Axel Borsdorf und Oliver Bender: Allgemeine Siedlungsgeographie. Wien, Köln, Weimar 2010. 459 S.
Der umfassende, weit ausholende Band geht von einem (etwas antiquierten?) "Verständnis des Siedlungsraumes" aus, den die Verfasser "ganz im Sinne der klassischen Siedlungsgeographie als Einheit" auffassen (S. 19). Die entscheidende konzeptionelle Frage ist die nach dem Gelingen der "Wiedervereinigung" der - gerade auch nach den aktuellen Lehrbüchern - international längst getrennten Stadtgeographie und der Geographie der ländlichen Siedlungen (oder des ländlichen Raumes). Die spätere Aussage, dass "im Folgenden die Siedlungsgeographie nicht mehr gegliedert, sondern der Siedlungsraum in seiner Komplexität integrativ dargestellt" wird (S. 34), erscheint schon bei einem Blick auf das Inhaltsverzeichnis kaum als zutreffend: Es überwiegt die eher additive Folge von Strukturelementen/-formen der Städte und ländlichen Siedlungen und von wichtigen historischen wie rezenten siedlungsgeographischen Prozessen.
Das Buch wendet sich an Studierende und Lehrende (enthält es für diese Neues?) der Siedlungsgeographie (S. 20). Dabei sollen die Kapitel 1-5 und 7 die Bedürfnisse der Bachelor- und Lehramtsstudierenden weitgehend abdecken. Danach würden die ländlichen Siedlungen (Kap. 3-5) nur in dieser Studienphase behandelt. Der zweite Teil (Kap. 6, 8-12), "aktuelle Fragestellungen ..." darstellend, wendet sich ... mehr an die Studierenden und Lehrenden (?) in Masterstudiengängen" (S. 20). Aber werden Themen wie Suburbanisierung, Segregation und Fragmentierung, Stadtschrumpfung, Stadterneuerung, Gentrifizierung, Reurbanisierung etc. (Kap. 6) nicht schon in den Bachelor-Studiengängen der Geographie behandelt? Gleiches gilt für das Modell der Zentralen Orte, für Stadtplanung, Dorferneuerung, Stadtmarketing (Kap. 9), die vielleicht nicht Themen siedlungs-/stadtgeographischer, sondern eher speziellerer anderer Veranstaltungen darstellen, oder für "die Stadt in Kulturräumen" (Kap. 10).
Die ländlichen Siedlungs- und Flurformen sowie die Siedlungsgenese sind auf Unterkapitel (innerhalb der Kapitel 3-5) beschränkt, erscheinen allerdings solide-kompakt strukturiert und können - bei starker Betonung der historisch-genetischen Aspekte - gewissermaßen als klassisch angesprochen werden (u.a. Landnahmezeit und früher Ausbau, Ostkolonisation, Wüstungsperiode). Mit Ausnahme der Ausführungen zum Siedlungsraum (Kap. 3) liegt dabei der Schwerpunkt eindeutig auf Mitteleuropa, speziell auf Deutschland und Österreich, was für eine "Allgemeine Siedlungsgeographie" eine Einschränkung bedeutet. Vergleichbares ist für die Kapitel über die städtischen Siedlungen zu konstatieren. In den Kapiteln 4 und 5 wechseln sich Unterkapitel über ländliche und städtische Siedlungsformen ab, z.B. Ländliche Hausformen in Mitteleuropa - Aufriss und Bausubstanz in Städten, Grundrisstypen ländlicher und städtischer Siedlungen oder (ländliche) Siedlungsgenese - Stammbaum der mitteleuropäischen Stadt. Ist das Ausdruck der (geglückten?) Lehrbuchkonzeption, die Strukturen und Prozesse des gesamten Siedlungsraumes integrativ darzustellen?
