Peter Dirksmeier: Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land. Bielefeld 2009. 296 S.

Die Publikation von Peter Dirksmeier befasst sich mit der These von der mehr oder minder vollständigen Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaften in entwickelten Ländern. Die Ubiquität städtischer Lebensweisen ist in der jüngeren Vergangenheit wiederholt thematisiert worden, etwa im Kontext der Diskussion um eine postmoderne Urbanisierung; sie wurde neben anderen Autoren beispielsweise von Soja (2000) sehr dezidiert vertreten.

Diese These ist zweifellos auch heute noch relevant, wo das sehr wirkmächtige Bild einer urbanen Renaissance unvermittelt neben einer scheinbar neuen Attraktivität des Lebens auf dem Lande steht. In einer sehr ambitionierten, theoretisch anspruchsvollen und methodisch originellen Arbeit, die zugleich als Dissertationsschrift an der Universität Bremen eingereicht wurde, geht der Autor den Fragen nach, wie zutreffend diese These ist und worin sie sich mit Blick auf Einstellungen und Handeln der Beteiligten äußert.

Hauptbezugspunkt des theoretischen Entwurfs der Arbeit ist das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu, das der Autor auf den Gegenstand der Urbanisierung anwendet. Mit Urbanisierung ist hier die "Diffusion von habitueller Urbanität in nicht-städtische Räume" gemeint; der Habitus fungiert dabei als "Kopplungsmechanismus" zwischen der Stadt und ihren physisch-materiellen Phänomenen einerseits und den Einstellungen und Aktivitäten der Handelnden andererseits. Mithilfe dieses sozialtheoretischen Konstrukts werden urbane Eigenschaften in der Bevölkerung des ländlichen Raums gesucht, um den Grad der Stadt-Land-Differenz in der Gegenwartsgesellschaft zu bestimmen.

Die Arbeit ist sehr übersichtlich in drei große Abschnitte gegliedert, die sich mit Theorie, Methodologie und Empirie befassen. Abschließend wird in einem Resümee auf die Ausgangsfrage eingegangen. Den weitaus größten Teil der Arbeit nimmt der Theoriebereich ein, in dem aktuelle Urbanitätsdiskurse sowie die begrifflichen Grundlagen zu Urbanität bzw. habitueller Urbanität vorgestellt werden. Der nächste Abschnitt dient der Präsentation der empirischen Untersuchungsmethode, der so genannten reflexiven Fotografie, die angelehnt ist an das Bourdieu'sche Verfahren der fotografisch-semiotischen Bildanalyse. Beim ausgewählten Verfahren werden den Probanden Einmal-Kameras übergeben, mit denen sie Fotos zu vorher vereinbarten Themenkomplexen aufnehmen. Anschließend wird ein vertiefendes Interview über diese Fotos, ihre Interpretation und Deutung durch die Beteiligten geführt. Zentrale Auswertungskriterien sind hier: die Assoziation mit Stadt, die Lage von Kontingenzräumen (Wahrnehmung von Situationen als riskant oder chancenreich), residenzielles Kapital als vor Ort gebundenes Sozialkapital sowie habituelle Urbanisierung. Im dritten Abschnitt der Arbeit werden die empirischen Untersuchungsergebnisse vorgestellt, die in zwei ländlichen Gemeinden des südlichen Bayern gewonnen wurden: in Bodolz im Landkreis Lindau/Bodensee sowie in Tegernsee im Landkreis Miesbach. Es handelt sich bei beiden Gemeinden um Orte in einer Größenordnung von bis zu 5.000 Einwohnern - dieser Wert wird als Schwellenwert einer Siedlung angesehen, unterhalb dessen sich die Bewohner noch, theoretisch, kennen. Beide Orte sind landschaftlich reizvoll gelegen bzw. ausgestattet; sie entsprechen insofern dem berühmten Bild des "Arkadien", das als Prototyp der szenischen Landschaft im naturnahen Raum gilt. Aufgrund des hohen Urbanisierungsdrucks lassen sich Stadt-Land-Gegensätze in den arkadischen Landschaften besonders gut untersuchen. Die Befunde aus den beiden Untersuchungsorten wurden anschließend mit Erhebungen in München verglichen.

Als Ergebnis der Untersuchung stellt der Autor fest, dass sich eine habituelle Urbanisierung der beiden Orte zweifelsfrei belegen lässt und folglich von einer Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft als solcher auszugehen ist. Es lassen sich zwar mit Blick auf die Untersuchungskategorien Unterschiede in Bezug auf die Urbanisierung ausmachen. Diese seien jedoch praktisch nur noch marginal und lassen es nicht mehr sinnvoll erscheinen, von ausgeprägten Stadt-Land-Differenzen auszugehen (S. 260). Urbanität, vermittelt über den Habitus der Akteure, komme in den untersuchten arkadischen, nicht-städtischen Räumen genau so vor wie beispielsweise in München. "Die Urbanisierung des ländlichen Raums respektive die Nivellierung des Stadt-Land-Gegensatzes vollzieht sich über die Diffusion von habitueller Urbanität, d. h. der habituellen Bewältigung von Kontingenz, die aus bestimmter struktureller Fremdheit und subjektiv bewusster Individualisierung entsteht. Diese Leistung vollbringen sowohl die Akteure in der Stadt als auch die Akteure in ‚Arkadien'" (S. 264).

