist vor allem innerhalb von Familien erkennbar, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind.

Die Autoren vertreten die Auffassung, dass das Ruhrgebiet seine Stärken nutzen sollte, anstatt sein Potential für nicht umsetzbare Ideen zu verschwenden. Wenn die Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden, kann ein Innovationsmilieu entstehen. Im Hinblick auf diesen Begriff erörtern sie die Chancen, die das Ruhrgebiet mit dem Ausbau einer Innovationskultur hat. Als zweiten zentralen Punkt nennen sie den Aufbau von Wirtschafts-Clustern. Auch diese Chance wird ausführlich erklärt und der Begriff des Clusters verdeutlicht.

Im weiteren Verlauf gehen die Autoren zunächst einen Schritt weg von ökonomischen Erörterungen und erläutern näher die sozialen Probleme des Ruhrgebiets, erklären erneut den Begriff "Sozialäquator" und die Probleme, die eine Teilung in Ober- und Unterstadt mit sich bringt. Die Autoren sind der Ansicht, dass Kinder, die direkt in der Unterstadt geboren werden, keine Chance auf eine ausreichende Bildung haben. Sie fordern eine Bildungsoffensive und schlagen auch direkt vor, wie diese in ihren Augen abzulaufen hat. Als zentralen Faktor sehen sie die Einbindung der Familie. Die Eltern sollen für eine Mitarbeit begeistert werden, nur auf diesem Weg könne die Förderung der Kinder wirklich wirksam werden. Dabei gibt es zwei Hürden, die überwunden werden müssen: zum einen die Inanspruchnahme überhaupt und zum anderen die Aufrechterhaltung über Zeit.

Nachdem die Autoren die sozialen Aspekte erläutert haben, gehen sie wieder auf die ökonomische Entwicklung und die fehlende Differenzierung der Wirtschaftsstruktur ein. Es müssen Wachstumspole geschaffen werden und dies geht in ihren Augen nur, wenn Cluster entwickelt werden. Es werden international ausstrahlende Cluster gebraucht, um das Ruhrgebiet global zu etablieren, aber auch sogenannte "Mini-Cluster", die auf kleinräumiger Ebene wirken und Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit in der Region halten.

Auch die Kreativwirtschaft wird in den Fokus gerückt. Die Autoren sehen die Entwicklung von dieser zunächst einmal als Vision an. Diese ist nur umsetzbar, wenn überzeugende Strategien entwickelt werden und bereits bestehende Netzwerke, wie zum Beispiel die der Kulturhauptstadt RUHR.2010, genutzt werden.

Anschließend stellen die Autoren die Frage, ob das Ruhrgebiet eine Chance hat, wenn es sich als Metropole etablieren kann. Sie stellen sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob das Ruhgebiet überhaupt eine Metropole ist und kommen zu dem Schluss, dass es lediglich eine Einheit ist, die durch die Interessen der Montanindustrie bestimmt ist. Die Region kann zwar als Metropolregion bezeichnet werden, ist aber nicht mit anderen Metropolen vergleichbar. Sie ist eine Metropole ganz eigener Art, die vor allem durch den Strukturwandel geprägt ist.

Zusammenfassend schildern die Autoren noch einmal die gesamten Veränderungen, die sich in den letzten Jahren vollzogen haben. Sie sind der Ansicht, dass das Ruhrgebiet schon viele positive Veränderungen durchlebt hat, aber nun daran gearbeitet werden muss, dass die noch anstehenden Veränderungen nachhaltig sind.

Die Autoren betonen zwar immer wieder die negativen Folgen des Strukturwandels, liefern aber direkt Lösungsvorschläge. Besonders an der Argumentationsweise wird deutlich, dass sie auf Langfristigkeit setzen. Sie wollen keine schnellen Veränderungen, sondern machen deutlich, dass das Ruhrgebiet Lösungen braucht, die eine Zukunft haben.

Der Anspruch der Autoren, ein Buch für Jedermann zu schreiben, gelingt ihnen. Positiv anzumerken ist zudem, dass sie viele direkte Beispiele anführen. Das Werk bleibt somit nicht auf der Theorieebene stehen, sondern regt dazu an, die genannten Lösungsvorschläge in die Praxis umzusetzen. Besonders heraus stechend ist dabei die Tatsache, dass die Autoren es schaffen, bei den Folgen des Strukturwandels nicht nur die ökonomischen Auswirkungen in den Blick zu nehmen, sondern den Fokus breiter zu fächern und das Augenmerk auch auf die Menschen zu lenken.

Ein weiterer Pluspunkt des Werkes ist, dass die Autoren ihre Thesen immer wieder mit klaren Fakten untermauern. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn sie über die sozialen Aspekte des Strukturwandels sprechen und die Arbeitslosenquoten erläutern. Der Leser bekommt damit einen realistischen Blick auf das Ruhrgebiet vermittelt. Die Autoren schaffen es, stets objektiv zu bleiben, obwohl sie, so betonen sie selbst, "die Liebe zum Ruhrgebiet und die Sorge um seine Zukunft eint" (S. 9).

Die einzig anzumerkende Kritik ist darin zu sehen, dass einige verwendete Daten aktueller sein könnten. So vergleichen die Autoren zum Beispiel im zweiten Kapitel die Anzahl von Beschäftigten im Bergbau mit der Anzahl der Studenten; der Vergleich endet aber im Jahr 2005. Da das hier besprochene Buch allerdings im Jahr 2012 erschienen ist, wäre eine Weiterführung des Vergleichs hier vielleicht interessant gewesen. Es gibt auch noch einige andere Beispiele, in denen die Zeitreihen schon im Jahr 2005 enden. Hier würden aktuellere Daten vielleicht andere Ergebnisse aufzeigen. Obwohl es an machen Stellen durchaus an Datenaktualität mangelt, gibt die Lektüre trotzdem einen umfassenden Einblick auf die Geschehnisse im Ruhrgebiet.

Kurzum: das Werk ist realistisch, objektiv, klar und einfach geschrieben, deswegen ist es empfehlenswert. Für Jedermann!

Kristin Fieberg und Wiebke Jensen



 

Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung der Stadt - Urbanität als Ereignis. Bielefeld 2012. 372 S.

Die Autoren Bohn und Wilharm beschäftigen sich in ihrem Sammelband ausführlich mit den Fragestellungen über die Selbstinszenierung von Städten und ihrer Bedeutung. Sie gehen darauf ein, welche Eigeninitiativen eine Stadt ausüben kann, um sowohl für ihre Einwohner als auch für Touristen attraktiver zu erscheinen. Dabei wird näher untersucht, wie sich urbaner Lebensstil inszenieren lässt und welche Rolle die Bevölkerung bei dem Prozess spielt.

