Karl Husa, Christof Parnreiter & Helmut Wohlschlägl (Hg.): Weltbevölkerung. Zu viele, zu wenige, schlecht verteilt? Wien 2011. 292 S.
Wie kaum eine andere Sozialwissenschaft ist die Demographie auf die Erkundung von menschlichen (An-) Trieben und damit auf die Enträtselung einer stets nur vage erahnbaren Mischung aus Rationalität, Kultur und Tradition angewiesen. Dazu kommt die spezifische "Trägheit" ihres Gegenstands: der Bevölkerungsentwicklung. Paradigmen wechseln, Trends entstehen und vergehen; bevor sie als relevant erkannt werden, dauert es Generationen. Begründungszusammenhänge werden daher in der Regel nachträglich (re-) konstruiert; über ihre längerfristige Gültigkeit lässt sich nichts Genaues sagen.
Das eröffnet Spielräume für unterschiedlichste Deutungen und erweist sich als fruchtbarer Boden für - mehr oder weniger gewagte - Spekulationen. Und so verwundert es kaum, dass es selbst für solche inzwischen allgemein akzeptierte Erscheinungen wie den weltweit nachweisbaren Rückgang der Fruchtbarkeit auf bzw. sogar unter das Reproduktionsniveau "keine universale Theorie [gibt], die diesen Rückgang umfassend erklären kann" (Henning: 179).
Das hier zur Rede stehende Buch versammelt 14 Beiträge aus der Feder von 16 Autoren/innen, die sich aus ganz unterschiedlichen Sichten mit den jüngsten Phänomenen der Weltbevölkerungsentwicklung befassen. Bei aller Verschiedenartigkeit ihrer Ansatzpunkte eint die Autoren/innen der ambitionierte Versuch, mit einigen "neuen 'demographischen' Mythen" (Husa, Rumpolt & Wohlschlägl: 262) aufzuräumen. Das betrifft die "neomalthusianische Herleitung zukünftiger Klimakriege" ( Oßenbrügge: 211) genauso wie den Zusammenhang von "Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche(r) Entwicklung" ( Parnreiter: 191) oder die "These vom 'dritten demographischen'Übergang" (Gächter: 148). Schließlich ist es unvermeidlich, dass auch die Dauerbrenner der populistischen Angstrhetorik - Migration, Überfremdung und vor allem die "'demographische Islamisierung' Europas" (Husa, Rumpolt & Wohlschlägl: 281) - angesprochen und dahin verwiesen werden, wo sie hingehören: in das Reich der oft medial provozierten und überzeichneten Hirngespinste.
Die wichtigsten Einsichten, die sich in diesem Buch bei einer ganzen Reihe von Autoren/innen finden, kreisen um die Kernfrage der Demographie schlechthin - das Mensch-Natur-Verhältnis. Gerade hier scheinen die jüngeren Entwicklungen, insbesondere der Umstand, dass sich in einer wachsenden Zahl von Ländern (heute sind es bereits 70) eine Geburtenrate weit unter dem Reproduktionsniveau stabilisiert, darauf hinzudeuten, dass die "Bevölkerungsbombe" nicht nur nicht explodiert, sondern sich sogar ein globaler Bevölkerungsrückgang abzeichnet. Das hört sich zunächst wie eine (überraschend) gute Nachricht für alle jene an, die auf die Globalisierbarkeit des westlichen Konsummodells und damit auf die "ungebremste" Fortsetzung ihres Lebensstils hoffen. Aber weil die Gesellschaften in den Industrieländern längst über ihre (Natur-)Verhältnisse leben und es "keine Alternative zu höherem Wohlstand und gesellschaftlicher Modernisierung in den Entwicklungsländern gibt, ohne die ein Übergang zu ... geringerem Bevölkerungswachstum ... kaum zu erreichen sein wird" (Swiaczny: 55), drängt sich unabweisbar die Einsicht auf, dass "die wahre Bedrohung ... nicht in der 'Überbevölkerung' (liegt), sondern in den Marktmechanismen und Konsummustern..." (Husa, Rumpolt & Wohlschlägl: 267).
Dennoch erscheint der Bevölkerungsrückgang als Bedrohung für die Finanzierbarkeit der in Jahrzehnten sozialer Kämpfe errungenen wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme. Dass Rettung ausgerechnet durch deren Abbau, nämlich durch "Leistungskürzungen, die Privatisierung der Sozialleistungen durch mehr Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen oder die Anhebung des Rentenalters" (Kahlert: 250) gelingen soll, zeugt von einem grundlegenden Missverständnis, was es bedeutet, wenn "immer weniger Erwerbstätige ... die Kosten ... für eine wachsende Zahl an alten und hochaltrigen Menschen" (Kahlert: 248) aufbringen müssen. Aufgebracht müssen diese Kosten nämlich nicht durch den Einzelnen, sondern durch die Gesellschaft insgesamt, d.h. nicht allein von den Lohnabhängigen und deren Sozialbeiträgen, sondern auch aus den Profiten. So gesehen handelt es sich bei der Alterung der Bevölkerung oder beim Bevölkerungsrückgang weniger um ein demographisches Problem als vielmehr um eines gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Insgesamt ist das Buch eine grandiose tour d'horizon: In gedrängter Form bietet es einen nahezu vollständigen Überblick über die aktuelle Debatte, über Konzepte und deren (nicht selten hochgradig ideologischen) Hintergründe.
Arndt Hopfmann