Mit seiner Dissertation ist Peter Dirksmeier ein eindrucksvoller Beitrag zur Urbanisierungsforschung gelungen, der theoretisch sehr gehaltvoll ist. Das schiere Volumen der kenntnisreich verarbeiteten Literatur ist außergewöhnlich; allein die hierzu erforderliche Lektüre- und Syntheseleistung mit Blick auf die beiden Hauptgegenstände (Habitus, Urbanität) erscheint beträchtlich. Unter den Stärken und Schwächen der Arbeit sticht die sehr umfangreiche theoretisch-konzeptionelle Arbeit zwangsläufig auch sehr positiv heraus. Demgegenüber fällt der empirische Teil m. E. sehr knapp aus; er wirkt in Bezug auf Stringenz und Nachvollziehbarkeit der theoretisch hergeleiteten Argumentation auch weniger überzeugend. So bleibt etwas unklar, wie der Autor von den Aussagen einzelner Akteure zu seinen Interpretationen gelangt. Es findet sich im empirischen Abschnitt nur eine nicht weiter spezifizierte Zusammenstellung von zehn Fotos (S. 228/229). Angesichts der großen Bedeutung der reflexiv-fotografischen Methode wäre es für die Leser aufschlussreich gewesen, einzelne, als zentral eingeschätzte Aussagen unmittelbar mit den entsprechenden Aufnahmen zu verknüpfen. Auch finden sich im Ergebniskapitel und selbst im Methodenabschnitt wiederholt Textpassagen, die prinzipiell der Theoretisierung einzelner Fragen dienen, mithin das hohe Gewicht der Theorie in der Gesamtarbeit weiter verstärken.

Eine Ausgangsthese des Buchs konstatiert eine Art hegemoniales Argument im geographischen und sozialwissenschaftlichen Urbanisierungsdiskurs, wonach die Differenz zwischen Stadt und Land vollkommen nivelliert worden sei und insofern "erste Stimmen" für das Aufgeben des Stadtbegriffs plädieren würden (S. 13). Diese These ist in der vorgestellten Form diskussionswürdig, sie verdient zumindest eine Aktualisierung. Denn die Aussage spiegelt im Urbanisierungsdiskurs womöglich eine Momentaufnahme wider, die Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre in der Tat sehr wirkmächtig war. Aus heutiger Sicht würde man sie vermutlich relativieren, die Bedeutung des Städtischen wieder hervorheben - selbst dann, wenn man manchen euphorischen Bekenntnissen wie demjenigen vom "Triumph" der Städte nicht gleich folgen mag (Glaeser 2011).

Schließlich wirft die Untersuchung Arkadiens in Südbayern die Frage auf, warum ein ganz bestimmter Zugang zu diesem Raum, der sich hier zweifellos angeboten hätte, auch terminologisch in der Arbeit überhaupt keine Rolle spielt: von den Alpen ist hier an keiner Stelle die Rede, was durchaus verwundert. Denn dazu hätte es einige konkrete Anknüpfungspunkte gegeben, nicht nur weil weite Teile der Alpenlandschaft zweifellos arkadische Qualitäten besitzen. So hat Werner Bätzing vor einiger Zeit die These von der "Vervorstädterung" der Alpen zur Diskussion gestellt (Bätzing 2003, S. 167ff.), um die Entwicklung der Alpen auch in der Konsequenz siedlungsstruktureller und gesellschaftlicher Tendenzen von Urbanisierung zu sehen.

Ungeachtet dieser Monita ist es dem Autor zweifellos gelungen, einen wichtigen Beitrag zur geographischen Urbanisierungsforschung zu leisten, der vor allem in seiner theoretisch-konzeptionellen Fundierung liegt - einem Gebiet, das in der deutschsprachigen Stadtgeographie bzw. geographischen Stadtforschung in jüngerer Vergangenheit durchaus vernachlässigt wurde, sodass man sich mehr Arbeiten dieser Art wünschen würde.

Literatur
Bätzing, W. (2003): Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, 2. Aufl. München.
Glaeser, E.L. (2011): The Triumph of the City. New York.
Soja, E. (2000): Postmetropolis. Malden/MA.


Markus Hesse, Luxemburg

Geographische Zeitschrift, 100. Jg., 2012, Heft 2, S. 121-122

 

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