Einige Autoren vergleichen die Merkmale deutscher und internationaler Metropolen, wie London oder Paris und wenden sich der Charakteristika jener unter dem Aspekt des Aufbaus einer Metropole zu.
Der Begriff "Metropole" sei definitorisch nicht erfüllt. Auch in Deutschland gebe es Städte und Räume, die als Metropolen bezeichnet werden oder sich selbst als solche identifizieren. Die Autoren der einzelnen Beiträge greifen die Diskussion auf, ob einige deutsche Städte als Metropole anerkannt werden können, insbesondere ob das Ruhrgebiet als Metropole definiert werden könne.
Bei dem Werk "Inszenierung der Stadt - Urbanität als Ereignis" handelt es sich um einen Sammelband, welcher aus 14 verschiedenen Aufsätzen aufgebaut ist. Die Beiträge sind aus unterschiedlichen Sichtweisen der Disziplinen Kunst, Philosophie, Geschichte, Medien, Architektur und Geographie zum Thema Städteinszenierung verfasst worden.

Von den 14 Aufsätzen befassen sich 7 Beiträge mit dem Thema Ruhrgebiet, insbesondere mit dem Projekt RUHR.2010.

In unserem Beitrag wollen wir uns vor allem mit den Aufsätzen zum Ruhrgebiet beschäftigen.
Inhaltlich wird der Sammelband mit einer Arbeit über Stadtentwicklung im historischen Zeitverlauf, von der antiken Stadt über die mittelalterliche Handelsstadt, die Industriestadt bis hin zur modernen Stadt eingeleitet. In den einzelnen Zeitabschnitten werden die Wandlungsprozesse der Urbanisierung basierend auf den Thesen des Theoretikers Henri Lefebvre näher aufgegriffen. Grundlegend sei bei dem Wandlungsprozess der Städte zu beobachten, dass die Stadt-Land Beziehung eine wichtige Rolle gespielt habe und stetigen Veränderungen unterlegen sei. Die moderne Stadt lebe von der Inszenierung der Urbanität. Am Ende der Einleitung gehen die beiden Herausgeber noch kurz auf die Bedeutung der einzelnen Beiträge und Autoren ein.

Der Geograph Achim Prossek nennt seinen Beitrag "Bilder (k)einer Metropole. Zur Inszenierung des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt Europas". Der Aufsatz beschreibt die Relevanz und Gründe von eingesetzten Inszenierungsstrategien für eine nachhaltige Stadtentwicklung am Beispiel der RUHR.2010. Der Begriff "Metropole" ist ein zentraler Terminus in dem Aufsatz. Dabei werden die Ziele und Gründe des Ruhrgebiets diskutiert, sich als Metropole zu etablieren und einen Transformationsprozess vom ehemaligen Kohle- und Stahlstandort hin zur kulturellen Metropole zu vollziehen. Weiterhin werden die Auswirkungen der RUHR.2010 auf die Städte des Ruhrgebiets erläutert. Dies beinhaltet zum Beispiel die Tourismusförderung oder die Schaffung von Aufmerksamkeit mit der Fokussierung auf das Image "Metropole- Ruhr" als Anziehungsfaktor. Am Ende des Beitrags wird ein Fazit über die Inszenierung des Ruhrgebiets als Metropole während der RUHR.2010 gezogen und nicht realisierte Projekte, wie "Land for free" und "Die zweite Stadt", vorgestellt. Der Autor legt den Schwerpunkt auf die Frage, ob das Ruhrgebiet mit Metropolen wie Paris und London gleichzusetzen sei. Prossek verneint die Frage und führt als Gründe an, dass das Ruhrgebiet polyzentrisch ausgerichtet sei und einen Mangel an Urbanität aufweise. Dennoch habe das Ruhrgebiet durch das Projekt an überregionaler Aufmerksamkeit gewonnen und zeichne sich durch Erfolg aus. Es habe zwar viele ruhrgebietstypische Projekte mit Bildern des alten Ruhrgebiets gegeben, dennoch sei das Ruhrgebiet sowohl bei den Einheimischen als auch bei Touristen nicht als Metropole bekannt geworden und habe keine neue regionale Identität erhalten.

Pamela C. Scorzin ist Kunstwissenschaftlerin und nennt ihren Beitrag "Risiko relationaler Szenografie - am Beispiel der RUHR.2010-Kunstprojekte". Scorzin geht auf die Bedeutung und auf die Auswirkungen der Veranstaltung RUHR.2010 für das Ruhrgebiet ein. Zunächst werden die Ziele des Projekts erläutert. Zum einen solle der Gemeinschaftssinn der Bewohner zwischen Emscher und Ruhr gestärkt werden. Zum anderen liege das Ziel in der vermehrten Partizipation der Menschen am gesellschaftlichen Geschehen durch Kommunikationsförderung und Schaffung kreativer Prozesse innerhalb der Gesellschaft. Letzten Endes werden diverse Kunstprojekte und Veranstaltungen mit künstlerischem Interesse im Zuge von RUHR.2010, wie "2-3 Straßen" oder "NEW POTT 100 Lichter / 100 Gesichter", vorgestellt. Abschließend wird das Projekt RUHR.2010 bewertet und zusammenfassend festgestellt, dass die eingesetzten künstlerischen sowie szenografischen Mittel des Projekts an vergangene Klischees und das Industriezeitalter der Region erinnern.

Der Beitrag "Zeugnisse des Dortmunder U" von Adolf Winkelmann wird durch einen Prolog von Ralf Bohn eingeleitet, wobei es um das "szenografische Konzept" von A. Winkelmann geht, das durch eine Videoinstallationen auf dem Dortmunder U, Zentrum für Kunst und Kreativität, umgesetzt wurde. Mit Hilfe von Videoprojektionen wurde hierbei der Turm der ehemaligen und jetzt umgenutzten Dortmunder Union-Brauerei während der RUHR.2010 in Szene gesetzt.

In der Videoprojektion wurden einzelne Szenen mit den Titeln heimtückisch, spiegelbildlich, staubig, astrologisch, kulinarisch, unwiederbringlich, vergänglich, familiär, babylonische Buchstabensuppe und der Turm als Stahlwerk in Bezug auf den historischen Hintergrund des Ruhrgebiets sowie der Brauerei in Szene gesetzt.

