Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid: Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait. Basel 2006. 3 Bände, 1015 S.
Das sogenannte "ETH-Studio Basel - Institut Stadt der Gegenwart" wird von renommierten, weltweit agierenden Architekten geführt, die wie auch andere berühmte Vorbilder - man denke lediglich an Le Corbusier oder an Oscar Niemeyer - sich irgendwann einmal an die Stadtplanung heranmachen, wohl dem Spruch folgend, wer ein Haus bauen könne, kann auch eine Stadt planen. Berühmte Stadtplanungen des 20. Jahrhunderts, erwähnt sein sollen nur Chandigarh oder Brasilia, belegen vor allem Funktionsprobleme: Ästhetik allein reicht nicht aus und der "schöne" Grundriss auch nicht. Die Komplexität, aber auch die Tücken der Produkte städtebaulicher Entwicklungen diskutierte schon vor Jahrzehnten Alexander Mitscherlich in seiner "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" aus humanwissenschaftlicher bzw. soziologischer Sicht. Seitdem hat sich am schwierigen Funktionieren der Stadt und ihres inneren und äußeren Wachstums nicht viel geändert.
Diese knappen Hinweise sind erforderlich, weil das Autorenteam quasi nach den Sternen greift: Die Schweiz, ein ganzes Land also, erscheint in den Augen der Architekten weder ökonomisch noch sozial funktionsfähig und erfordere daher andere Strukturen. Ausgegangen wird von der zunehmenden Urbanität der Schweiz bis in den Alpenraum hinein, der mit landesweiten, aber auch grenzüberschreitenden, vor allem jedoch städtebaulich orientierten Planungen zu begegnen sei. Dass die so genannte Verstädterung der Schweiz eher eine "Verdorfung" bzw. "Landschaftsverhäuselung" ist (so jedenfalls der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon in seinem "Diskurs in der Enge", Frankfurt am Main 1990: 162) wird schon seit langem kritisiert: "Der Ausbildung einer beherrschenden städtischen Konzentration und damit einer urbanen Keilformation mit der Funktion einer (zivilisatorisch-kulturellen) ,Lokomotive' scheinen in der Schweiz tiefverwurzelte Widerstände entgegenzuwirken. Unzweifelhaft hat hier das ,Land', hat die landschaftliche Provinz ungleich mehr Heimatanbietendes (mehr ,Klebstoff') als die Stadt" (Nizon 1990: 145, a.a.O.). In diese vermeintliche oder tatsächliche Lücke stößt das Autorenteam des hier besprochenen Werkes hinein. Im Bändchen "Einführung" werden "Netzwerke, Grenzen, Differenzen" dargestellt. Der Geograph Christian Schmid steuert dazu ein Theoriekapitel bei, das auf "Metropolitanregionen" und "Städtenetze" abzielt, denen "Stille Zonen", "Alpine Resorts" und "Alpine Brachen" zur Seite gestellt werden. Unterbaut wird das im zweiten Bändchen mit einer Dokumentation der historisch-territorialpolitischen Komponente. Der dritte Teil, die "Materialien zu einem städtebaulichen Projekt", greift die Theorie aus der "Einleitung" umfassend wieder auf. In einer kleinen Mappe wird unter dem Titel "Urbane Potenziale der Schweiz. Eine Thesenkarte" eine kartographische Darstellung der fünf Regionstypen - also von der Metropolitanregion bis zur Alpinen Brache - im Maßstab 1:500 000 vorgenommen. Man könnte zu dem Werk sehr viele, auch gegensätzliche Gedanken anbringen. Zunächst einmal: Es handelt sich um eine, nun ja, "Vision", die für die raumplanerische Weiterentwicklung der Schweiz sicherlich eine Menge Anregungen enthält. Sie besticht durch die Großzügigkeit und das Unkonventionelle, auch wenn der Grundgedanke lediglich Kritik aufgreift, die - siehe Paul Nizon - nicht gerade neu ist und die viele Leute im Lande bewegt. Dabei sei davon abgesehen, dass es sich um eine Problematik handelt, die in weiten Teilen Europas erkannt ist und planerisch auch angegangen wird. Man denke nur an den Oberrheingraben und die Ideen der seit den 1970er Jahren wirkenden, aber leider nicht mehr aktiven "Konferenz Oberrheinischer Regionalplaner", die ebenfalls groß- und größträumige Konzepte vorlegten. Andererseits vermisst man - und das immerhin hatte die "Konferenz" ebenfalls im Auge - ein tiefergehendes Eingehen auf gesellschaftliche Entwicklungen und die ihnen zugrundeliegenden sozialgeographischen Strukturen im Raum, aber auch auf all das, was mit Umwelt, Wasser, Energie, Bios, Boden, Klima etc. zusammenhängt. Da reichen auch solche "Gespräche" wie zwischen Jacques Herzog und Marcel Meili (Bd. 1: 135ff. oder ähnliche Auslassungen an verschiedenen Stellen der drei Bändchen) nicht aus - sie sind zu unsystematisch und auch fachwissenschaftlich zu wenig fundiert. Das Autorenteam mag dies angesichts der bewusst weitgehaltenen Vision für überflüssig halten, aber genau das wären jene realitätsnahen und daher zu beachtenden Aspekte gewesen, die im allgemeinen Sprachgebrauch mit "Der Teufel steckt im Detail" umschrieben werden. Daran muss sich auch eine groß angelegte Ideenskizze messen lassen. Ähnliches kann man zum Theorieteil (Bd. 1, 163ff.) sagen, der spannend zu lesen ist und geistvolle Formulierungen enthält, aber zu weiten Teilen dann doch des Konkreten, des Klaren, des fachwissenschaftlichen "Unterfütterns" bedurft hätte. Von dem Werk sollten sich Politiker, Raumplaner und alle Fachwissenschaftler, die sich mit großräumiger Stadt- und Landesentwicklung beschäftigen, angesprochen fühlen. Es greift über das Herkömmliche hinaus, ignoriert aber landschaftsökologische Zusammenhänge weitestgehend und sieht vor allem "Entfaltungsmöglichkeiten" für ökonomische und bauliche Entwicklungen. Die ökonomische Sichtweise schimmert an vielen Stellen der Texte durch: Das tut auch jenen weh, die nicht gerade dem in der Schweiz - gerade aus Kreisen der Architekten - vielgeschmähten Landschafts- und Heimatschutz nahestehen. - Das graphisch und bildlich hervorragend dokumentierte Werk, das ästhetisch ebenfalls sehr anspricht, kann auch dem Touristen empfohlen werden. Er bekommt einen völlig anderen Blickwinkel für "sein" Ferienland Schweiz vermittelt, so dass er manche Dinge, die "da" sind und geschützt werden, kritischer sieht. Er erkennt aber auch die Diskrepanz zwischen dem Werk und der Realität und jenen Dingen, die oft mit Schlagwörtern wie Heimat oder Landschaft abgetan werden und die sowohl über psychisch-mentale als auch physisch-ökologische Bedeutungen verfügen, die sich ökonomisch und monetär eben nicht ausdrücken lassen.
Quellenangabe: Nizon, Paul 1990: Diskurs in der Enge; Verweigerers Steckbrief: Schweizer Passagen. Frankfurt/Main
Autor: Hartmut Leser