Die der Stadt und dem Stadtumland gewidmeten Kapitel nehmen den weitaus größten Teil des Bandes ein. In diesem Kontext kommt der Einführung (Kap. 1) eine besondere Bedeutung zu, werden doch hier die Postsuburbia als "die (siedlungsgeographische, G.M.) Herausforderung des 21. Jahrhunderts" angesprochen, wobei die "Städte nicht mehr ‚Kontinente' (?) bilden, sondern ‚Archipele'" (S. 28) oder "Siedlungsarchipele" (S. 23). Hier muss die Frage nach dem Inhalt bzw. der Aussagekraft dieser Begriffe erlaubt sein: Archipel (sprachlich-terminologisch meistens für "Inselschwärme" benutzt; Leser 1997, 45) könnte symbolisch die neue, aus mehreren "Inselgruppen" bestehende Stadtlandschaft abbilden (Kernstadt, Suburbia, Postsuburbia etc.), wobei sich dann allerdings die Frage nach der Verbindung zwischen diesen "Inseln" stellt; aber die "Stadt als Kontinent"?
Ein zentraler Ausgangspunkt für die Argumentation und Interpretation von Borsdorf/Bender ist die Ablösung des Land-Stadt-Gegensatzes in den "modernen Industriestaaten der sog. Ersten Welt" (und was ist mit den anderen Industriestaaten bzw. vielen Regionen der Dritten Welt?) durch ein Stadt-Land-Kontinuum (fließender Übergang)" (S. 34), d.h. ein immer weiteres Ausgreifen städtischer Kriterien/Elemente in das bis dahin agrare Umland, verbunden mit einer immer stärkeren Über-/Umformung ländlicher Siedlungsstrukturen und der Ansiedlung neuer sekundärer wie tertiärer/quartärer Nutzungsformen. Und wenn schon einleitend - und später wiederholt - von einem "rurbanen Archipel" (?) oder einem "engen Stadt-Land-Verbund" (S. 18), von einem "fließenden Übergang von Land zu Stadt" (S. 27) oder von "einer Vermischung des Städtischen und des Ländlichen" (S. 26) gesprochen wird, so sollte gleich klar herausgestellt werden, dass dieses z.B. in Deutschland - unter Verweis auf die Karte der siedlungsstrukturellen Kreistypen (Abb. 7-5, S. 253) - für die Agglomerations- und verstädterten Räume gilt, nicht aber für die ländlichen Räume und einen Großteil der ländlichen Kreise. In diesem Zusammenhang wird der Hinweis vermisst, dass in weiten Teilen Europas und erst recht in den Ländern der Dritten Welt, selbst in dem - statistisch gesehen - am stärksten verstädterten Lateinamerika (S. 332) eindeutig die Kategorie "ländlicher Raum" dominiert.
Noch einmal zurück zu Kap. 1, wo bereits die Kritikpunkte auftreten, die mit wechselnder Frequenz für viele Kapitel - mit Ausnahme derjenigen über die ländlichen Siedlungen - als charakteristisch bezeichnet werden können: (Flüchtigkeits-?)Fehler, fragwürdige Interpretationen, unterlassene oder unzureichende Recherchen und demzufolge ungenaue Darstellungen bzw. Schlussfolgerungen. Das beginnt gleich auf der ersten Seite der Einführung:
* "Längst hat die zentripetale Funktionswanderung auch den sekundären Sektor, insbesondere aber den hochrangigen tertiären und quartären Wirtschaftssektor erfasst" (S. 25). Hier handelt es sich (a) um eine zentrifugale Verlagerung/Wanderung und (b) um die hochrangigen Bereiche/Teile des tertiären Sektors.
* "Die Suburbanisierung war hingegen durch Betriebsverlagerungen aus der Kernstadt in die Randzone charakterisiert" (S. 25). Aber tragen oft nicht Neugründungen bzw. Verlagerungen von außen in die Randzonen viel stärker zur Suburbanisierung des sekundären, vor allem aber des tertiären und quartären Sektors bei als die Verlagerungen aus der Kernstadt?; vgl. Gaebe (1987, 45, 113; 2004, 63); Heineberg (2006, 56, 187).