Inwieweit die Szenografie des Dortmunder U einen Heimatbezug schafft, diskutiert Ralf Bohn in seinem anschließenden Beitrag "Inszenierte Zeitgestalt". Der Autor definiert zunächst die Bedeutung des Begriffs "Heimat". Es handele sich hierbei um eine "Kindheitsvorstellung, die als unauslösliche Erfahrungen inkorpiert sind: Sie können nicht vergessen und nicht überschrieben werden" (S.79). Jeder Mensch verbinde mit dem Wort "Heimat" verschiedene Bilder, Töne und Gerüche.

Ralf Bohn verbindet mit dem Turm des Dortmunder U einen topographischen Ort, der in jedem Menschen eine Art Selbsterinnerung an die Vergangenheit des Ortes hervorruft. Einige verbinden mit dem Dortmunder U den Heimweg von der Schule oder die sinnliche Adventszeit, da der Turm jedes Jahr mit Weihnachtsbäumen geschmückt worden sei.

Am Ende des Beitrags erwähnt Ralf Bohn die Paradoxie des Zeitbildes der Hanse- und Bierstadt. Dabei geht Bohn noch einmal auf die Szenografie ein, die Winkelmann in seinem Konzept "Das Dortmunder U" verwirklicht hat. Diese zeige, dass sich "jenseits des Kunst- und Kreativzwanges antagonistische Zeitbilder begegnen können" (S.82). Durch die "fliegenden Bilder" können bestimmte "Formen der Dialogizität" bestimmt werden; z.B. das Bild der Heimat (S.83). Die Erinnerungen an die alte Heimat seien einmalig und können für die nachkommenden Generationen nicht wiederhergestellt werden.
Der Aufsatz "Viel Licht und starker Schatten", verfasst von Dennis Köhler, einem Architekt, und Manfred Walz, einem Stadtplaner/Architekt, beschäftigt sich mit der Darstellung von Räumen durch den Einsatz von Licht und beschreibt, in wie weit Raumeinheiten durch Licht unterschieden werden können. Das Ziel ist die Darstellung der räumlichen Zusammenhänge durch Lichteinsatz.

Nach Ansicht der Autoren kann der Einsatz von Licht mehr als attraktive Situationen der Stadt betonen. Es gäbe verschiedene Arten, Städte zu beleuchten, wobei diese unterschiedlichen Funktionen nachgehen. Dabei werden fünf unterschiedliche Typen von Beleuchtung näher erläutert. Es handele sich hierbei um die öffentliche Funktionsbeleuchtung, die individuelle Beleuchtung, die merkantile Beleuchtung, das gestalterische Licht und die temporäre Sonderbeleuchtung. Die Beleuchtungstypen dienen verschiedene Zwecken und Anwendungen und werden je nach Bedarf eingesetzt.

Der Zusammenhang zwischen Lichtgestaltung und Ruhrgebiet mit dem Aufbau einer regionalen Lichtgestalt erweist sich als kompliziert, da das Ruhrgebiet ein polyzentrischer Raum ist und somit eine einheitliche Lichtvernetzung der Städte erschwert wird. Insgesamt dient das aufgebaute Infrastrukturnetz im Ruhrgebiet als Grundlage eines Lichtnetzes, wobei das Ziel der Lichtgestaltung die Förderung des Zusammenwachsens der Region darstellt.

Ralf Bohn erörtert in seinem Betrag am Beispiel von "Paris, Ruhr" die "geschichtliche Inszenierung von Urbanität". Am Anfang seines Beitrags fragt sich Bohn: "Sind Metropolen per se Orte der Inszenierung, Inszenierungen gar Urbanitätsausweise" (S. 289)? Dabei geht er sowohl auf die Frage ein, was eine Metropole zur Metropole mache, als auch, wer und wann über den Namen einer Metropole entscheide.

Könne das Ruhrgebiet trotz der Ursprungsform einer historischen Mutterstadt eine Metropole seien? Was mache den Begriff Urbanität aus, wenn man diesen mit einer Metropole verbinde? Die Antworten zu diesen offenen Fragen versucht Bohn in literarischen und philosophischen Texten zu finden.

Am Ende des Sammelbandes geht Christoph Weismüller näher auf die "Inszenierung des Unbewussten der Metropole ein", wobei er seinen Beitrag durch eine Analyse nach Freud einleitet, die sich auf das psychoanalytisch aufbereitete Verhältnis zwischen Kind und Mutter bezieht.

Dazu stellt er die Frage, in welcher Verbindung die Begriffs- und Programmgeschichte der griechischen "Mutterstadt" gegenüber der modernen Stadt stehe? Die ursprüngliche Mutterstadt symbolisiere eine Transformation, eine Art Beziehung zwischen den Bürgern und der Stadt.

Schlussendlich befasst sich Weismüller mit der Frage, ob "Strukturen und Ordnungen so etwas wie ein kollektives Unterbewusstsein entwickeln können" (S.362).

Anhand eines Beispieles, der Loveparade 2010 in Duisburg, versucht der Autor, die Strukturen und Ordnungen des kollektiven Unterbewusstseins näher zu erläutern. Dabei stellt Weismüller fest, dass die Loveparade als Beispiel für eine bestimmte Art der Städteinszenierung steht. Die Bevölkerung verbindet mit der Loveparade 2010 nicht einen Metropolenwandel, sondern sehe diese viel mehr als ein Symbol für ein tragisches Ereignis mit über 21 Toten, sowie für einen nicht identifizierbaren Schuldigen.

In diesem Beispiel interpretiert Weismüller das "Black-Out der Veranstalter, Politiker und der Ordnungskräfte" als unbewusste Gefahr einer Stadt, denn den verantwortlichen Organisatoren ist es bis heute noch nicht bewusst, wie sich die Katastrophe auf die Stadt ausgewirkt hat (S.360).

Christoph Weismüller beendet seinen Beitrag mit dem Fazit: "Geht hinaus, gestaltet und inszeniert, aber vergesst nicht die Gewaltverhältnisse [...] der Metropole" (S.362).

Positiv zu bewerten ist die gelungene Veranschaulichung und Bedeutungsdarstellung des Projekts Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Der Leser kann einen guten Einblick in das interne Geschehen und hinter die Fassaden des Projektes erlangen, wobei sowohl Erfolge als auch Misserfolge der Ruhr.2010 verdeutlicht werden.

Weiterhin enthält der Sammelband Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und von diversen Fachvertretern zum Thema Städteinszenierung. Je nach eigenem Fachinteresse hat der Leser die Möglichkeit, lediglich einzelne Aufsätze lesen zu können, ohne sich mit den anderen Beiträgen näher beschäftigen zu müssen.

