Thomas Dörfler: Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989. Bielefeld 2010. 332 S.
Der Titel der Dissertation von Thomas Dörfler mag bei manchem potentiellen Leser Abwehrreaktionen hervorrufen: eine weitere Studie zu Gentrification-Prozessen in Prenzlauer Berg? Doch - dies sei vorweggeschickt - die Lektüre lohnt! Bevor man jedoch etwas über Gentrification-Prozesse in Prenzlauer Berg erfährt, widmet der Autor beinahe ein Drittel seiner Arbeit der Theoriedebatte über den Spatial Turn und relationale Raumkonzepte in der Humangeographie und den Sozial- und Geisteswissenschaften.
Falls man einen Überblick über die aktuelleren Debatten bekommen möchte, ist dieser differenzierte Theorieteil absolut lesenswert, wobei nicht alles zwingend zur Einbettung oder als Begründungszusammenhang für den empirischen Teil notwendig gewesen wäre. Thomas Dörfler konzipiert sein eigenes Projekt schließlich - wohl begründet - als eine Erweiterung der relationalen Raumsoziologie nach Martina Löw durch einen milieutheoretischen Ansatz, durch den gruppenspezifische relationale Sozialräume sichtbar gemacht werden können. Auf dieser Basis entsteht ein hermeneutisch-rekonstruktives, ethnographisches Forschungsdesign, das auf dem Alltagswissen früherer und heutiger Bewohnergruppen mit DDR- oder West-Biografie in Prenzlauer Berg aufbaut. Durch seinen lebhaften, aber immer präzisen Argumentationsstil wird das Buch gerade im empirischen Teil zu einer anregenden Lektüre. Dies liegt auch daran, dass der Autor seinen Interviewpartnern, mit denen er narrative Interviews geführt hat, in den Auswertungspassagen gebührenden Raum lässt und die Gespräche behutsam und sehr systematisch analysiert. Die am Gentrification-Prozess beteiligten Milieus werden detailliert rekonstruiert und typisiert: So gab es schon zu DDR-Zeiten "Insider" ("Ost-Alternative" und "Ost-Literaten") sowie Outsider ("DDR-Bürger"), aber keine homogene "Szene" im "westlichen" Sinne. Nach 1989 kamen die Gruppen der "West-Alternativen" und später der "Studenten" hinzu, die bereits große soziokulturelle Unterschiede zu den "Ost-Alternativen" aufwiesen. In den 1990er Jahren erlangte dabei der öffentliche Raum eine völlig neue Bedeutung (Stichwort "Kneipen-dynamik"): Er wurde zunehmend durch westliche Wahlmilieus besetzt, die den "ost-alternativen" Wohnmilieus entgegenstanden. In der Folgezeit beanspruchten immer mehr "Kreative" bzw. "Bobos" (Bourgeoise Bohemiens) und "LOHAS" (Lifestyles of Health and Sustainability) das Terrain, eine Entwicklung, die noch im Gange ist. Zwar werden hier de facto Invasions- und Sukzessionswellen à la Chicago School beschrieben. Jedoch wird dabei ein relationales Bild eines Quartiers gezeichnet, das durch verschiedene, zum Teil sehr widersprüchliche Milieus, deren Deutungsmacht und zugehörige Sozialräume innerhalb administrativer und alltäglicher Abgrenzungskonstrukte ("Prenzlauer Berg", "LSD"-Viertel etc.) geprägt ist. Besonders deutlich werden dabei gruppenspezifische Distinktionslogiken und Entfremdungen herausgearbeitet. Die Studie verweist viel weniger auf ökonomische als auf symbolische Komponenten der Verdrängung - eine lebensweltliche Perspektive auf Gentrification, die durchaus provoziert: Inwieweit werden hier überhaupt die "richtigen Akteure" der Verdrängung adressiert? Wo kommen die "Strippenzieher" ins Spiel? Thomas Dörfler versteht seine Arbeit jedoch als eine Ergänzung zu den von ihm ebenfalls als wichtig erachteten materialistischen und politisch-ökonomischen Ansätzen. Ob "Verdrängung [...] vielleicht sogar vorrangig aus dieser [symbolischen, OS] Perspektive erklärt werden muss" (S. 312), sei einmal dahingestellt. Im Sinne einer multiperspektivischen Forschungslandschaft ist hier aber ein fehlender Mosaikstein hinzugefügt worden, der Gentrification - aus einer Innenperspektive - besser verstehbar macht. Fazit: Für Berlinkenner ist das Buch nicht zuletzt auch ein spannender Fundus von Zeitzeugen-Aussagen, die sehr systematisch und im Detail aufbereitet werden. Phasenweise geht die Arbeit deutlich über das Thema Gentrification hinaus und liest sich wie eine Kulturgeschichte der DDR oder Ostberlins der 1980er Jahre. Für Gentrification-Interessierte stellt die Arbeit eine gehaltvolle Alternative zu sonstigen, manchmal auch eindimensionalen Erzählungen über den Quartierswandel dar und kann als Anregung für weitere Studien dieser Art dienen.
Olaf Schnur (Tübingen)