Bernd Rieken: Schatten über Galtür? Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Ein Beitrag zur Katastrophenforschung. Münster 2010. 216 S.
Im Februar 1999 wurde der kleine österreichische Ort Galtür von einer Lawine heimgesucht. Durch dieses Ereignis starben 31 Menschen und zahllose Menschen wurden verletzt. Der Psychotherapeut und Individualpsychologe Bernd Rieken von der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien ging in einer psychoanalytisch- (bzw. individualpsychologisch-) ethnologischen Feldforschung den psychischen Folgen des Ereignisses bei den Einheimischen nach. Seine Gespräche mit den Einheimischen verdichtete er zu einer Monographie, die zum Verstehen beitragen soll, wie und inwieweit Menschen solche "Katastrophen" verarbeiten. Auf Basis von qualitativen Interviews und interdisziplinär ausgewählten Theorie-Beiträgen entfaltet Rieken ein Plädoyer für einen Zugang in der Katastrophenforschung, der die Betroffenen in den Vordergrund rückt. Sein dezidiert wissenschaftlicher Anspruch dabei ist, den Graben zwischen Essentialismus und Konstruktivismus zu überbrücken.
Im ersten Kapitel stellt Rieken gemäß diesem Anspruch seine wissenschaftlichen Ausgangspunkte vor, bevor er dann chronologisch die Ereignisse in Galtür Revue passieren lässt, indem er vorrangig seine Interviewpartner zu Wort kommen lässt. Dabei flicht er stets theoretische Bezüge und Anleihen in seine Argumentationslinien ein, um die Auswirkungen, die Verarbeitung, die Erklärungen und die Sinn-Zuschreibungen der Katastrophe für die Einheimischen zu erfassen, zu erklären und zu deuten, wobei er Themen wie Theodizee, Naturgleichgewicht, Aberglaube, Mentalität und Angst berührt. Diese verwebt er zum einen zu einem umfassenden Porträt der Galtürer Bewohnerschaft, zum anderen leitet er damit auf ein individualpsychologisches Plädoyer über, zielkausale Aspekte in der Katastrophenforschung, sprich im Fokus auf die Katastrophenbewältigung durch Betroffene, zu berücksichtigen (vgl. S. 196).
Vor dem Bedeutungshorizont der rationalistischen Psychologie liest sich diese Arbeit eines ethnologisch-informierten Individualpsychologen (vgl. S. 12) als gewinnbringender Affront, der im Rahmen der Katastrophenforschung längst überfällig war. Seine Seitenhiebe auf die Risiko-Debatte machen neugierig und zuversichtlich, dass gerade aus dem Bereich der Psychologie, der Psychoanalyse und letztlich - was in der Monographie leider etwas verkürzt bleibt - der Phänomenologie wesentliche Impulse für den Bereich der Risiko- und Sicherheitsforschung zu erwarten sind (vgl. S. 141).
Der von Rieken zuweilen angeschlagene Plauderton erleichtert den Zugang zum Thema zwar ungemein, ebenso wie die essayistischen Fähigkeiten des Autors sein Anliegen stärker verstehen lassen. Leider bleiben seine theoretischen Qualitäten dabei etwas unausgeschöpft (v.a. S. 19; z.B. S. 78f.). Unumwunden gibt Rieken zu, dass es sich bei Galtür um ein - letztlich für ihn - besonderes Dorf handelt. Ein wenig bedenklich erscheint es folglich, dass sich der Autor im Rahmen seiner Arbeit schlichtweg nicht die Mühe macht, seine eigene Befangenheit durch die und während der Forschungsarbeit zu problematisieren. Zuweilen schreibt der Autor aufgrund seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses (S. 19) eher als Therapeut denn als Wissenschaftler, was ihn möglicherweise der Kritik entziehen könnte (und sollte?). Dennoch erscheint es sehr fragwürdig, inwieweit Riekens Narration dadurch tatsächlich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Autorität und Gehör verschafft werden kann. Rieken tritt als Forscher nicht in den Hintergrund. Somit wirkt seine Arbeit eher wie eine durchaus spannende Reportage mit theoretisch klugen Gedankenanstößen, deren wissenschaftlicher Nutzen lediglich in der Irritation einer empirisch-quantitativen Psychologie liegt, aber den Bereich einer psychologischen oder gar phänomenologischen Auseinandersetzung mit Naturrisiken und Sozialkatastrophen im wissenschaftlichen Diskurs eher schwächt als stärkt. Der hehre Anspruch des Autors schlägt somit fehl, gleichwohl Rieken durchaus interessante Anmerkungen aus einer Richtung macht, die seit langem im Diskurs Mangelware ist.