In Bezug auf die formale Gestaltung des Sammelbandes hätten mehr veranschaulichende Bilder in die Beiträge zum Thema Städteinszenierung mit Kunst und Medien eingefügt werden können. Bei der Bebilderung sind vermehrt schwarz-weiß Fotographien gewählt worden, wobei Farbbilder Städteinszenierungen deutlich besser veranschaulichen würden. Ebenso ist der Bezug zwischen den Abbildungen und dem Text nicht immer eindeutig, da keine Vermerke zu den Bildern im Text zu finden sind.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr theoretisches Buch, wobei die Fachtermini am Ende der Seiten zum besseren Verständnis mit Verweisen auf weiterführende Literatur versehen sind. Die anspruchsvolle Lektüre setzt dennoch fachliches Vorwissen bezüglich der verschiedenen Disziplinen voraus, um die Beiträge genauer zu verstehen. Allerdings variiert der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Texte. Beispielsweise ist der Aufsatz "Bilder (k) einer Metropole - Zur Inszenierung des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt Europas" von Achim Prossek, einem Geograph, deutlich besser zu verstehen, als der Beitrag "Situativ bestimmte Qualitäten im Raum - Leibliche Dispositionen situativer Erfahrungen" von Ludwig Fromm, einem Architekten. Die Geographie ist in diesem Sinne allgemeiner und leichter verständlich als der Fachterminus der Architektur.

Ein weiteres Problem ist darin zu sehen, dass die Autoren des Sammelbandes ihre Beiträge unabhängig voneinander verfassten! somit gehen sie nicht aufeinander ein, sodass einige Theorien und Aussagen wiederholt werden.

Im Allgemeinen ermöglicht der Sammelband jedoch einen guten Einblick in die Inszenierungsmöglichkeiten - und -arten einer Stadt, mit dem Ziel der Steigerung der Attraktivität für Einwohner und Touristen.

Durch die verschiedenen Beiträge werden unterschiedliche Inszenierungsstrategien und -techniken vorgestellt, welche direkt mit Hilfe von Beispielen in verschiedenen Räumen angewendet werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Entwicklung von Lebensstilen, in Form von Urbanität, da Menschen einen Raum mit ihren sozialen und kulturellen Faktoren prägen. Es herrscht eine wechselseitige Beziehung zwischen dem System Mensch und Raum, was bedeutet, dass die beiden Systeme voneinander abhängig sind und sich gegenseitig prägen.

Letzten Endes lässt sich unter Berücksichtigung der Autorenmeinungen feststellen, dass das Projekt RUHR.2010 die Attraktivitätssteigerung, die Förderung des Tourismus und den angestrebten Imagewandel vom Kohle- und Stahlstandort hin zur kulturellen Metropole unterstützt hat. Jedoch ist das Ruhrgebiet nicht mit den internationalen Metropolen wie London und Paris vergleichbar. Das Projekt RUHR.2010 ist erfolgreich gewesen, viele ruhrgebietstypische Projekte und Bilder des alten Ruhrgebiets wurden den Besuchern vermittelt. Dennoch ist das Ruhrgebiet nicht als Metropole bekannt geworden und hat dementsprechend keine neue regionale Identität erhalten.

Victoria Liekefett und Anna-Lena Höft



 

Roland Günter: Karl Ganser. Ein Mann setzt Zeichen. Eine Planer-Biographie mit der IBA in der Metropole Ruhr. Essen 2010. 476 S.

Zusammenfassung
Es handelt sich bei dem Buch "Karl Ganser - Ein Mann setzt Zeichen" um eine erzählerische Biographie über Karl Ganser, einem Pionier der Stadtentwicklung und dem Kopf der IBA Emscher Park. In chronologischer Reihenfolge werden sämtliche Lebensstationen Gansers beleuchtet. Zudem wird Einblick in sein Privatleben gegeben und es werden einige seiner charakterlichen Eigenheiten herausgearbeitet. "Dieses Buch entstand auf der Basis von einzigartigen Quellen, vor Allem aus Tonband-Aufnahmen von vielen Gesprächen mit Karl Ganser" (aus dem Klappentext). Auch viele Weggefährten Gansers kommen zu Wort.

1.1 Biographische Daten und schulische Ausbildung
Karl Ganser wurde 1937 in Mindelheim (Unterallgäu) geboren. Seine Kindheit verbrachte er bis 1947 auf einem Bauernhof in Nattenhausen (ebd.). Dort wohnt er auch seit 1990, nachdem er den Hof geerbt hat. Nach dem Abitur (Günzburg) vollendete er ein Studium der Chemie, Biologie und Geographie an der TU München. 1964 promovierte er im Fach Sozialgeographie. Bis 1967 arbeitete er als Assistent und Dozent an der TH München (Habilitation 1970). 1975 wurde er zum Professor der Geographie ernannt, den Lehrstuhl lehnte er jedoch ab. Die Daten sind aus verschiedenen Textstellen zusammengestellt. In den folgenden Absätzen sollen die im Buch vorgestellten stadtplanerischen Tätigkeiten zusammengefasst werden.

1.2 Erste stadtplanerische Stationen Gansers: München, Bonn, Düsseldorf
Stadtentwicklungs- u. Baureferat in München (1967 - 1971): Karl Ganser war von 1967-1971 Projektleiter des Stadtentwicklungs- u. Baureferates der Stadtverwaltung München. Die bearbeiteten Themen umfassten u. a. die Planung der Olympischen Spiele 1972 und - damit verknüpft - die Planung des "Altstadtringtunnels". Durch Ganser und das Referat initiierte neue Trends in der Stadtplanung waren die "öffentliche Planung" (die Bürger sollten an Planungsprozess teilnehmen), die "interdisziplinäre Stadtplanung" (die Münchener Planungsgruppe bestand aus Personen verschiedenster Disziplinen) sowie die Arbeit in Projektgruppen. Das Stadtentwicklungs- u. Baureferat wurde 1973 aufgelöst. Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung in Bonn (1971 - 1980): 1971 wurde Karl Ganser Direktor des Instituts für Landeskunde in Bonn und reformierte es von Grund auf. Der neue Name lautete nun "Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung". Erarbeitet wurde ein mittelfristiges Forschungsprogramm zur "Raum- u. Siedlungsentwicklung" . Die Planung fand auch hier in interdisziplinärer Teamarbeit statt. Pro Jahr wurden etwa 20 Projekte bearbeitet. Modell-Projekte waren z. B. "flächenhafte Verkehrsberuhigung" , "fahrradfreundliche Stadt", usw.
Ministerium für Landes- u. Stadtentwicklung NRW in Düsseldorf (1980 - 1989):
1980 entstand das Ministerium für Landes- u. Stadtentwicklung NRW in Düsseldorf. Karl Ganser wurde zum Abteilungsleiter berufen. Städtebauminister wurde Dr. Christoph Zöpel. Das Gespann Ganser/Zöpel galt als eines der fruchtbarsten im Bereich der Stadtentwicklung, so entstanden zahlreiche Innovationen. Nicht mehr bearbeitet wurden überdimensionierte Projekte (Hochhäuser, Ortsumgehungen), zerstörende Stadtsanierung oder teure Firmenverlagerungen. Im Vordergrund standen stattdessen Leitvorstellungen wie "erhaltende Stadterneuerung", "nachhaltige Stadtentwicklung" oder der Denkmalschutz. Ein Beispiel für die Rettung eines alten Fabrikkomplexes ist die Fabrik Jagenberg (Papierindustrie, Düsseldorf). Die Planungspolitik des Ministeriums fand seine Fortsetzung in der IBA Emscher Park.