* Die Übernahme des in den USA gebräuchlichen Terminus Postsuburbanisierung für die Entstehung städtischer Strukturen und Funktionen weit vor den Kernstädten, verbunden mit der Entwicklung sogenannter Edge Cities, wird zwar für Europa "als problematisch angesehen". Gleichzeitig wird aber am Beispiel der "General Leaded Area" (?) der Vösendorfer Shopping City Süd, die aber schon ca. 1 km südlich der Stadtgrenze Wiens beginnt (!), postuliert, dass "diese die Vorgaben der Edge City-Definition" bereits übertrifft (S. 25). Verbietet nicht alleine schon der Standort dieser Shopping City, hier von einer Edge City zu reden?
* Dazu noch eine Anmerkung: Borsdorf/Bender zitieren auf derselben Seite Garreau (1991), nach dessen Definition eine nordamerikanische Edge City u.a. mindestens 460.000 m² Bürofläche und 24.000 Arbeitsplätze aufweisen sollte. Die Vösendorfer Shopping City Süd hat demgegenüber nur eine ausgesprochen minimale Bürofläche und zählte 2009 nur ca. 4.500 Beschäftigte (www.scs.at/W/do/centre/facts_figures; aufgerufen: 22.08.11), erfüllt also damit keineswegs die Edge City-Kriterien.
* Abschließend: Abb. 1-1 (S. 27) zeigt nicht "verschiedene Strukturmodelle der Stadt". Wohl beinhaltet sie einige davon (Bandstadt, "zerstreute Stadt"?), zeigt aber vor allem städtische Siedlungssysteme (Zentrale Orte, Stadtregion, "Fingerstadt" u.a.).
Diese für das Einleitungskapitel beispielhaft zusammengestellte, unvollständige Monitaliste könnte auch für die Mehrzahl der anderen Kapitel vorgelegt werden. Jedoch kommt zu den genannten Kritikpunkten ein weiterer, m.E. in z.T. eklatanter Form. Dieser bezieht sich auf Vorstellungen/Standpunkte der Autoren bezüglich bestimmter siedlungs-, speziell stadtgeographischer Sachverhalte, d.h. wie diese aufgefasst, z.T. unter Vernachlässigung bekannter wissenschaftlicher Fakten dargestellt, miteinander in Beziehung gesetzt und interpretiert werden. Signifikante Beispiele stellen verschiedene, z.T. ambivalente Ausführungen zur Sub-/Postsuburbanisierung dar, zum Urban Sprawl, zur Segregation und Fragmentierung, aber auch zur Regionalstadt oder zu einigen "aktuellen Forschungsfeldern der Geographie" (Kap. 11). Ebenfalls gilt das für mehrere, überwiegend selbst entworfene bzw. zusammengestellte Modelle und Tabellen, z.B. zum Vergleich von Suburbia und Postsuburbia (Tab. 6-1), für das Modell der postmodernen Stadtlandschaft (Abb. 6-1) oder die Matrix der Terminologie des Urban Sprawl (Tab. 6-2). - Als pars pro toto sollen diese Kritiken an einigen Beispielen erläutert/diskutiert werden, was damit auch den Wert gewisser Teile dieses Bandes dokumentiert.
Zunächst noch einmal zur Differenzierung von Sub- und Postsuburbanisierung: Den ersten Prozess wollen die Verfasser aus terminologischen Gründen nur auf die "Wohnquartiere der Vororte" beziehen (S. 169); die "Suburbia" hatten zunächst "die klare Funktion eines als "Schlafstadt" (= Großwohnsiedlung ?, G.M.) fungierenden Komplementärraumes für den Stadtkern" (S. 146); ihnen kommt nur die Wohnfunktion zu (Tab. 6-1); vgl. aber dagegen die Definitionsmerkmale für die Suburbanisierung bei Gaebe (2004, 62ff.) und Heineberg (2006, 56ff.). Die Postsuburbia stellen eine "neue Raumkategorie mit städtischen und ländlichen Funktionen" dar (Tab. 6-1), durch nebeneinander stehende Einfamilien- wie Appartementhäuser gekennzeichnet (S. 150). Treten aber gerade Einfamilienhaussiedlungen nicht auch in großer Zahl im suburbanen Raum auf? Ebenfalls soll aus terminologischen Gründen (?) die "Außenverlagerung der Industrie und des Handels", gewöhnlich als Suburbanisierung des sekundären und tertiären Sektors dargestellt (Gaebe 2004, 63f., 182ff.; Heineberg 2006, 44f.), als Postsuburbanisierung bezeichnet werden (S. 169).
