Jörg Gertel: Globalisierte Nahrungskrisen. Bruchzone Kairo. Bielefeld 2010. 453 S.

Das Fallbeispiel der Stadt Kairo, in der im Frühjahr 2008 die Einwohnerinnen und Einwohner wegen der anhaltenden Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln wie Brot auf den Straßen protestierten, liegt im Zentrum der umfassenden Studie des Wirtschafts- und Sozialgeographen Jörg Gertel zum Phänomen globalisierter Nahrungskrisen. In der Einleitung - und deutlicher noch im Titel seiner Monographie - erhebt der Autor den Anspruch, das empirisch vertiefte Verständnis des Lokalen am Fallbeispiel der Stadt Kairo mit der Kenntnis globaler Dynamiken zu verbinden, und formuliert kein geringeres Ziel als das der Allgemeingültigkeit: Die Ergebnisse seiner empirischen Studie zur Nahrungsunsicherheit in Kairo sollen auch auf andere Metropolen übertragbar sein.

Dabei möchte er sich jedoch nicht mit einer reinen Zusammenschau von Fakten begnügen, sondern nimmt für sich in Anspruch, das Nahrungssystem Kairo aus einer holistischen Perspektive zu analysieren. Auf der Metaebene, so kündigt der Autor an, möchte das Werk "die diskursive Konstruktion von Entwicklungsproblemen durch das Schreiben über Risiken und Krisen der Nahrungssicherung" (S. XII) kritisch hinterfragen. Bei einem Umfang von 370 Seiten Text ist der Raum für ein solch ambitioniertes Projekt sicherlich gegeben.

Der Einleitung schließt sich ein Überblickskapitel zu urbanen Nahrungssystemen an, das der Autor nicht zuletzt auch nutzt, um sich im weiteren Themenfeld der Geographischen Entwicklungsforschung zu positionieren. Nicht alle der hier nur kurz skizzierten (sozialgeographischen) Theorien werden in den späteren Kapiteln wieder aufgenommen, so dass die Sammlung von Namen "großer" Theoretiker wie Foucault, Bourdieu und Luhmann eher lehrbuchartigen Charakter erhält. In den sich anschließenden vier Kapiteln, die unter den Überschriften Produktion, Austausch, Versorgung und Reproduktion jeweils einem Bereich des Ernährungssystems gewidmet sind, legt der Autor rückblickend dar, wie die komplexen Zusammenhänge internationaler Agrar- und Finanzwirtschaft, lokalen landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen und dem kleinräumigen Funktionieren realer Märkte in Kairo zu massiven Erhöhungen der Preise für Grundnahrungsmittel führten. Mit beeindruckender Akribie, die aber Konzentration und Ausdauer der Lesenden manchmal arg herausfordert, zeichnet Gertel sowohl die für Ägypten relevanten Entwicklungen an den globalen Agrarmärkten, als auch die lokalen Auswirkungen der Verlegung des Großmarkts für Obst und Gemüse im Stadtgebiet Kairo nach. Ton und Stil dieser Kapitel sind in weiten Teilen deutlich von einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive geprägt, und insbesondere ökonomisch Bewanderte werden die eloquente Verwendung eines wirtschaftswissenschaftlichen Jargons zu schätzen wissen. Für alle anderen eignen sich die Darstellungen im Mittelteil des Werks vor allem als detailreiches und sorgfältig recherchiertes Nachschlagewerk zur Agrargeschichte Ägyptens und der Struktur realer Märkte in Kairo.

Gertel schuf die empirische Basis für seine Ausführungen bereits vor längerer Zeit. So basieren viele der von ihm erstellten Karten auf einer standardisierten Erhebung aus dem Jahr 1993; Kern der Analyse der Reproduktionsprobleme (Kapitel 5) ist eine umfangreiche quantitative Haushaltsstudie aus dem Jahr 1995. Seiner Argumentation nach tut die mangelnde Aktualität des Datenmaterials dem Gehalt seiner Kernaussage keinen Abbruch: Mithilfe des ihm vorliegenden Datenmaterials kann er nachweisen, dass die Nahrungskrise keineswegs - wie manchmal angenommen - auf plötzliche Veränderungen zurückzuführen ist, sondern sich vielmehr bereits seit vielen Jahren angekündigt hat. Obwohl sich die Verwendung alten Materials aus dieser Hinsicht rechtfertigen lässt, birgt insbesondere die Darstellung der von Gertel erstellten Karten die Gefahr, die Veränderungen in der räumlichen Ausprägung des Nahrungssystems in Kairo seit Mitte der 1990er Jahre zu vernachlässigen, nicht zuletzt auch, weil auf viele der Abbildungen und Tabellen im Text nicht explizit verwiesen wird.

In seinem Schlusskapitel, das die Synthese der in den vorgehenden Kapiteln ausführlich behandelten Elemente der Analyse leistet, wendet sich Gertels Kritik u. a. gegen Akteure der internationalen Zusammenarbeit, die sich des Themas Nahrungssicherheit annehmen. Er moniert die Zahlengläubigkeit innerhalb des Entwicklungsdiskurses und die in seinen Augen mangelnden Bemühungen, auch die Geschichte derjenigen, die hinter diesen Zahlen stehen, zu erzählen bzw. die betroffenen Personen selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Kritik mag insofern nicht überzeugen, als Gertel diesem Anspruch in weiten Teilen selbst nicht gerecht wird und er die Möglichkeit, den Betroffenen eine Stimme zu geben, in seinem umfangreichen Werk nur sehr begrenzt wahrnimmt. Der in weiten Teilen des Werks überwiegende formalistische und ökonomistische Jargon vermag es nicht, den Leserinnen und Lesern die Lebenswirklichkeit der von Armut und Nahrungsunsicherheit betroffenen Menschen in Kairo nahezubringen.

Für Forschende, deren wissenschaftlicher Fokus sich ebenfalls auf die Stadt Kairo richtet, stellt das Werk eine Vielzahl an relevanten Informationen zusammen. Eben diese Details verstellen jedoch einem allgemeiner interessierten Publikum den Blick auf Gertels Kernthesen. Da er das Versprechen nach einer holistischen Perspektive und einer kritischen Reflexion der diskursiven Konstruktion von Entwicklung fast ausschließlich im Schlusskapitel einlöst, laufen insbesondere "querlesende" Leserinnen und Leser Gefahr, das Werk als reine Ergänzung zur Agrar- und Armutsstatistik Kairos zu sehen, und seinen Beitrag zu einem besseren Verständnis der komplexen Wirkungsgefüge, die dem Phänomen der Nahrungsunsicherheit zugrunde liegen, zu verkennen.
Martina Park


Quelle: Erdkunde, 66. Jahrgang, 2012, Heft 1, S. 83-84

 

vergleiche auch die Besprechung von Peter Dannenberg auf raumnachrichten.de

 

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