1.3 Strukturwandel im Ruhrgebiet und Internationale Bauausstellung
Strukturwandel: "Tatsächlich ist aber die gesamte Industrie-Epoche, die nun 200 Jahre umfasst, ein ständiger Prozess des Wandels" (S. 119); das Ruhrgebiet veränderte sich so vom Standort des Bergbaus (Abbau seit 18. Jh., Kohlekrise in den 50er Jahren des 20. Jh.) und der Stahlindustrie (Stahlkrise ab Ende der 60er Jahre des 20. Jh.) hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft (fast 3/4 der Beschäftigten arbeiten heute im tertiären Sektor).

Internationale Bauausstellung: Eine "Internationale Bauausstellung" soll einer Region  überregionale Bekanntheit verschaffen. Als Folge unterschiedlichster Projekte wird u. a. eine wirtschaftliche Verbesserung erwartet. Eine Bauausstellung begleitet und gestaltet den Strukturwandel.

1.4 IBA Emscher Park (1989 - 1999)
Vor dem Hintergrund des Strukturwandels im Ruhrgebiet gründeten Karl Ganser und seine Mitstreiter 1988 die IBA Emscher Park. "Ziel ist die sozial- u. umweltverträgliche Gestaltung des Strukturwandels" (Thomas Grohé, IBA-Mitarbeiter, S. 132). Es handelt sich dabei nicht etwa um eine Ausstellung im herkömmlichen Sinne, sondern um einen "Prozess, eine Werkstatt für die Zukunft von Industrie-Regionen mit vielen Akteuren" (Karl Ganser, IBA-Geschäftsführer, S. 133). Das Buch beschreibt die Tätigkeiten Gansers in der IBA detailliert, im Folgenden sollen nur die wichtigsten Bereiche vorgestellt werden.

Daten zur IBA Emscher Park: Im Dezember 1988 wurde die "IBA GmbH" gegründet. Das einbezogene Planungsgebiet erstreckte sich auf 800 km² zwischen Duisburg und Kamen; beteiligt waren 17 Städte (Duisburg, Oberhausen, Dortmund usw.) und 2 Kreise. Arbeitssitz der IBA Emscher Park war die ehemalige Zeche Rhein-Elbe in Gelsenkirchen. Der Arbeitsstab umfasste etwa 36 Personen, u. a. Christoph Zöpel. Die Eröffnungsveranstaltung fand am 16.12.1988 im Musiktheater Gelsenkirchen statt, die Schlussveranstaltung am 01.10.1999 in der Akademie Mont-Cenis (Herne). Es wurden etwa 120 Projekte betreut. "Christoph Zöpel und Karl Ganser machen aus der IBA Emscher Park keine übliche Repräsentation eines Bundeslandes, sondern eine Strukturentwicklungsmaßnahme zur umfangreichsten Regionalentwicklung, die es bis dahin gab" (S. 119).

Emscher Landschaftspark: Bereits in den 20er Jahren des 20. Jh. sind sieben Grünzüge in Nord-Süd-Richtung entstanden, die jedoch durch Ortschaften und Industriegelände voneinander getrennt waren. Das Ziel der IBA Emscher Park war es nun, diese Zerstückelung aufzuheben und zu einem zusammenhängenden Parksystem zu vernetzen. Ein Beispiel ist der als Folge der Bergbautätigkeit entstandene Beversee bei Bergkamen (Abb. 1).

Arbeiten im Park / Wohnen im Park: Auf industriellen Brachflächen entstanden durch die IBA Emscher Park Gewerbe- u. Dienstleistungsparks sowie Technologie- u. Gründerzentren. Die IBA rettete zahlreiche ältere Wohnsiedlungen vor dem Abriss, erneuerte sie und ergänzte sie durch moderne Erweiterungen; so entstand z. B. in Kamen auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Monopol die Gartenstadt Seseke-Aue (Abb. 2)

 

 

Abb. 1: Beversee, Bergkamen, dahinter Kohlekraftwerk (Foto: Till Riechmann)

 

 

 

 

Abb. 2: Gartenstadt Seseke-Aue, Kamen (Foto: Till Riechmann)

 

Industriewald und Industriekultur: Auf Industriebrachen wurde der Natur freier Lauf gelassen. "Langfristig wächst da Wald. (...) Dann haben wir Industrie-Wald, weil es ein Wald ist, der auf Industrie-Flächen wächst" (Karl Ganser, S. 184). Die IBA Emscher Park rettete viele Industriedenkmäler vor dem Abriss, so z. B. die Zeche Waltrop (Abb. 3). Die "Zeche Zollverein" in Essen wurde später sogar in die Liste des Weltkulturerbe aufgenommen. Genannt werden sollte noch ein weiteres wichtiges Projekt Gansers: die Restaurierung des Innenhafens Duisburg (heute: Museen, Parks, Büros).

Brücken: Die IBA Emscher Park liess viele künstlerisch gestaltete Brückenwerke entstehen, so z. B. die Doppelbogenbrücke im Nordsternpark Gelsenkirchen (Abb. 4).

 

Abb. 3: Zeche Waltrop (Foto: Till Riechmann)

 

 

 

Abb. 4: Doppelbogenbrücke Nordsternpark Gelsenkirchen (Foto: Till Riechmann)

Umbau des Flusses Emscher: Die Emscher diente jahrzehntelang als Entsorgungsgewässer. Damit sollte nun Schluss sein. Der Maßnahmenkatalog umfasste Punkte wie "Vermeidung von Abwasser durch Klärung vor Ort" oder "Wiederverwendung von Wasser in den Betrieben" (S. 197)

Vision des neuen Emschertals: Das Gesamtkonzept der IBA Emscher Park: Grünzüge, Halden, Industriedenkmäler, die Emscher und die anderen Projekte wurden zu einem zusammenhängenden neuen Emschertal verbunden. Die IBA "stellt das Alte und das Neue nicht mehr gegeneinander, sondern gestaltet es in einer Synthese. Das Alte wird nicht mehr planiert, sondern bildet eine Strukturebene in dem neuen Bild der Landschaft. Daraus entsteht eine Dramaturgie." (S. 283).

