Horsta Wessel.(Hg.): Die Geburtsstätte des nahtlos gewalzten Stahlrohres. Das Mannesmannröhren-Werk in Remscheid, die Erfinder und die Mechanische Werkstatt. Essen 2012. 192 S.

Innovationen gelten als Motor wirtschaftlicher Entwicklung. Welche räumlichen Voraussetzungen die Generierung von Erfindungen, ihre wirtschaftliche Umsetzung und schließliche Übernahme durch andere Marktakteure begünstigen oder behindern, ob und wie sich diese räumlichen Rahmenbedingungen gegebenenfalls durch gezielte Maßnahmen beeinflussen lassen, aber auch wie sich Innovationen wiederum auf die Raumstruktur auswirken, sind deswegen zentrale Forschungsfragen der Wirtschaftsgeographie.

Aus etwas anderem Blickwinkel sucht auch die Wirtschaftsgeschichte Antworten auf solche Fragen. Hier existiert ein großes, bisher noch nicht optimal ausgeschöpftes Potenzial, wie sich beide Disziplinen mit ihren jeweiligen Erkenntnissen zum gegenseitigen Vorteil befruchten können.

Ein sehr informatives und anschauliches Beispiel für die wirtschaftshistorische Aufbereitung von Genese und Diffusion einer Schlüsselinnovation der einsetzenden Hochindustrialisierung in Deutschland bietet der vorliegende Sammelband über das nahtlos gewalzte Stahlrohr, eine Erfindung aus dem Jahr 1886, die mit den Namen der Brüder Reinhardund Max Mannesmann verbunden ist und die bis heute angewandt wird. Was aus heutiger Sicht als Selbstverständlichkeit industrieller Röhrenfertigung erscheinen mag, war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs. An vielen Industriestandorten wurde weltweit nach der Lösung gesucht, die schließlich in der Stadt Remscheid gefunden wurde: Ein seriell praktikables und auch unter Kostengesichtspunkten wirtschaftlich vertretbares Verfahren zur Herstellung zuverlässiger, am besten nahtloser Rohre, die hohen Druckbelastungen standhalten konnten. In der Maschinen- und Fahrzeugherstellung, im Leitungs- und Anlagenbau, allerdings auch in der Waffenproduktion verlangte man dringend nach einem solchen Verfahren.

Der von dem Wirtschaftshistoriker und langjährigen Leiter des Mannesmann Archivs Horst A. Wessel im Auftrag des Fördervereins Mannesmann Haus e.V. herausgegebene Band vereint zehn Beiträge, davon die Hälfte aus der Feder des Herausgebers selbst, die den soziohistorischen und -kulturellen Kontext der bahnbrechenden Erfindung ausleuchten. Sie lassen sich als wirtschaftshistorische Beiträge zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie lesen, machen sie doch auf eindrückliche Weise die gesellschaftliche Einbettung und Bedingtheit wirtschaftlichen Handelns deutlich. So hätte es zum Beispiel ohne die protoindustrielle Entwicklung eines eisenverarbeitenden Handwerks im Bergischen Land auch die Feilenfabrik des Vatersder Mannesmann-Brüder nicht gegeben. Und ohne das beständige Bemühen, einerseits durch rationellere Verfahren die Herstellungskosten zu senken, andererseits aber auch die Qualität der Produkte zu erhöhen, etwa durch den Aufbau einer eigenen Gussstahlherstellung, hätte die Fabrik im internationalen Wettbewerb vor allem mit englischen Produzenten nicht bestehen können.

Hier sind die Ursprünge eines betrieblich-sozialen Milieus zu sehen, in dem die experimentell-forschende Suche nach immer neuen und besseren Lösungen kultiviert und auf Dauer gestellt wurde, und in das über die Familie Mannesmann hinaus auch ein großer Teil der Belegschaft einbezogen war. Ohne eine solche an der Sache selbst interessierte Arbeiterschaft, sicher auch durch eine relativ gute Bezahlung motiviert, wäre der unternehmerische Erfolg nicht möglich gewesen. Der vorliegende Band macht das soziale Milieu plastisch, indem die sich über Jahre erstreckenden Experimente von Reinhard und Max Mannesmann stattfinden konnten und schließlich zum Erfolg führten: der Erzeugung nahtlos gewalzter Stahlrohre durch ein Walzverfahren, bei dem schräggestellte Walzen im dauernden Wechsel von Zug und Druck (das sogenannte „Friemeln“) im erhitzten Stahlblock zur Hohlraumbildung führen. Mag der Ausgangspunkt dabei eher zufällig gewesen sein – Materialfehler (Risse, Hohlräume) im Ausgangsmaterial der Feilenherstellung, denen man auf die Spurkommen wollte – so war die gefundene Lösung schließlich das Ergebnis hartnäckigen und planmäßigen Experimentierens. – Deutlich wird aber auch, dass eine Erfindung allein noch nicht unternehmerischen Erfolg garantiert. Die Sicherung der Eigentumsrechte, die Mobilisierung von Investitionskapital und schließlich die Gründung mehrerer Röhrenwalzwerke, deren Standorte gezielt für eine optimale Markterschließung ausgewählt wurden, waren nur über ein weitgespanntes Beziehungsnetz möglich.

Der mit Grafiken und Fotos reich illustrierte Sammelband gewährt nicht nur einen sehr guten und ausgesprochen anschaulichen Einblick in die Entstehung einer wegweisenden industriellen Erfindung, sondern er macht gerade auch die kontextuellen Rahmenbedingungen der Innovation deutlich. Für den Einsatz in der schulischen und universitären Lehre ist das in dem Band vorzüglich aufbereitete Beispiel deshalb sehr gut geeignet. Das Buch ist aber auch für alle an Technik- und Industriegeschichte Interessierten eine ausgesprochen gewinnbringende Lektüre.
Helmut Schneider, DuisburgEssen

Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie Jg.56 (2012) Heft 4, S. 285 - 286