Ferner (unter Bezug auf Tab. 6-1 und Kap. 6.1.1, 6.1.2): Sind (nur) junge Familien der Mittel- und Unterschicht typisch für die Suburbia und sind (wirklich) "alle Sozialschichten" in den Postsuburbia vertreten? Gibt es eine "ausgebaute und spezialisierte Einkaufs- und Freizeitstruktur" sowie Arbeitsmöglichkeiten erst in den Postsuburbia, nicht auch schon in erheblichem Umfang in den Suburbia? Diese (und auch andere) Passagen wirken vielfach wie eine nicht selbstkritisch hinterfragte Aneinanderreihung (oft ist es auch ein Durcheinander) von Schlagworten und Allgemeinplätzen und eine z.T. unzutreffende Beschreibung von Prozessen, wobei konkrete Beispiele regelrecht Mangelware darstellen. Stattdessen finden sich unzureichend erklärte Modelle, z.B. das der postmodernen Stadtlandschaft (Abb. 6-1). Hierbei füllen, ohne entsprechende Kriterien bzw. Prozesse aufzuzeigen, periurbane Strukturen (?) größtenteils den Raum zwischen Suburbia und Postsuburbia aus.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Zweifellos gibt es postsuburbane Elemente, Strukturen und Funktionen. Aber diese müssen - gerade in einem Lehrbuch - deutlich herausgearbeitet/identifiziert, definiert/terminologisch fixiert und an Beispielen dokumentiert werden, sehen doch auch die Verfasser die "Schaffung einer exakten Terminologie" als eine "Hauptaufgabe der Siedlungsgeographie" an (S. 30). In diesem Zusammenhang reichen Hinweise auf z.T. spektakuläre Ausdrücke nicht aus, wie z.B. auf den der "pepperoni-pizza cities für multi-nucleated metropolitan regions", der "auf die einer belegten Pizza ähnliche Fragmentstruktur der neuen Kulturlandschaften" hindeuten soll (S. 24/25).
Einen weiteren Kritikpunkt stellt der Rückgriff auf bzw. das Zitieren von/aus Publikationen dar, um bestimmte Prozesse zu belegen, die aber dort nicht oder in einem anderen Zusammenhang angesprochen sind. So wurden z.B. in einem EU-finanzierten Forschungsprojekt zu sieben europäischen Agglomerationen in sechs davon - nach der Bebauungsdichte - neben der inneren Stadt (core city), dem urbanen Kernraum (rest of the core city) und dem suburbanen Gürtel (suburban belt) noch in einem Abstand von maximal 10 km zum suburban belt eine Randzone (fringe) definiert, "um der Tendenz zur fragmentierenden Raumentwicklung mit ihren neuen post-suburbanen Zentren gerecht zu werden" (S. 260), wobei als Referenz Pöckl et al. (2003) angegeben ist. Nur: Der zitierte Artikel bezieht sich auf Wien, für die - als einzige Agglomeration in diesem Kontext - keine Randzone definiert wurde; die Bezeichnungen fringe, fragmentierte Raumentwicklung und post-suburbane Zentren tauchen in dem genannten Artikel überhaupt nicht auf! Das zweite Beispiel in diesem Kontext betrifft die soziale Fragmentierung in Städten der verschiedenen Kulturräume. Für Lateinamerika wird dazu pauschal angeführt, dass "die Ober- und Unterschicht durchaus eine räumliche Nähe suchen, da sie ... in vielfältigen sozioökonomischen Beziehungen zueinander stehen (Hausangestellte, persönliche Dienstleistungen u.a.)"; S. 193. Die zitierte Autorin Galleguillos A.-Schübelin (2006) hat das für ein Armenviertel in der comuna Peñalolén/Santiago de Chile untersucht, jedoch auf die Entstehung von "Orten der Begegnung" oder "neutralen Räumen" in der Nachbarschaft zu traditionellen Unterschichtvierteln (poblaciones) hingewiesen, die neue Möglichkeiten für eine soziale Integration bieten. Von dem Beispiel eines Armenviertels bzw. vergleichbaren Vierteln in Santiago de Chile wird auf entsprechende Prozesse in den (= allen?) lateinamerikanischen Städten geschlossen!
