Domenico Losurdo: Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute. Essen 2009. 191 S.

Verf. stellt die beiden revolutionären Prozesse in die fortwirkende Tradition der Emanzipationsbewegung der »Verdammten dieser Erde«, in die Tradition der Französischen Revolution und der ersten proletarischen Revolution, der Pariser Kommune von 1871. Flucht aus dieser Tradition wirft er einer politischen Strömung vor (in Italien z.B. Noberto Bobbio), die aus Verzweiflung und Mutlosigkeit nach dem Umbruch von 1989 in eine Art »Selbsthass der Linken« verfallen und besonders in Europa anzutreffen sei, zumal »der heutige Diskurs vom ›Scheitern‹ grob euro-zentrisch ist« (91).

Um einer materialistischen Bestimmung der Ursachen des Epochenumbruchs von 1989 näher zu kommen, prüft er zunächst drei immer wieder verwendete Begriffe auf Tragfähigkeit und Erkenntnisgewinn: Verrat, Scheitern, Niederlage. Verf. geht dabei der Frage nach, warum die chinesische Revolution überlebt und die russische eine Niederlage erlitten hat.

Verrat als Erklärungsmuster in der Tradition Trotzkis lehnt er ab, weil dieses – moralisierend, individualisierend und dabei beschränkt auf die politische Ebene – mehr verhüllt als erklärt: »Mit ihrem naiven Dogmatismus – die Bürokraten, die den Elan der Massen ersticken und die Revolution verraten, sind immer die anderen – [...] und mit ihrer universalen Anwendbarkeit auf die Krisenphänomene oder auf den Prozess der Konsolidierung und ›Bürokratisierung‹ einer jeden Revolution zeigt die Kategorie ›Verrat‹ ihre ganze Leere.« (93) Scheitern sei ein zu pauschaler Begriff, der präzise historische Erkenntnisse eher verhindert als befördert und damit keinen Lernprozess in Bezug auf zukünftige Sozialismus-Versuche ermögliche. Eine Niederlage habe es zweifellos gegeben; die Ursachen dieses gravierenden Rückschritts gilt es herauszufinden. Dazu vergleicht Losurdo die Geschichte der russischen Revolution – wie Perry Anderson (»Zwei Revolutionen«, Lettre International 89/2010) und Giovanni Arrighi (Adam Smith in Beijing, 2009) – mit der der chinesischen, die durch den Erfolg der Oktoberrevolution zumindest erleichtert wurde. Untersucht wird u.a. die Rolle der Bauern, der nationalen Frage sowie der Dauer und Tiefe der revolutionären Prozesse. Ein Unterschied sei z.B. die große Anzahl junger Kämpfer, die durch den Langen Marsch ihr Leben veränderten und nach der Befreiung als rote Kader zur Verfügung standen. Daneben haben auch Eigentümlichkeiten der chinesischen Kultur zum Erfolg beigetragen. Anders als z.B. Rudi Dutschke oder Michael Schneider (Das Ende eines Jahrhundertmythos, 1991) verwendet Verf. nicht den negativ besetzten Analyserahmen der »asiatischen Produktionsweise«. Seiner Ansicht nach stärkten die objektiven Bedingungen der chinesischen Geschichte die subjektiven Voraussetzungen revolutionärer Prozesse. »In der chinesischen Revolution nicht vorhanden, scheint die messianisch jüdisch-christliche Tradition, über zahlreiche Vermittlungen, in den emphatischen Erwartungen einer unmittelbaren Regeneration eine Rolle gespielt zu haben, die gelegentlich die russische Revolution begleite [...] Die KPCh erwartet sich dagegen von der Revolution die Widergeburt der chinesischen Nation und die Wiederaufnahme ihrer Entwicklung auf Gleichheitsbasis mit den anderen Nationen, nach einem kurzen und verhängnisvollen Intervall eines Jahrhunderts der Unterdrückung« (122).