Sein Anspruch zwischen Essentialismus und Konstruktivismus zu vermitteln, reizt den Leser bis zur Hochspannung. Die Enttäuschung ist aber handfest. Die Vorwürfe an den Konstruktivismus wirken leider zu schmalbrüstig und kleinlaut (S. 20ff.; z.B. S. 84). Komplett irritierend wirkt es, wenn Rieken in seiner Kritik an einer konstruktivistischen Auseinandersetzung mit der Inszenierung der Küste folgendes Argument ins Feld führt: "[...] Denn das Meer ist in diesen Breiten wirklich bedrohlich [...]. Nicht alles lässt sich daher in konstruktivistischer Beliebigkeit auflösen, mitunter existieren auch harte Fakten. [Hervorhebungen im Original kursiv, d. Verfasser]" (S. 24). Dies wirkt in seiner Trotzigkeit nahezu schon amüsant, obgleich Rieken mit einer essentialistischen Psychologie wiederum hart ins Gericht geht, wenn er schreibt, dass "‚objektive' Aussagen über ‚den' Menschen [...] ein verwegener, [...] vermessener Anspruch [ist], da die Welt zu komplex ist, um sie durch einfache Kausalgesetze zu erklären" (S. 22).
Unklar bleibt ebenso das Menschenbild, das zum Teil je nach Kapitel eklektisch wirkt und der philosophischen Ansage auf den ersten Seiten des Buches insofern nicht gerecht wird, da es durch das Ausbleiben einer klaren Diskussion diffus bleibt (S. 74f.). Gerade diese Diskussion hätte für Riekens Anliegen gewinnbringend sein können, um zwischen Essentialismus und Konstruktivismus gehalt- und maßvoll zu vermitteln. Die angepriesene Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus bleibt im Dunkel der Ereignis-Narration stecken. Nahezu schmerzlich vermisst man Martin Heidegger, dessen fundamentalontologische Ausführungen den geeigneten Wind in Riekens Projekt in mehrerer Hinsicht hätten blasen können. Stattdessen wird der geographische Leser mit den geodeterministischen Ausführungen zur "Geopsyche" von Willy Hellpach verschreckt, die der Autor gebraucht, um die Gelassenheit der Galtürer Bewohner angesichts bestimmter Naturereignisse zu erklären (S. 135).
Es stellt sich die Frage, ob sich Rieken mit seinem wissenschaftstheoretischen Anspruch, seinem Beitrag zur Katastrophenforschung und seiner persönlichen Nähe zu den Ereignissen und den Betroffenen nicht zu viel vorgenommen hat. Sein Abriss der Katastrophenforschung erscheint stark verkürzt, da er zugibt, dass die Literatur unüberschaubar ist. Basis für seine überzogene und letztlich auch nicht ganz trennscharfe Kritik - denn schließlich schreibt er selbst, dass die Katastrophenforschung erst seit den 1980ern in den Geisteswissenschaften Eingang gefunden habe - sind umweltgeschichtliche Ausführungen zu frühen Arbeiten (aus dem 17. Jahrhundert), zum Beispiel aus dem Bereich der Deichbautechnik. Ziel der Kritik des Autors ist es, die vermeintliche Blindheit der Geisteswissenschaftler gegenüber naturwissenschaftlicher Beschäftigung darzustellen. Dass er dabei ein vornehmlich von Geographen geschriebenes Lehrbuch (Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Felgentreff/Glade) und damit das who-is-who der aktuellen Katastrophenforschung kritisiert, erscheint etwas schal und wie fehlgeleitete Eitelkeit. Eine Seite später jedoch bemüht er sich, eben jenes von "Selbststilisierung" durchzogene "Standardwerk" in einer Erörterung des Faches Geographie als ein Lehrbuch zu skizzieren, das sowohl dem natur- als auch dem geisteswissenschaftlichen Interesse des Faches Rechnung trägt. Ebenso verbrüdert er sich - was wiederum folgerichtig ist und auch zu einer tatsächlich attraktiven Selbstverortung hätte gereichen können - mit dem Soziologen Martin Voss und dessen von Cassirer inspirierten Beschäftigung mit Katastrophen (S. 36). Die Wankelmütigkeit des Autors mag einer disziplinhistorischen Unsicherheit und Selbststilisierung als "enfant terrible" in der Katastrophenforschung geschuldet sein. Seine Polemik erscheint zuweilen schlichtweg als redundant.
Die Stärken der Arbeit von Rieken liegen somit nicht in der Auswahl der theoretischen Bezüge und des philosophischen Vorhabens. Der eigentliche Erfolg der Arbeit kann lediglich in der Sensibilisierung und der methodischen Aktivierung der Seite der Betroffenen in der Katastrophenbewältigung gesehen werden. Obgleich Riekens Projekt die letzte Konsequenz und die über die ethnologisch-informierte Psychologie - gemeint ist dabei v. a. die Psychoanalyse und die Individualpsychologie - hinausragende Informiertheit fehlt, so macht die Arbeit doch als spannende Narration deutlich, wie wichtig weitere Arbeiten innerhalb der Risiko- und Gefahren-Forschung sind, die ein ganzheitliches Menschenbild (zum Beispiel in dem Ängste berücksichtigt werden) zugrunde legen. Somit kann Riekens Bemühen als, wenngleich schwacher, so doch mutiger Anfang gewertet werden, sich wissenschaftlich um dieses Vorhaben weiter zu kümmern.
Simon Runkel, Bonn