Das IBA-Finale: 1999 fand das IBA-Finale statt, d. h. die Ergebnisse von 10 Jahren Arbeit wurden der Öffentlichkeit durch zahlreiche Veranstaltungen präsentiert. Unter anderem wurde die "Route der Industriekultur" eröffnet, ein zusammenhängendes Band von "Ankerpunkten" (= Ausgangspunkte für bestimmte Themenrouten) und "Panoramen" (= Aussichtspunkte). Die IBA bzw. die durch sie initiierte Landesentwicklung "stellt das Ruhrgebiet nach einer großen Katastrophe wieder auf die Füße" (S. 284).

1.5 Weitere Projekte Gansers
Triennale Ruhr: Bereits während der IBA ließ Karl Ganser verschiedene Industriedenkmäler durch Musik und Theater bespielen. Seit 2002 findet als Nachfolge jährlich das Kunstfestival der Ruhrtriennale statt (eine Triennale entspricht dabei drei Spielzeiten unter Leitung desselben Intendanten).
Projekt Gaswerk (Augsburg): In Augsburg steht das einzige in Mitteleuropa vollständig erhaltene Gaswerk (Bau: 1915, stillgelegt: 2001). Karl Ganser ließ das umfangreiche Gelände (vier Höfe, drei Gasbehälter, zahlreiche Maschinen) zu einem Veranstaltungsort umbauen.

1.6 Ein Besuch bei Karl Ganser
Karl Ganser wohnt in dem von den Eltern geerbten umgebauten Bauernhaus, welches viele ästhetische Elemente aufweist, so z. B. ein Kaminzimmer, ein Anbau mit Orangerie, ein Wintergarten mit Weinstöcken; umgeben wird das Haus von einer Wiese mit Teich und Bach, Obstbäumen, Beeten; zudem hat Ganser einige ökologische Bestandteile integriert (Wasserspeicher, Solarenergie). Ganser ist im Privatleben Hobbygärtner, Hofbetreiber, Zitherspieler. Roland Günter beschreibt Ganser's Heim als "IBA in Miniatur" (S. 426) und stellt dessen Privatleben ausgiebig vor.

2 Kritische Betrachtung des Buches
2.1 Positive Aspekte
Sämtliche Stationen in Karl Gansers Leben werden detailliert beschrieben: Den Anfang bilden seine Kindheit, Jugend und Studienzeit sowie seine ersten stadtplanerischen Wirkungsstätten in München, Bonn und Düsseldorf. Der Schwerpunkt liegt dann natürlich auf Gansers Tätigkeit als Kopf der IBA. Hierbei erfährt man viel Hintergrundwissen z. B. über die personelle Zusammensetzung, die projektbezogene Arbeitsweise oder die Finanzierung der IBA. Auch die Zeit nach der IBA (Triennale, Gaswerk Augsburg) wird ausführlich behandelt.
Neben der stadtplanerischen Seite Gansers wird dem Leser aber auch sein Privatleben vorgestellt: So wird Ganser in seinem Heim in Nattenhausen besucht und Günter gibt dem Leser Einblicke in den nicht-öffentlichen Bereich seines Lebens; zudem wird er auch in psychologischer Hinsicht beleuchtet, d. h. seine Charakterzüge oder seine Beweggründe für bestimmtes Handeln werden deutlich gemacht.
Neben Wegbegleitern kommt auch Ganser selbst ausgiebig zu Wort.

2.2 Negative Aspekte
Günter's Buch setzt sich zusammen aus selbst verfassten Texten sowie Zitaten von Ganser und seinen Mitstreitern. Durch diese verschiedenen Personenkreise ist manchmal nicht sofort eindeutig, wer gerade spricht oder welche Funktion der Sprechende hat. So tauchen z. B. Personen wie Ulrich Dratz (S. 18) oder Hans Schwippert (S. 193) in bestimmten Sachverhalten auf, ohne dass sie irgendwie vorgestellt worden sind. Hier wäre ein Personenverzeichnis mit kurzer Erläuterungen ihrer Beziehung zu Ganser sinnvoll. Überhaupt löst sich Roland Günter vom üblichen Aufbau traditioneller Sachbücher. So sind die Kapitel nicht durchnummeriert, Unterkapitel werden mit fettgedruckten einleitenden Einzelworten, Kurz- oder Teilsätzen begonnen. Diese fassen meist jedoch nicht das Thema des Unterkapitels in sachlicher Hinsicht zusammen, sondern geben eher den psychologischen Inhalt wieder; so beginnen Unterkapitel mit Worten wie "Volldampf und viele Fäden" (S. 93) oder "Marken, Geschichten erzählen, Bedeutsamkeit" (S. 274). Die Folge ist, dass man eine einmal "verlorene" Textstelle nicht so schnell wieder auffinden kann.
Ein großes Manko ist die Bebilderung. Zwar beinhaltet das Buch etwa 170 Abbildungen, diese sind jedoch in schwarzweiß gehalten, was der farbenfrohen IBA (besondere Beleuchtung vieler Objekte, Ästhetik der Industriebauten, Triennale usw.) natürlich nicht gerecht wird. Zudem sind viele Bilder sehr klein gedruckt. Auch tritt Karl Ganser abgesehen vom Titelfoto und einer weiteren Seite bildlich nicht in Erscheinung. So beschäftigt sich das Buch zwar mit der planerischen Tätigkeit Ganser`s, bleibt aber im Grunde genommen bei einer blossen erzählerischen Beschreibung, anstatt die Arbeiten Gansers und der IBA auch angemessen bildlich zu zeigen. Kartenmaterial wird praktisch ganz weggelassen (z. B. gibt es keine Übersicht des IBA-Planungsgebietes).

2.3 Gesamtbewertung
Der Geschäfts- u. Privatmann Karl Ganser sowie die IBA werden ausführlich behandelt. Dabei bilden die Gespräche mit Ganser, die eigenen Ausführungen des Autors sowie die Erinnerungen von Gansers Wegbegleitern ein zusammenhängendes Bild der geschaffenen Leistungen, d. h. es wird Wissen aus der Sicht direkt beteiligter Personen vermittelt. Daher kann das Buch in seinem inhaltlichen Gehalt kaum kritisiert werden. In technischer Hinsicht (besonders im Bereich der Bebilderung) gibt es aber Verbesserungsbedarf.