Nach der Niederlage der Sowjetunion müsse Verf. zufolge grundsätzlich neu darüber nachgedacht werden, was unter Sozialismus bzw. Kommunismus zu verstehen sei. So mündete z.B. die These vom Absterben des Staates »in der eschatologischen Vision einer konfliktfreien Gesellschaft, die folglich auch keine juridischen Normen brauchte, um Konflikte zu begrenzen und zu regeln« (64). Die ›revolutionäre Ungeduld‹, die unmittelbar die Klassen, das Geld, den Staat, den Markt, die Nationen, die Religion, ja die Familie abschaffen wollte, habe das ganze Projekt gefährdet. Er plädiert daher für eine »Ent-Messianisierung des kommunistischen Projektes« (105). In diesem Zusammenhang betrachtet er die Wende 1978 zur ›sozialistischen Marktwirtschaft‹ als Ergebnis eines Lernprozesses der chinesischen Kommunisten, die er mit Lenins »Neuer ökonomischer Politik« nach dem Kriegskommunismus vergleicht. Diese Wende habe die Widersprüche, bes. die Klassenwidersprüche, in eine neue Phase transportiert, und so sei davon auszugehen, dass die Partei nach wie vor gespalten ist und mit den neuen Kämpfen um Löhne, Arbeits- und Wohnbedingungen und Landrechte eine neue Linke in der Gesellschaft entstanden ist. Die Traditionen der kollektiven Phase der chinesischen Revolution wirken fort, indem alle Reformen nur im Dialog mit der revolutionären Tradition durchgesetzt werden können. In kaum einem Land finden mehr soziale Auseinandersetzungen statt, nirgendwo gibt es mehr – teilweise sehr erfolgreiche – Streiks. Auch das sind Lernprozesse, die sich z.B. – auch gegen den Widerstand westlicher Investoren – im neuen Arbeitsgesetz und basisdemokratischen Experimenten (z.B. in Wukan seit 2011) manifestieren. »Nach der Lockerung des vom Imperialismus aufgezwungenen permanenten Ausnahmezustands und aufgrund eines Lernprozesses, der durch diese neue Situation erleichtert wird, reift in [...] China die theoretische Anerkennung des rule of law heran und es werden Anstrengungen unternommen, einen sozialistischen Rechtsstaat aufzubauen.« (112) Verf. analysiert allerdings nicht die Gefahren, die aus dem Wirken der Marktmechanismen in Form sich verschärfender sozialer Polarisierung, ökonomischer Krisen und ökologischer Desaster entstehen und von der neuen Linken in China heftig kritisiert werden. Zumindest die Finanzmärkte werden jedoch bisher erfolgreich politisch unter Kontrolle gehalten. Hinsichtlich der sozialen Spaltung und der ökologischen Probleme steigt das Problembewusstsein, z.B. zielt der neue Fünfjahresplan nicht mehr auf Beschleunigung des Wachstums, sondern auf Beschleunigung der Veränderung des Wachstumsmodells. Verf. konstatiert einen Lernprozess auf der Suche nach einer neuen, sozialistischen Moderne, in dem das kommunistische Projekt von seinen abstrakt utopistischen Komponenten befreit wird (113). Mit Verbitterung bedauert er, dass sich Linke »der von den USA geführten antichinesischen Kampagne anschließen«; stattdessen müssten »die Kommunisten« sich »rasch ihre Geschichte wieder aneignen« (44), zumal die andauernde Weltwirtschaftskrise ihrer Erfahrungen und Energien dringend bedarf. Der partielle Erfolg Chinas auf der Suche nach einer sozialistischen Moderne erschreckt mittlerweile so manche  neokonservative Intellektuelle, die schon das »Ende der Geschichte« ausgerufen hatten.
Peter Strotmann (Berlin)

Quelle: Das Argument, 54. Jahrgang, 2012, S. 312-314