Ein weiteres Merkmal stellt die m.E. unreflektierte Tradierung von Ungenauigkeiten, z.T. auch von Fehlern, aus eigenen, älteren Publikationen dar, was u.a. die folgenden Beispiele belegen:
* Nach dem erstmals von Borsdorf 1982 in dieser Form vorgestellten "Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung" (S. 500) sowie bei den später publizierten, z.T. modifizierten Formen desselben weist die lateinamerikanische Stadt schon in der Kolonialzeit (1500-1820; Abb. 10-3) eine City auf! An anderer Stelle wird aber richtig ausgeführt, dass der im Deutschen verwendete Citybegriff sich von der (Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen) City of London ableitet (S. 243). Wie passt das zusammen?
* Unter Verweis auf Borsdorf (2001) wird - analog zur sozialistischen Stadt bzw. -planung in der ehemaligen Sowjetunion und den COMECON-Staaten - herausgestellt, dass die kubanischen Städte "ebenfalls große Magistralen und Plätze aufweisen" (S. 321). Nur: Die unter Fidel Castro in Plaza de la Revolución umbenannte "Plaza Cívica" (Bürgerplatz) wurde mitsamt den anliegenden repräsentativen Gebäuden schon 1952-1958 unter dem Diktator Fulgencio Batista als monumentales Statussymbol erstellt! Die Eröffnung der Plaza Cívica fand bereits 1953 statt; dann folgten 1953 die Bauten des Innenministeriums, 1955 des Kommunikations-, 1957 des Justizministeriums, 1957 die Nationalbibliothek, 1958 das Nationaltheater und der 130 m hohe Martí-Obelisk. Die beiden auf die Plaza Cívica führenden "Magistralen" (= Avenidas) sind als Ausfallstraßen sogar noch einige Jahrzehnte älter (Cieri 2001, 13, 16; Hofer 2007, 49, 50).
* Mit Bezug auf Kuba erscheint eine andere (nicht belegte!) Aussage mehr als zweifelhaft: "Fußend auf den Aussagen der Dependenztheorie, wonach Städte als Brückenköpfe des globalen Kapitalismus dienen, wurde die städtische Entwicklung ... bewusst vernachlässigt, so dass es zu starken Verfallserscheinungen in den Altstädten (und nicht nur dort; G.M.) kam" (S. 331). Hier ist wohl übersehen worden, dass die originäre lateinamerikanische Literatur zur Dependenztheorie (u.a. F.H. Cardoso, A. Córdova, A.G. Frank, C. Furtado, H. Jaguaribe, T. dos Santos, R. Stavenhagen, O. Sunkel) frühestens ab Mitte der 1960er Jahre (meistens 1967-1969/70) erschienen ist (Senghaas 1972, bes. 390ff.; Nitsch 1986, 231ff.). Zu diesem Zeitpunkt bestand das sozialistische Kuba schon fast zehn Jahre und war der erste Generalplan für die nationale, ökonomische und räumliche Planung längst, d.h. seit 1963, in Kraft! Eine dependenztheoretische Beeinflussung der kubanischen Planung ist m.W. bis jetzt nirgends nachgewiesen.