Fazit: Das Buch ist empfehlenswert für Ruhrgebiets-Interessierte mit gewissem Hintergrund-Wissen. Leser, die noch nie von der IBA und ihren Tätigkeiten gehört haben oder Orte wie Gladbeck und Lünen geographisch nicht zuordnen können, sollten sich vorab etwas über die weiteren Akteure im Ganser-Umfeld informieren und sich bei der Lektüre eine Ruhrgebietskarte (besser: eine Karte über das IBA-Planungsgebiet, im Internet verfügbar) zur Seite legen. Spezielles Fachwissen ist für die Lektüre aber nicht notwendig.

Till Riechmann




LWL-Industriemuseum (Hg.): Nach Westen. Zuwanderung aus Osteuropa ins Ruhrgebiet. Essen 2012. 158 S.

Zusammenfassung
Das zweigeteilte Werk "Nach Westen. Zuwanderung aus Osteuropa ins Ruhrgebiet" stellt die Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung aus Polen, der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens ins Ruhrgebiet zunächst auf wissenschaftliche und dann in Katalogform ansprechend dar.

Das Ruhrgebiet ist schon lange stark durch Migration aus dem Osten geprägt: Ende des 19. Jahrhunderts, während der Hochphase der Industrialisierung, verließen mehr als eine halbe Million Menschen Posen, Schlesien und Masuren, um in den Bergwerken des Ruhrgebiets zu arbeiten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der deutschen Niederlage blieben davon etwa 150.000, viele gingen nach Frankreich oder zurück nach Polen. Während des Zweiten Weltkriegs kam es durch Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Polen und polnischen Juden zur weiteren Verringerung des Anteils polnisch-stämmiger Bevölkerung. Im Anschluss machten der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang Migration nach Westen kaum möglich, bis in den 1980er Jahren dann etwa 1,4 Mio. Menschen aus Polen als Aussiedler ihren Weg nach Deutschland und schwerpunktmäßig ins Ruhrgebiet fanden.

Aus der ehemaligen Sowjetunion sind in den 90er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre ebenfalls etwa 2,3 Mio. Aussiedler nach Deutschland und davon etwa eine halbe Million Menschen ins Ruhrgebiet gezogen. Zusätzlich flohen etwa 50.000 russische Juden in den nordrhein-westfälischen Verdichtungsraum. Um dem Krieg und nationalistischer Verfolgung im ehemaligen Jugoslawien zu entkommen, flüchteten bis 1995 zehntausende Menschen von dort nach Deutschland. Viele davon sind bei Verwandten untergekommen, die in den 1960er und 1970er Jahren als Gastarbeiter angeworben worden waren.

Das Ergebnis des Migrationsgeschehens ist, dass sich heute ganz unterschiedliche Einwanderergruppen, und das nicht nur aus dem Osten, im Ruhrgebiet finden, die allesamt ihre Kultur und ihre Sprache mitgebracht haben. Gemeinsam sind allen Einwanderern aus dem Osten die Herkunft aus dem slawischen Sprachraum, die Herkunft aus einer sozialistischen Gesellschaft und das Hoffen auf eine bessere Zukunft.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat das hier besprochene Buch als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur herausgegeben. Die Ausstellung stellt die Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung aus Polen, der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens dar und fand vom 10. Juni bis zum 28. Oktober 2012 in der Zeche Hannover in Bochum statt. Die Ausstellung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Slavistik der Ruhr-Universität Bochum. Auch Studierende der Universität mit Zuwanderungsgeschichte wirkten an ihr unter Einbringung ihrer eigenen Erfahrungen an der Recherche und Konzeption mit.

Das Landesmuseum für Industriekultur hat bereits verschiedene andere Ausstellungen zur Migration ins Ruhrgebiet konzipiert und durchgeführt, unter anderem zur Migration aus Italien sowie aus Polen, zur Geschichte der russlanddeutschen Aussiedler und zu Spuren der Migration in der Baukultur Nordrhein-Westfalens.

Gegliedert ist das hier zu besprechende Werk in zwei Teile. Der erste Teil beinhaltet insgesamt acht wissenschaftliche Aufsätze verschiedener Autoren, während der zweite Teil, ebenfalls in acht Kapitel gegliedert, den Ausstellungskatalog im eigentlichen Sinne darstellt.

Die wissenschaftlichen Aufsätze beschäftigen sich in unterschiedlichen Themen mit dem Hintergrund der Ausstellung. Sie greifen dazu einzelne Aspekte des Gesamtthemas "Einwanderung ins Ruhrgebiet aus dem Osten" heraus. Überwiegend verfasst sind die voneinander unabhängig lesbaren Aufsätze von dem Leiter des Industriemuseums oder von Angehörigen der Ruhr-Universität Bochum. Im ersten Aufsatz äußert sich Dietmar Osses, Leiter des LWL-Industriemuseums, zur Darstellung von Migrationsgeschichte im Industriemuseum. Mit der Ausstellung "Nach Westen" sollte das zentrale Ziel verfolgt werden, in Zusammenarbeit mit Studierenden, die selbst Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion, dem ehemaligen Jugoslawien oder Polen besitzen, die Geschichte und Gegenwart der Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa zu erarbeiten und als Abschluss in eben dieser Ausstellung öffentlich zu machen.

Danach befasst sich Gennadij Bordjugov mit der Einwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Untersucht wird, wie Menschen mit deutschen Wurzeln in der UdSSR und in Russland wahrgenommen werden und welchen Einfluss diese Wahrnehmung aus das Migrationsverhalten der Russlanddeutschen hat. Bordjugov ist Leiter des internationalen Rats der Assoziation von Forschern zur russländischen Gesellschaft AIRO-XXI.

Im Anschluss daran nimmt Vladimir Volovnikov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Slavistik/Lothmann-Institut für russische Kultur der Ruhr-Universität Bochum, das Schicksal der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland beziehungsweise im Ruhrgebiet unter dem Motto "Lenin vs. Mickey Mouse" in den Blick. Den größten Teil seines Aufsatzes nimmt die Beschäftigung mit einer von ihm durchgeführten Befragung von insgesamt 50 Personen mit Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion ein. Er selbst bezeichnet diese Befragung als Momentaufnahme, mit dem Zweck, zu erfahren, inwieweit diese Menschen an ihren alten sowjetischen Lebens- und Wertvorstellungen sowie Vorlieben festgehalten haben. Mit dieser Fragestellung wollte er untersuchen, ob es für Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion typische Werte und Charaktereigenschaften gibt. Zudem waren der Wertewandel und die Frage danach, wie weit westliche Lebensvorstellungen sie beeinflussen oder sogar verdrängen, von Interesse. Als Fazit hält Volovnikov fest, dass eindeutige Aussagen über eine typische Mentalität der russischsprachigen Migranten schwer zu machen sind und immer schwerer werden, da ein Wandel dessen zu beobachten ist. Zurückkommend auf die Ausgangsfrage "Lenin vs. Mickey Mouse" bescheinigt er Mickey Mouse, also der Übernahme von westlichen Lebenseinstellungen bei den russischsprachigen Migranten im Gegensatz zum Festhalten an den alten "sowjetischen" Werten, einen kleinen Vorteil.

