Wilfried Heller (Hg.): Identitäten und Imaginationen der Bevölkerung in Grenzräumen. Ostmittel- und Südosteuropa im Spannungsfeld von Regionalismus, Zentralismus, europäischem Integrationsprozess und Globalisierung. Berlin et al. 2011. 299 S.
Der Sammelband motiviert und legitimiert sich mit einem in Politik und Öffentlichkeit ausgemachten Bildungsideal und dem Wunsch nach einer besseren Welt: Wenn wir in Europa mehr voneinander wüssten, so wird mit Jean-Claude Juncker eingangs argumentiert, dann könnten wir den europäischen Integrationsprozess besser gestalten (Heller, S. 1). In dem Maße wie sich das Gros der Autorinnen und Autoren aus der Geographie, Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und anderen Fächern an diesem Ziel orientiert, wird allerdings auf eine Reihe von theoretischen Möglichkeiten bei der Thematisierung von Identitäten und Imaginationen der Bevölkerung in Grenzräumen verzichtet.
Im Ergebnis sind nahezu alle Beiträge des Sammelbandes von einer eigentümlichen Spannung gekennzeichnet. Sie scheinen sich nicht recht entscheiden zu können, wer ihr Publikum sein soll: So lässt Bürkners an sich guter Übersichtsbeitrag radikalkonstruktivistische Beiträge zum Konzept der Identität weitgehend außen vor, ohne diese empfindliche Auslassung zu begründen. In anderen Beiträgen gelten nur einzelne humanistische Kategorien der Moderne - wie etwa Identität oder Nation - , nicht aber konsequent alle dieser Kategorien - wie etwa Menschen, Volk, Ethnie etc. - als sozial konstruiert. Will oder kann man den Leserinnen und Lesern nicht mehr zumuten? Die weitgehende Nichtbeachtung der Kontingenz der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur lässt den Eindruck entstehen, dass Menschen grundsätzlich und immer mit ein paar der folgenden Identitäten ausgestattet seien: eine oder vielleicht mehrere nationale, dazu eine regionale oder noch eine ethnische Identität. In dieser Denkfigur berichtet Mazurek, dass Personen ihre Identität partiell leugnen - "Ich bin Kaschube, aber ich fühle mich nicht als solcher" (S. 199). In der Deutung als Leugnung geht die Einsicht, dass es sich bei Identitäten um eine Kombination von Selbst- und Fremdzuschreibungen handelt, vollkommen verloren - gemeint ist wohl, dass die betreffende Person eine Fremdzuschreibung zurückweist und dabei vielleicht ein essenzialistisches Identitätskonzept verwendet. Ähnlich verweist Mala ohne Distanz darauf, dass "der Region [...] eine regionale Charakteristik" fehle (S. 77), und Niemczik spricht von "eigentlich gute[n] Voraussetzungen für die Entwicklung einer Staatsgrenzen übergreifenden moldauischen (grenzraumbezogenen) Identität" (S. 172), ohne weiter zu begründen, wieso das eigentlich wünschenswert ist. Eine weitere im Sammelband fast durchgängig zu greifende Spannung entsteht durch die nicht hinreichende Differenzierung zwischen den heute theoretisch möglichen Einsichten in Identitätsphänomene und den in der sozialen Praxis zu findenden Umgangsformen mit Identitäten. Als Ausnahmen sei hier auf Aschauers Beitrag über Identitäten im slowakisch-ungarischen Grenzraum und Wagners Ausführungen über die Freiheit der Schmuggler hingewiesen. Aschauer weist auf die Unmöglichkeit der Kommunizierbarkeit von Authentizität, Identität etc. hin und stellt seine Analyse folgerichtig und konsequent auf die Beobachtung von Artikulationen um (S. 108-110). Und Wagner optiert zwar für einen überzogenen Freiheitsbegriff, doch diese normative Folie erlaubt das Herausarbeiten von charakteristischen Schmugglerstrukturen in der russisch-polnischen Grenzregion. Aber dies sind Ausnahmen. Ansonsten wird der wissenschaftlich-abstrakte Diskurs sogar expressis verbis beiseite geschoben (Mala, S. 78) und nach Kernen und Essenzen gesucht: So wird die Suche nach historischer Kontinuität im "eigenen Raum" als ein Wesensmerkmal für Menschen in lokalen Gemeinschaften postuliert ( , S. 123); und obwohl die Türkei ein kulturell heterogenes Land sei, mache die Mischung zwischen Orient und Okzident sie zu einem "einheitlichen Kulturraum" (Cingi, S. 285). Notabene, hier geht es nicht um ein Plädoyer für eine bestimmte Theorie, wohl aber um das Aufzeigen von Inkonsistenzen, die zu Forschungsmethoden unterhalb jeder intellektuellen Reizschwelle und damit letztlich zu unbrauchbaren Aussagen führen. Während sich die Interviewten in offenen Interviews kategorialen Identitätszugriffen wenigstens noch entziehen können und dies auch tun - "Ich habe nie darüber nachgedacht, [was für eine Nationalität ich habe]" (S. 173) -, kapitulieren sie bei geschlossenen Fragen in standardisierten Fragebögen. Ob sie der Aussage, dass die Rumänen ihre "Brüder und Schwestern jenseits des Pruth" seien, zustimmen oder diese ablehnen, wollte wissen (S. 177f.) und bekam auch Antworten. Dass dieses Beobachtungsschema für die Befragten vollkommen irrelevant sein könnte, kommt der Autorin auch bei der Interpretation nicht in den Sinn. Lässt man sich von den theoretischen Aussagen, normativen Prämissen und Suchen nach irgendwelchen Identitäten nicht zu sehr in die Irre leiten, dann erkennt man in den vielfältigen Beiträgen sehr gut, dass Identitäten Effekte ihrer Kontexte sind, die sie selbst mit erzeugen, und dass sie stets situativ und oft pragmatisch artikuliert werden (etwa wenn es um erleichterte Grenzübertritte oder um ein nettes Gespräch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geht). Auch erfährt man in einigen Beiträgen (Arambasa, Lukowski, Niemczik-Arambasa) viel über das Leben in den ausgewählten Regionen (z.B. Weger). Ironischerweise ist es ein Beitrag des freien Journalisten Menn, der sich diesbezüglich am informativsten gibt - genau dieser Artikel erhebt allerdings trotz zahlreicher Zitate keinen wissenschaftlichen Anspruch (im Sinne von Forschung, Theoriebildung oder systematischer Wissensakkumulation). Vielleicht, und das wäre eine Lehre aus dem Buch, sollte sich die Wissenschaft aus der Aushandlung und Bestimmung von Identitäten endgültig herausnehmen (zu der prinzipiellen Unmöglichkeit eines solchen Versuchs vergleiche den Beitrag von Schultz) und sich statt auf normative Suchaktionen auf die Aufklärung über die Folgen bestimmter Identitätskonstruktionen konzentrieren.
Pascal Goeke (Zürich)
Quelle: Die Erde, 143. Jahrgang, 2012, Heft 3, S. 256-258
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