* Basierend auf den Publikationen von Wilhelmy (1952, S. 85) und Wilhelmy/Borsdorf (1984, 57f.) wird ausgeführt, dass im "spanischen Kolonialreich der Neuen Welt die Schachbrettgrundrisse auf die Wiederentdeckung der Schriften des römischen Stadtbaumeisters Vitruvius Pollio in der Renaissancezeit zurückgehen", die "den städtebaulich unerfahrenen Konquistadoren auf der Grundlage einer königlichen Generalinstruktion die einfache und erfolgreiche Anlage von Städten" ermöglichten (S. 86). Dabei werden neuere Forschungsergebnisse, zusammengefasst bei Bähr/Mertins (1995, 13, 14) übersehen: Den städtebaulichen Schriften des Vitruvius Pollio kam frühestens - wenn überhaupt - ab 1956 Einfluss auf die königlichen Anordnungen (ordenanzas) für die Städteneugründungen zu. Allerdings wurden sie dann 1573 z.T. wörtlich in die Anordnungen über die Siedlungsneugründungen etc. Philipps II. aufgenommen. Jedoch war zu dieser Zeit die Hauptphase der hispanoamerikanischen Stadtgründungen bereits vorbei und der Schachbrettgrundrisse gut ausgebildet!
Ferner wäre es insgesamt sehr wünschenswert gewesen, zur Absicherung gerade fundamentaler Aussagen die Originalquellen/-literatur heranzuziehen anstatt diese nur zu zitieren bzw. im Literaturverzeichnis anzuführen. Ein sehr signifikantes, aber keinen Einzelfall darstellendes Beispiel sind die einleitenden Ausführungen zur "Global City Theorie" (Kap. 8.5): "Friedmanns world city hypothesis, veröffentlicht 1986, basierte auf dem Studium der Destinationen von Japan Airlines (vgl. dazu Abu-Lughod 1989). ... Aufgrund der von ihm verwendeten Basiskarte liegen die Weltstädte höchster Kategorie im Pazifischen Raum (Tokio, Singapur und Los Angeles), die Städte der amerikanischen Ostküste oder Europa rangieren dagegen auf tieferen Rangstufen (S. 275). Dazu ist festzustellen:
* Abu-Lughod bezieht sich auf Friedmann/Wolff (1982; sie gibt 1980 an!) und führt aus: "Significantly, Friedmann and Wolff mapped their "world cities" using a base map provided by the Japan Airlines" (1989, 32). Nur findet sich bei Friedmann/Wolff (1982) weder ein Hinweis auf die angebliche Karte der Japan Airlines noch eine Karte der "world cities". Hier irrte also Abu-Lughod bzw. hatte die entsprechende Quelle nicht genau gelesen und Borsdorf/Bender haben den Fehler aus einem in diesem Kontext eher marginalen Buch übernommen anstatt einen Blick in das Original zu riskieren.
* In dem zitierten Aufsatz Friedmanns taucht unter den Auswahlkriterien für die Hierarchie der Weltstädte der Indikator "Internationale Flughäfen" nicht auf, geschweige denn die "Destinationen von Japan Airlines", wohl aber - ohne das weiter auszuführen bzw. zu kommentieren - "major transportation node" (Friedmann 1986, 320). In der dort veröffentlichten Tabelle und Figur zur Hierarchie der Weltstädte finden sich in der "Primary"-Kategorie der "Core countries" New York, Chicago, Los Angeles, London, Paris, Tokio, aber auch Frankfurt, Rotterdam und Zürich, während z.B. Singapur mit Sâo Paulo als einzige Städte in der "Primary"-Kategorie der "Semi-periferal countries" angeführt sind (Friedmann 1986, 320f.). Also liegen die Weltstädte höchster Kategorie überwiegend doch an der Ostküste Nordamerikas und in Europa (vgl. auch Friedmann 1995, 24).
Diese Vorgehens-/Arbeitsweise kann durchaus als wissenschaftlich unsauber bezeichnet werden, gerade bei einem Lehrbuch der Allgemeinen Siedlungsgeographie auch als unseriös, vermittelt sie doch den Studierenden sachlich unzutreffende Tatbestände, was zu Verwirrungen und falschen Vorstellungen führt.