Als nächstes folgt ein Aufsatz von Tanja Anstatt, Professorin für slavische Philologie mit dem Schwerpunkt Sprachwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, über die Slavisch-deutsche Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet. Unter anderem schildert sie das Phänomen, dass beide Sprachen gemischt, sogar in einem Satz, verwendet werden und dass diese Art sich auszudrücken von manchen Mehrsprachigen als Gruppenmerkmal verstanden wird.

Unter der Überschrift "Von Ruhrpolen zu Kosmopolen" schreibt Ditmar Osses in seinem zweiten Aufsatz über Einwanderer beziehungsweise Einwanderung aus Polen sowie polnische Spuren im Ruhrgebiet.

Darauf folgt ein Aufsatz von Ingo Grabowsky, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Seminar für Slavistik/Lothmann-Institut für russische Kultur der Ruhr-Universität Bochum, über die Aussiedlerproblematik: Insgesamt zogen durch das Bundesvertriebenengesetz bis 2007 2,2 Millionen russlanddeutsche Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler nach Deutschland, davon 520.000 nach Nordrhein-Westfalen. Die vor allem während der 1990er Jahre migrierten deutschen Aussiedler wurden in ihrer sowjetischen "Heimat" als Deutsche wahrgenommen und in Deutschland als "Russen".

Im folgenden Aufsatz geht es um russische Juden in Deutschland. Yvonne Schütze, Professorin für Soziologie und Pädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin, beschäftigt sich mit jüdischen Zuwandereridentitäten und nutzt in ihren Ausführungen viele Zitate von Betroffenen. Sie hält fest, dass russische Juden sich mehrheitlich nicht in Deutschland zu Hause fühlen.

Der letzte Aufsatz ist erneut von Ingo Grabowsky und handelt von der Migration aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten ins Ruhrgebiet. Er beendet seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass Bosnier, Kroaten und Serben in Deutschland zumeist Erfolgsgeschichten schreiben und dass dadurch nicht nur die Zuwanderer selbst, sondern auch Deutschland bis heute insgesamt profitiert.

Der im zweiten Teil des Werkes befindliche Ausstellungskatalog ist analog zum Aufsatzteil in die verschiedenen Aspekte der osteuropäischen Migration ins Ruhrgebiet untergliedert. Im Zentrum der Ausstellung "Nach Westen" stehen Lebensgeschichten und Exponate der Zuwanderer. So werden je nach Thema verschiedene Alltagsgegenstände, Fotos und Dokumente, wie Anträge, Bescheinigungen, Führerscheine etc., ausgestellt. Der überwiegende Teil dessen ist auch im zugehörigen Ausstellungskatalog mit der entsprechenden Beschreibung abgedruckt. So werden vor allem die Alltagsgegenstände, die in der Regel bei nüchterner Betrachtung eher belanglos erscheinen, mit einer Bedeutung versehen. Beispielsweise beim Thema "Zuwanderer aus Polen" ist ein roter kleiner Rucksack mit der Aufschrift "Holidays" abgedruckt beziehungsweise ausgestellt. Der Rucksack gewinnt durch die nebenstehende Information, dass es sich um genau den Rucksack handelt, in dem ein elfjähriges Kind alles unterbringen musste, was es, um keinen Verdacht zu erregen, bei seinem illegalen Grenzübertritt aus Polen mit nach Deutschland nehmen konnte, deutlich an Beachtung. Des Weiteren werden sowohl in der Ausstellung auf großen Tafeln als auch im Katalog Lebensgeschichten von Zuwanderern mit einem zugehörigen Portraitfoto abgedruckt. So berichtet zum Beispiel der modern gekleidete junge Serbe Emir Hamidovic, dass er glaubt, dass er zwei Heimaten hat: Serbien und Deutschland. Vielfältige Identitäten und Einzelschicksale kommen je nach Thema in Wort und Bild zum Ausdruck. Jedes Kapitel verfügt zudem über einen kurzen Begleittext, der alltagsnah und sehr anschaulich geschrieben ist.

Die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Erläuterung der geschichtlichen und aktuellen Rahmenbedingungen der Einwanderung aus dem Osten im ersten Teil und persönlicher, subjektiver Darstellung der Perspektiven der Betroffenen im zweiten Teil gelingt "Nach Westen. Zuwanderung aus Osteuropa ins Ruhrgebiet" gut. Beide Teile sind auch getrennt voneinander gut lesbar und verständlich. Jeder einzelne Aufsatz kann für sich alleine stehen oder im Gesamtkontext gelesen werden. Der Sprachstil ist angemessen und auch für das inhaltliche Verständnis ist kaum Vorwissen vonnöten. Leider ergeben sich durch die Unabhängigkeit der einzelnen Teile beim Lesen des kompletten Werkes einige Wiederholungen.

Adressaten sind vor allem Ausstellungsbesucher, die zu Hause noch einmal ihre Eindrücke Revue passieren lassen oder einzelne Aspekte nachlesen wollen. Sowohl die wissenschaftlichen Aufsätze als auch im Besonderen der Ausstellungsteil sind ansprechend illustriert. Nicht nur dadurch, dass sich Studierende, welche zudem durch ihre eigene Betroffenheit hoch motiviert und sprachkompetent sind, aktiv in die Konzeption der Ausstellung einbringen konnten, wird ein lebendiges Bild von der Einwanderung und dem Alltag der Migranten geschaffen. Die Interviews zeigen die Vielschichtigkeit der Identitäten der Einwanderer auf. Zu beachten ist allerdings auch der Umstand, dass das Herausgreifen von Einzelschicksalen sehr subjektiv und unter Umständen nicht repräsentativ sein kann. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen fühlt man sich allein schon durch das Lesen beziehungsweise Betrachten des ganzen Werkes sehr persönlich von den Schicksalen der Zuwanderer angesprochen. Der Besuch der Ausstellung mag einen noch intensiveren Eindruck als das Buch hinterlassen, um einen umfassenden Einblick in die Thematik zu gewinnen, genügt jedoch bereits das Lesen des Werkes  "Nach Westen. Zuwanderung aus Osteuropa ins Ruhrgebiet".

Janike Wagener