Sandra Moog u. Rob Stones (Hg.): Nature, Social Relations and Human Needs. Essays in Honour of Ted Benton. Houndmills 2008. 296 S.
Der Sammelband geht aus einer Konferenz von 2006 hervor, als Benton, Professor für Soziologie, nach 36 Jahren an der Uni Essex in (Teil-)Ruhestand ging, und kreist um die zentrale Frage: Wie kann die Natur-Kultur-Dichotomie, die tief in die westliche Philoso-phie und Politik eingeschrieben ist, jedoch angesichts sozialer und ökologischer Probleme unter Druck gerät, überwunden werden? Da sich die Auffassungen der Verf. von Natur und vom Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft teilweise erheblich unter-scheiden, gehen die Antworten weit auseinander.
Einleitend fassen Hg. Bentons theoretische Arbeiten zusammen. Bentons kritischer Realismus geht zunächst davon aus, dass es eine vom Beobachter unabhängige Realität gibt, die erfasst werden kann. Benton weist den "dualism of exclusively interpretivist or hermeneutic approaches" zurück und behauptet eine "continuity between the meaning of science in the natural and social sciences" (6). In den Sozialwissenschaften könne auf dieselbe Weise wissenschaftlich gearbeitet werden wie in den Naturwissenschaften - aller-dings müsse der Versuchung des Reduktionismus widerstanden werden. Es gebe "different realmsofreality",die Benton zu folge oft als "bottom-up hierarchy"darstellbar sind, wobei physikalische Prozesse die niedrigste, biologische eine mittlere und soziale die höchste Komplexität aufweisen (12f), eine höhere Einheit sei jedoch stets "more than the sum of their plural parts"(8). Aus vier Gründen erscheint Benton eine "alliance between social and natural science" notwendig: Feminismus und LGBT-Bewegung haben neue Fragen bezüg-lich Geschlecht und Sexualität aufgeworfen; Orientierung an Bedürfnissen in politischen Fragen führt zu Diskussionen über deren soziale und natürliche Grundlagen; ökologische Probleme stellen die bisherige Trennung von Sozial- und Naturwissenschaften in Frage; Diskussionen über Tierrechte problematisieren die Definition von Mensch und Tier (13f).
Benton hat sich stets in der Tradition des historischen Materialismus verortet und sich
u.a. intensiv mit Althusser beschäftigt. Seine Konzepte von Realismus und Naturalismus beziehen sich auch auf Marx, v.a. auf das Konzept des "Stoffwechsels" zwischen Mensch und Natur und das der Produktionsweise "with its interconnected concepts of social rela-tions of production, forces of production, means, agents and conditions of producing, and raw materials" (17). Benton zitiert aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskriptenvon 1844, wonach die Natur "der unorganische Leib des Menschen" ist (MEW 40, 516), und schließt, dass "alienation from nature [...] might pose a significant obstacle to the reali-sationofspecieswell-being" (18). Zugleich weist er aber zentrale Elemente der marxschen Theorie zurück, da sie dem Natur-Kultur-Dualismus des 19. Jh. anhingen, etwa die Idee einer nötigen "Vermenschlichung" der Natur oder die zentrale Rolle des Arbeitsprozesses, denn "human labour does not bring about the transformation of seed to plant to crop, but secures optimal conditions for an organic transformation to occur by itself" (19).
Die neun Aufsätze des Hauptteils sind vier Themenfeldern zugeordnet: Realismus, Natu-ralismus und Philosophie der Sozialwissenschaften; fortwährende Relevanz des Marxismus; Anthropologie und Bedürfnisse; Ökologie und natürliche Grenzen. Am schwächsten sind die Aufsätze zur Relevanz des Marxismus: Ewa Morawskas eher persönlicher Bericht, wie sie, nachdem sie in den 1970er Jahren aus der Warschauer Uni geworfen wurde, zum Marxismus zurückkehrt, und Pat Devines sehr allgemeine Einführung in Gramsci erhellen Bentons Auseinandersetzung mit dem Marxismus kaum. Die übrigen Aufsätze widmen sich meist einzelnen Forschungsthemen Bentons. So diskutiert etwa Andrew Sayer das Konzept der Normativität und Kate Soper grenzt ihren "›alternative hedonist‹ approach to need and consumption" (170) von Bentons naturalistischem Ansatz der Bedürfnisbegründung ab.
Spannend ist v.a. der Beitrag von John Law, einem der führenden Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), dem vielleicht wichtigsten Gegenstandpunkt zum kritischen Realismus Bentons. Auch die ANT geht von einer realen Materialität aus, legt jedoch - "informed by a post-structural perspective" - besonderes Augenmerk auf Relationalität, Prozesse und Praktiken (68). Zentral ist ihre Ablehnung von "strong explanations": für jedes Ereignis kann es viele Ursachen geben, welche davon ausschlaggebend sind, "is uncertain, at least before the event" (70). Die ANT versucht, die Natur-Kultur-Dicho-tomie aufzuheben, indem sie jedem im Netzwerk befindlichen Element den Status eines handelnden Subjekts zuweist, das Effekte produziert. Sie grenze sich, so Law, deutlich vom kritischen Realismus ab, sei aber nicht sozialkonstruktivistisch: "it doesn't saythatrealities are constructed by people or interestgroups" (70f). Law verwehrt sich dagegen, dass Politik "starke" Theorien benötigt; diese würden das Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten nur unnötig vereinfachen. Er plädiert stattdessen für eine Form von "ontological politics" im Sinne von Annemarie Mol "to find ways of dealing with and interfering in different versions of the real" (72).
In seinem abschließenden Kommentar sieht auch Benton "important points of conver-gence" zwischen kritischem Realismus und ANT: die "›deconstruction‹ of the nature/society dichotomy" und eine "related openness to the inclusion of the causal powers of non-human materials, relations and beings" (215). Zurück weist er jedoch das "refusal to do strong theorising" und gegenüber Laws Ontologie der Relationalität insistiert er darauf, dass "some ›things‹ [...] persist through quite radical transformations of their relational setting" (216). Dabei kommt er immer wieder auf die Frage der Politik zurück: Lässt sich ohne eine "starke" Theorie politisch handeln? Sind Erklärungen der Realität transparenter, die auf "theoretically grounded criteria for selecting what to include and what to leave out" (219) beruhen, oder legen sie ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit im Vorhinein fest?
Leider werden die unterschiedlichen theoretischen Ansätze im Band nicht auf konkrete ökologische Fragestellungen wie etwa den Klimawandel angewendet, obwohl dies v.a. hinsichtlich der Frage der Politik interessant gewesen wäre. Zudem taucht die Frage nach der Macht, v.a. nach dem Zusammenhang zwischen Deutungen der Realität und Macht, zwar immer wieder auf, wird aber nirgends explizit behandelt. Hier wäre aus Gramscis Ansatz mehr herauszuholen gewesen. Ließe dieser sich auch auf die Natur-Kultur-Dichotomie anwenden, auf die spezifischen Formen, die Wirklichkeit wahrzunehmen, sie zu untersuchen und darzustellen? Wie sind diese mit Herrschaft verknüpft? Sowohl Bentons oft recht unkritischer Realismus und seine unhinterfragte Übernahme naturwis-senschaftlicher Konzepte, ohne auf deren Genese und Funktion einzugehen, als auch die für Machteffekte unsensible ANT könnten davon profitieren.
Juliane Schumacher (Kairo)
Quelle: Das Argument, 53. Jahrgang, 2011, S. 951-953
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