Angesichts des voluminösen Bandes und der Intention der Verfasser, den Siedlungsraum mit seinen Strukturen und Funktionen umfassend darzustellen, was sich in der Gliederung widerspiegelt, sei abschließend die Frage gestellt, ob weniger, d.h. eine inhaltliche Beschränkung, nicht "mehr" gewesen wäre? So nimmt z.B. die "Angewandte Siedlungsgeographie" (Kap. 9; u.a. Stadtplanung, Dorferneuerung, Stadtmarketing) einen breiten Raum mit z.T. sehr differenzierten Darstellungen ein, wobei der eindeutige Fokus jedoch auf der Bundesrepublik Deutschland liegt. Zwar erscheinen mehr generelle Ausführungen zur Entwicklung, den Aufgaben, der Konzeption und den Instrumenten der Stadtplanung durchaus wichtig, aber hier handelt es sich um eine längst eigenständige Disziplin. Zudem wird an fast allen Geographischen Instituten in Deutschland das Thema Stadtplanung in eigenen Veranstaltungen, z.T. innerhalb des umfassenderen Themas "Raumordnung und Raumplanung", behandelt. Die Frage nach dem "weniger" tritt aber unweigerlich auch bei den z.T. geolyrischen Passagen über Symbole und symbolische Elemente in der Siedlung auf (Kap. 11.3.2; 11.3.3), die in Aussage und Auslegung eben oft fragwürdig und zudem in diesem Kontext überflüssig erscheinen.
Fazit: Die eingangs herausgestellte Intention der Verfasser, den Siedlungsraum "in seiner Komplexität integrativ" darzustellen (S. 34), stellt zweifellos ein zu hohes, aber nicht erreichtes Leitziel dar. Stattdessen bietet der auf den ersten Blick vielversprechende Band eine stark additive Darstellung bestimmter siedlungsgeographischer Bereiche, die mit vielen (nur beispielhaft aufgezeigten) Mängeln bzw. Unzulänglichkeiten behaftet ist. Es ist oft schon peinlich festzustellen, mit welcher wissenschaftlicher Sorgfalt bei der Abfassung von (vielen) Teilen dieses anspruchsvoll sein wollenden Lehrbuches vorgegangen wurde, das z.T. irreführende Vorstellungen bzw. falsches Wissen (gerade den Studierenden!) vermittelt.
Das "Normale" einer Lehrbuchrezension ist, dass nach den inhaltlich-sachlichen Kritiken am Ende meistens qualitativ differenzierte Empfehlungen für den "Adressatenkreis" folgen. Hier ist es eher umgekehrt: Bevor das Werk als Lehrbuch empfohlen werden kann, erscheint - mit Ausnahme einiger Kapitel bzw. Unterkapitel - eine grundlegende Überarbeitung bzw. Revision unumgänglich.
Günter Mertins
Literatur
Abu-Lughod, J. L. (1989): Before European hegemony: the world system A.D. 1250-1350. New York, Oxford.
Bähr, J. und Mertins, G. (1995): Die lateinamerikanische Großstadt. Erträge der Forschung 288. Darmstadt.
Borsdorf, A. (1982): Die lateinamerikanische Großstadt. Zwischenbericht zur Diskussion um ein Modell. In: Geogr. Rundschau 34, 498-501.
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Friedmann, J. (1986): The world city hypothesis. In: Development and Change 17.1, 59-83; zitiert nach dem Nachdruck in: Knox, P. L. und Taylor, P. J. (Hg.) (1995): World cities in a world-system. Cambridge NY, 317-331.
- (1995): Where we stand: a decade of world city research. In: Knox, P. L. und Taylor, P. J. (Hg.) (1995): World cities in a world-system. Cambridge NY, 21-47.
Friedmann, J. und Wolff, G. (1982): World city formation: an agenda for research and action. In: International Journal of Urban and Regional Research 4, 309-343.
Gaebe, W. (1987): Verdichtungsräume. Strukturen und Prozesse in weltweiten Vergleichen. Stuttgart.
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Quelle: Erdkunde, 65. Jahrgang, 2011, Heft 4, S. 415-419
vgl. auch die Rezension von Winfried Schenk
http://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1756-allgemeine-siedlungsgeographie
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